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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1445–1447

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Kowatsch, Andreas

Titel/Untertitel:

Freiheit in Gemeinschaft – Freiheit der Gemeinschaft. Das geltende Kirchenrecht und die alte Lehre von der »libertas Ecclesiae«. Zugleich ein kanonistischer Beitrag zur Einordnung der Institutionalität der Kirche in die Communio-Ekklesiologie.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2015. 288 S. = Kirchenrechtliche Bibliothek, 17. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-13056-3.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

Das Zweite Vatikanische Konzil hat das Gesicht der römisch-katholischen Kirche verändert. Am deutlichsten sichtbar wird das vielleicht in der Liturgie; aber auch das theologische Selbstverständnis der Kirche hat sich grundlegend gewandelt. Die hier anzuzeigende kanonistische Arbeit von Andreas Kowatsch unternimmt es, zwei verschiedene, aber zusammenhängende daraus sich ergebende Fragen zu beantworten: »Welcher Zusammenhang besteht zwischen der durch das Zweite Vatikanische Konzil neu entdeckten und vertieften Lehre von der Kirche als Communio und ihrer rechtlich- institutionellen Verfasstheit? Hat die durch die kanonistische Lehre des Ius Publicum Ecclesiasticum (IPE) unter den historischen Voraussetzungen des 18. und 19. Jh.s entwickelte Lehre über die Kirchenfreiheit als Zentrum des Anspruchs auf Freiheit und Eigenständigkeit gegenüber dem Staat angesichts des weltanschaulich-religiös neutralen und pluralistischen Staates einerseits und der bedingungslosen Anerkennung der Religionsfreiheit durch das Zweite Vatikanische Konzil andererseits heute noch eine eigenständige Bedeutung?« (3)
Zwei Begriffe kommen in Titel und Untertitel des Buches nicht vor, spielen aber im Verlauf der Erörterungen des Vf.s eine bedeutende Rolle: Ius Publicum Ecclesiasticum und societas perfecta. Mit Ius Publicum Ecclesiasticum ist hier nicht ein innerkirchliches öffentliches Recht im Gegensatz zu einem ebensolchen Ius Priva-tum gemeint. Im Blickpunkt des Vf.s steht vielmehr vornehmlich die Lehre vom Ius Publicum Ecclesiasticum externum, die »die Kirche als spezifisch geistliche, aber souveräne Macht unter souveränen Mächten positionierte« (11), eben als societas perfecta, als – wie der Staat – vollkommene Gesellschaft. Diese Lehre herrschte in der römischen Kirche bis zum Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils; noch 1958/60 erschien die 4. Auflage des für sie repräsentativen Werkes »Institutiones iuris publici ecclesiastici« von Alfredo Card. Ottaviani. Es schließt gewissermaßen eine Epoche ab, denn das Zweite Vatikanische Konzil verwendet für das Kirchenverständnis neue Begriffe.
Nach einigen methodischen Vorbemerkungen stellt der Vf. im zweiten Hauptabschnitt die Societas-perfecta-Lehre als Ausdruck des kirchlichen Selbstverständnisses dar. Er sieht sie verwurzelt in der Auflösung des mittelalterlichen unum corpus christianum in den Dualismus von Kirche und Staat (im weiteren Sinne von »weltlicher Gewalt«). Diese machte eine neue Begründung der Freiheit des kirchlichen Wirkens gegenüber der weltlichen Gewalt notwendig (die freilich – jedenfalls solange die frühneuzeitliche Gesellschaft immer noch christlich geprägt war, im Grunde auf eine Freiheit klerikaler Kirchenleitung vom Einfluss der Laien hinauslief; Rezensent). Der Vf. beschreibt die Entwicklung dieser Lehre in der Kanonistik und (wesentlich ausführlicher) in den Äußerungen der Päpste von Pius IX. bis zu Pius XII. Bei Pius XII. stellt er allerdings schon gewisse Auf- bzw. Ablösungserscheinungen fest. Die einzelnen Menschen als Bürger und Gläubige gewinnen an Gewicht gegenüber einer ausschließlichen Sicht des Verhältnisses von Religion und weltlicher Gewalt als Beziehung zweier Institutionen – Kirche und Staat; damit wird insbesondere die mit der traditionellen Lehre herkömmlich verbundene Präferenz eines katholischen Konfessionsstaates zwar nicht aufgegeben, aber wenigstens relativiert; ein gewisses Maß an Toleranz wird möglich, Demokratie positiver beurteilt. Mit Recht weist der Vf. darauf hin, dass die Erfahrung mit dem NS-Unrechtsstaat dabei eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben wird. Unmittelbar vor Beginn des Konzils feierte freilich die klassische Doktrin im vorbereitenden Entwurf für die Konstitution De Ecclesia noch einmal eine fröhliche Auferstehung. Aber dieser Entwurf wurde in toto verworfen und die Konstitution völlig neu geschrieben.
Der Begriff societas perfecta kommt »zumindest dem Wortlaut nach« in keinem Konzilsdokument mehr vor. Der Vf. untersucht nun, ob und in welchem Umfang mit diesem Begriff verbundene Inhalte trotzdem noch Bedeutung haben können. Im dritten Hauptabschnitt unternimmt er eine Ein- und Unterordnung der societas perfecta-Lehre in die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Verhältnis von Kirche und Staat. Er untersucht zunächst den Ort der Kirche als »Gesellschaft/Institution« in der Lehre des Konzils und kommt zu dem Ergebnis, dass dieses in Lumen Gentium die Beschreibung der Kirche als societas nicht aufgibt, sie aber »in den größeren Zusammenhang der Kirche als Communio einordnet«. Wie weit das Konzil freilich »die Lehre von der Kirche als societas inaequalis in Richtung einer societas aequalis« modifiziert und wie weit eine solche Modifizierung sich in der kirchlichen Praxis seit dem Ende des Konzils verwirklicht hat, bedürfte allerdings näherer Beleuchtung. Auf der Grundlage von Gaudium et Spes untersucht der Vf. des Weiteren die Problematik der Autonomie der Kirche und ihrer Kooperation mit dem Staat. In der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit, deren Entstehung und Inhalt er eingehend analysiert, sieht er einen »Wende- und Ausgangspunkt« im Verhältnis von Kirche und Staat.
Der vierte Hauptabschnitt ist der kanonistischen Auseinandersetzung mit der societas-perfecta-Lehre gewidmet. Der Vf. stellt zunächst (vor allem italienische) Stimmen dar, die diese Lehre durch das Konzil nur vertieft, allenfalls modifiziert sehen; demgegenüber stehen die Kanonisten, die diese Lehre für überholt ansehen und die Kirchenfreiheit der allgemeinen Religionsfreiheit einordnen. Eine vermittelnde Position schreibt der Vf. Joseph Listl zu. Besonders ausführlich und kritisch würdigt der Vf. die Lehren von Heribert Köck zum Verhältnis von individueller und korporativer Religionsfreiheit; dazu hätte der Rezensent einige Anmerkungen zu machen, für die leider hier der Raum fehlt.
Der fünfte Hauptabschnitt ist der Zeit zwischen Konzil und Erlass des neuen CIC, vor allem im Hinblick auf die Arbeiten zur Reform des kanonischen Rechts gewidmet; im abschließenden sechsten Hauptteil schließlich kommt das geltende Recht der lateinischen Kirche mit seinen Aussagen zur Kirchenfreiheit zu Wort.
Die Arbeit bildet ein in sich geschlossenes eindrucksvolles Ganzes. Was bleibt, sind Fragen im Zusammenhang mit den verwendeten Ausgangsbegriffen. Was bedeutet z. B. »Eigenrechtsmacht« der Kirche? Als Rechtsmacht müsste sie in einer Rechtsordnung wurzeln. Welche Rechtsordnung ist das? Wenn es die staatliche Rechtsordnung ist, dann ist die Rechtsmacht wohl nicht eigenständig im Sinn des Vf.s, wenn eine andere (welche?), dann stellt sich die Frage, wie sie den Staat, dem gegenüber sie doch geltend gemacht werden soll, verbinden kann. Eine Erörterung dieser Problematik hätte der Rezensent sich gewünscht.