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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1443–1445

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Janssen, Albert

Titel/Untertitel:

Die Kunst des Unterscheidens zwischen Recht und Gerechtigkeit. Studien zu einer Grundbedingung der Rechtsfindung.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2016. 374 S. = Beiträge zu Grundfragen des Rechts, 18. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-8471-0542-8.

Rezensent:

Martin Honecker

Die These des Bandes steht bereits im Titel: die Unerlässlichkeit einer sachgemäßen Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit. Es sind luzide Studien eines in praktischer Tätigkeit bewährten Juristen, die in diesem Sammelband vereinigt sind. Albert Janssen war als Verwaltungs- und Parlamentsjurist in Hannover tätig und von 1990 bis 2004 Direktor des Niedersächsischen Landtags. Seine zwölf Studien befassen sich mit unterschiedlichen Themen. Jeder Beitrag wird mit knappen und präzisen Thesen zum Inhalt der Überlegungen abgeschlossen, die zugleich die jeweilige Thematik zusammenfassen.
Die drei Studien im ersten Teil sind Otto von Gierkes juristischem Denken gewidmet. J. hatte seine Dissertation über »Otto Gierkes Methode einer geschichtlichen Rechtswissenschaft« verfasst, veröffentlicht 1974. Unter der Überschrift »Otto von Gierkes rechtssystematische Unterscheidung zwischen Individualrecht und Sozialrecht als gedanklicher Ausgangspunkt« (25 ff.) erörtert er jetzt dessen sozialen Eigentumsbegriff, seinen Freiheitsbegriff als Beitrag zur Auslegung der allgemeinen Handlungsfreiheit und die bleibende Bedeutung von Gierkes Genossenschaftsrecht. Grundlage der systematischen Überlegungen Gierkes ist die »Doppeleigenschaft« des Menschen, zugleich »Individuum für sich und Glied eines Gattungsverbandes« zu sein (75). Daraus folgt für das Recht die »Gegenseitigkeit von Willensbeziehungen«. Bekannt wurde Gierke vor allem durch seine Genossenschaftstheorie, die die intermediäre Funktion von Verbänden zwischen Individuum und Staat vorwegnimmt, sowie durch seine Lehre von der Realität der Verbandsperson. Die drei Studien befassen sich vor allem mit rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Voraussetzungen und Implikationen von Gierkes Konzeption.
Den Mittelpunkt des 2. Teils bildet das Kapitel »Die rechtliche Relevanz von Gerhard Ebelings theologischer Fundamentalunterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium als gedankliche Alternative«. Die Studien sind Gerhard Ebelings Relevanz für das evangelische Kirchenrecht gewidmet. Der große Beitrag aus ZevKR 26, 1981, hat erstmals Ebelings Sicht des Kirchenrechts erschlossen (hier 99–146). Die beiden anderen Beiträge gelten der Unabhängigkeit des evangelischen Kirchenrechts von der (theologischen) Ethik in der theologischen Begründung des Kirchenrechts nach Ebeling (147 ff.) und dem »Dank des Juristen an Gerhard Ebeling« (211 ff.). J. rekonstruiert in seiner grundlegenden Studie zunächst einmal minutiös Ebelings bis 1980 vorliegenden theologischen Ansatz. Ebelings Theologie stellt einerseits einen Zugang zum Gespräch zwischen Kirchenrechtswissenschaft und evangelischer Theologie her. Denn zwischen der historisch-kritischen Theologie, wie sie Rudolf Bultmann repräsentierte, und der theologischen Reflexion des Kirchenrechts bestand damals kein Gespräch. Andererseits gab es eine Rechtstheologie, die sich mit den Namen Johannes Heckel, Erik Wolf und Hans Dombois verbindet, die auf jeweils unterschiedliche Weise eine theologische Grundlegung des Rechts und des Kirchenrechts entwarf und dabei selbst Theologie in rechtlichen Kategorien dachte. Zwischen dem allgemeinen Verständnis von Recht und einer »theologischen« Rechtsbegründung tat sich deswegen eine Kluft auf. Ebelings Beitrag zum Verständnis des Kirchenrechts besteht daher darin, dass er die Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium zur Geltung bringt. Für das Kirchenrecht bedeutsam sind überdies Ebelings Ekklesiologie und die Zweireichelehre. Für Ebelings Kirchenverständnis entscheidend ist die Wahrnehmung der Geschichtlichkeit der empirischen, der »sichtbaren« Kirche.
Kirchenrecht ist eine notwendige Folge der Geschichtlichkeit von Kirche. Die Kirchengeschichte ist der Ursprung des Kirchenrechts. Mit diesem Argument grenzt sich Ebeling gegen Rudolph Sohm ab, der einen spiritualistischen Kirchenbegriff hatte und für den die geistliche Kirche »pneumatische Anarchie« ist. Ebenso grenzt diese Grundlegung des Kirchenrechts sich ab gegen eine kanonistische Position, die Kirchenbegriff und Kirchenrecht ungeschichtlich denkt und das Kirchenrecht aus einer zeitlosen Dogmatik entwickelt, in der Dogmen Rechtssätze sind und umgekehrt Rechtssätze als Dogmen zeitlos gelten. Ebeling konstatiert dagegen: »Ein rein religiöses wie ein rein weltliches Kirchenrecht wäre […] gleich totalitär.« (Zit. 129) Das Kirchenrecht ist keine Form des Evangeliums. Vielmehr ist das positive Recht als solches, und damit auch das Kirchenrecht, Ergebnis einer Erfahrung, die der Mensch mit der im Gesetz begegnenden Lebenswirklichkeit macht (123). Evangelisches Kirchenrecht beruht auf Lebenserfahrung als Erfahrung des Gesetzes. J. zieht die Folgerungen aus der Fundamentalunterscheidung von Gesetz und Evangelium sowohl für das positive innerkirchliche Recht wie auch für das Staatskirchenrecht. Aus jeder theologischen Position, so konstatiert J. zutreffend, ergeben sich rechtstheologische Konsequenzen. Ebelings hermeneutische Theologie eröffnet dabei einen alternativen Ansatz evangelischen Kirchenrechts, im Unterschied zu anderen nach 1945 herrschenden rechtstheologischen Entwürfen. Der Jurist kann nach diesem Ansatz das kirchliche wie das weltliche Recht mit juristischen Begriffen und Methoden gestalten, auslegen und fortbilden (vgl. 146). Es gibt für Ebeling nämlich keinen usus theologicus evangelii im Blick auf politische und juristische Phänomene. Gerade da­durch ist Ebelings Theologie klärend und befreiend für das säku-lare Rechtsdenken.
Den Kontrast dazu bilden zwei Beiträge: »Hans Barions Werk als Anfrage an das evangelische Kirchenrecht« (147–175). Barion vertritt einen dem positiven katholischen Kirchenrecht vorgelagerten ante-kanonistischen Standpunkt. Denn Barion versteht Kirche und Kirchenrecht axiomatisch und bestreitet ein historisches Denken im Blick auf Kirche und Kirchenrecht. J. fragt dagegen, ob das historische Denken nicht eine Überwindung des Subjekt-Objekt-Schemas kennzeichnet und wirft damit die Frage auf, ob der konfessionelle Gegensatz nicht auch ein philosophischer sei, nämlich zwischen einer Substanzontologie und einer relationalen Ontologie (172 ff.). Barion ist zudem bekannt geworden durch seine Kritik an der Idee der politischen Theologie und an der Soziallehre des Zweiten Vatikanischen Konzils als »konziliarer Utopie« (154 f.).
Den anderen Kontrast stellt J.s Auseinandersetzung mit Wolfgang Huber dar: »Fragwürdiger Abschied vom usus politicus legis. Gerechtigkeit und Recht bei Wolfgang Huber« (217 ff.). Der Einwand ist dabei, dass Huber eine Ethisierung des Rechts betreibe und den Rechtspositivismus ablehne. Bereits in seinen Beiträgen zu den Menschenrechten berief sich W. Huber auf die Argumentationsfigur von Analogie und Differenz. Analogie meint eine Entsprechung und Übereinstimmung von Theologie und weltlichen Phänomenen, etwa juristischer Art oder politischer Gegebenheiten. Huber unterscheide nicht streng genug zwischen ethischen bzw. politischen Gehalten von Menschenrechten und ihrer juristischen Bedeutung. Dadurch komme es zu einer politischen Anwen dung des Evangeliums in Fragen beispielsweise des Friedens oder der Gerechtigkeit und einer durchgängigen Ethisierung des Chris­tentums und einem »Zwang zur Selbstsäkularisierung« (249). J. besteht dagegen auf der Unterscheidung und Differenz – nicht Trennung! – von Gesetz und Evangelium und analog von Recht und Gerechtigkeit.
Der 3. Teil erörtert »Wilhelm Henkes juristische Fundamentalunterscheidung zwischen Recht und Gerechtigkeit aufgrund einer säkularen Zweireichelehre als entscheidende Folgerung« (253 ff.). Henkes umfangreiches Hauptwerk »Recht und Staat. Grundlagen der Jurisprudenz«, 1988, das die Rechtswissenschaft in der Lebenswelt verankern wollte, hat wenig Beachtung gefunden. Henke war Schwiegersohn von Friedrich Gogarten und nahm dessen Interpretation der Zweireichelehre auf. J. rekonstruiert Henkes Ansatz. Henke setzt ein bei Erfahrungen der Lebenswelt, wie etwa der Un­gewissheit des Rechts, der Erfahrung von Freiheit und der Aufgabe d er Lösung eines streitigen Falles in der Lebenswelt durch das rechtliche Verfahren. Die rechtliche Entscheidung fällt in einer Dreiecksbeziehung von Gesetzgeber, konkretem Einzelfall und Richter und soll zur Gerechtigkeit des Falles führen. J. wendet gegen den Ansatz Henkes und dessen Verankerung der Rechtswissenschaft in der Lebenswelt ein, dass er dem Volkswillen, d. h. der rechtlichen Gemeinschaft, keine juristische Bedeutung zukommen lasse. Der säkularen Zweireichelehre mit der Unterscheidung von Recht und Gerechtigkeit stimmt J. hingegen ausdrücklich zu.
Drei Studien zur Rechtstheorie runden das Werk ab: »Rechtsgeschichte als rechtswissenschaftliche Disziplin« (253 ff.); »Staatskirchenrecht als Kollisionsrecht« (317 ff.) und »Der Beitrag der juris-tischen Dogmatik zur Gesetzgebung« (351 ff.). Den Theologen werden weniger die durchdachten Beiträge zur Rechtstheorie, die den Abschluss des Werkes bilden, als vielmehr J.s Überlegungen zur theologischen Grundlegung von Recht und Kirchenrecht und seine Warnung vor einer Moralisierung des Rechts interessieren. Seine kritischen Beiträge geben zu bedenken. Denn diese Überlegungen sind nicht nur anregend, sondern weiterführend und klärend im Blick auf einen evangelischen Ansatz des Kirchenrechts.