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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1069–1071

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Lück, Heiner

Titel/Untertitel:

Die Spruchtätigkeit der Wittenberger Juristenfakultät. Organisation - Verfahren - Ausstrahlung.

Verlag:

Köln-Weimar-Wien: Böhlau, 1998. XX, 347 S., 1 Faltkte. gr.8. Geb. DM 88,-. ISBN 3-412-11297-6.

Rezensent:

Filippo Ranieri

Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um eine rechtshistorische Dissertation, welche 1983 von der damaligen Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommen wurde. Die damalige Dissertationsarbeit stand unter der Inspiration und Betreuung eines Kenners der sächsischen Rechtsgeschichte: Prof. Dr. Dr. h.c. Rolf Lieberwirth. Auch der Vf. und damalige Doktorand, inzwischen Ordinarius für Deutsche Rechtsgeschichte an der Juristischen Fakultät Halle, ist zu einem der größten Spezialisten der sächsischen Rechts- und Verfassungsgeschichte avanciert (siehe zuletzt H. Lück, Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423-1550. Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd.17, Köln, Wien: Böhlau 1997). Die damalige Dissertation findet nunmehr in einer überarbeiteten und aktualisierten Fassung, vor allem, was die Literaturangaben angeht, in der hier angezeigten Monographie den Weg in die wissenschaftliche Öffentlichkeit.

Einige Hinweise seien zunächst dem Inhalt und der Anlage der Arbeit gewidmet. Diese gliedert sich im wesentlichen in vier zentrale Abschnitte. In einem ersten Teil wird allgemein die Spruchtätigkeit der Juristenfakultäten im Alten Reich und die Herausbildung des Instituts der Aktenversendung an deutschen Universitäten präsentiert. Dieser Moment in der Geschichte der deutschen Rechtsfakultäten wird in den allgemeinen Zusammenhang der Geschichte der deutschen Universitäten und der Herausbildung einer deutschen Gerichtsverfassung eingeordnet. Ein zweiter Teil ist im einzelnen der Entwicklung und Ausformung der Aktenversendung im Königreich Sachsen gewidmet (55-114).

Die Darstellung greift zunächst auf die ersten Anfänge einer Ratseinholung in Kursachsen bereits während des 15. Jh.s zurück, um anschließend nach der Gründung der Wittenberger Universität auf die Verflechtung zwischen der dortigen Juristenfakultät mit dem Hofgericht und mit dem Konsistorium im einzelnen einzugehen. Ausführlich wird dabei die Zuständigkeit der Wittenberger Spruchkollegien sowie die rechtliche Regelung der Aktenversendung zwischen dem 17. und dem 18. Jh. dargestellt. Ein dritter Abschnitt der Monographie (115-170) wird der Organisation und dem Verfahrensablauf bei der Spruchtätigkeit der Wittenberger Rechtsfakultät gewidmet. Die Verfahrensschritte im einzelnen, die jeweiligen Zuständigkeiten, die Anfertigung und Verkündung der Sprüche sowie die Ausfertigung der jeweiligen Urkunden und die damit verbundenen Bearbeitungsfristen und Bearbeitungsgebühren werden hier mit präzisem Rückgriff auf die umfassende Aktenüberlieferung dargestellt. Lesenswert sind aus der Sicht des Rez. vor allem die Hinweise auf die Methode, welche das Wittenberger Spruchkollegium bei der materiellrechtlichen Bearbeitung der ihm vorgelegten Fälle anwandte.

Wie bei einem Kollegialgericht wurde auch hier eine mündliche und später regelmäßig auch schriftliche Aktenrelation angefertigt und vorgetragen (vgl. insbesondere die Hinweise 133 ff.). Es scheint, daß die Sprüche und die "Decisa" wenigstens seit dem 18.Jh. regelmäßig begründet wurden (vgl. hier die Ausführungen 193ff.). Die Arbeit der Mitglieder des Spruchkollegiums gestaltete sich also in etwa in einer vergleichbaren Weise wie bei anderen Rechtsfakultäten und Gelehrtengerichtshöfen. Gerade die notwendige und regelmäßige Anfertigung auch in Wittenberg einer schriftlichen "Aktenrelation" verdeutlicht den Einfluß des Reichskammergerichts auch auf die Spruchtätigkeit der damaligen Rechtsfakultäten.

Den Sprüchen selbst und ihren Auftraggebern ist ein vierter Abschnitt der Arbeit gewidmet (173-219). Hier wird der zeitliche und materielle Umfang der Spruchtätigkeit der Fakultät zunächst dargestellt (173 ff.) sowie die Formen und der Aufbau der Sprüche selbst beschrieben (180 ff.). Die Darstellung beschränkt sich hier allerdings nur auf die äußere Form der Sprüche und der Decisa. Beschrieben wird ihre unterschiedliche urkundliche Form, das Vorkommen einer Spruchbegründung, deren Ausfertigung und Versendung. Auf eine materielle Analyse der Sprüche selbst, vor allem auf deren argumentativen logischen Aufbau sowie auf die zitierten und herangezogenen Rechtsautoritäten geht die Arbeit leider nicht ein. Gerade eine spezifische Analyse der soeben zitierten Aktenrelationen würde einen Einblick in die Rechtskultur der damaligen Fakultät erlauben. Dieser Abschnitt wird mit einigen Hinweisen zu den Konsulenten und zum territorialen Wirkungsbereich der Wittenberger Spruchkollegien abgeschlossen.

Der Schwerpunkt ihres geographischen Wirkungsbereichs scheint in Kursachsen selbst gelegen zu haben. Darüber hinaus (vgl. die schöne rechtshistorische Karte als Anlage der Monographie) kamen die Anfragen durchweg aus Ost- und Mitteldeutschland. Ein Schwerpunkt scheinen das Herzogtum Pommern sowie die übrigen sächsischen Territorien gewesen zu sein. Ein letzter, fünfter Abschnitt betrifft die Beendigung der Spruchtätigkeit in Wittenberg. Diese hört im Jahre 1813 mit der Besetzung der Stadt Wittenberg durch die napoleonischen Truppen auf und findet praktisch keine Fortsetzung nach der Restauration. Insoweit ordnet sich auch Wittenberg in die allgemeine Entwicklung ein: Bekanntlich fand das Institut der Aktenversendung und die Beteiligung von Rechtsfakultäten an der gerichtlichen Praxis endgültig in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts ihr Ende. Eine gewisse Fortsetzung der alten Tradition findet insoweit in der heute noch in Deutschland üblichen Praxis statt, daß Rechtsprofessoren gelegentlich auch als Richter im Nebenamt an Oberlandesgerichten tätig sein dürfen.

Die Monographie stellt eine vorzügliche Untersuchung der Geschichte der Wittenberger Juristenfakultät als Spruchkörper dar. Der Vf. hat in mühevoller Arbeit eine umfassende archivarische Überlieferung herangezogen (vgl. das beeindruckende Quellenverzeichnis, 239-251). Nahezu lückenlos sind auch die zahlreichen und umfassenden Literaturnachweise. Für die institutionelle, "äußere" Geschichte der Wittenberger Rechtsfakultät als Spruchkollegium und für die Geschichte des Instituts der Aktenversendung im Alten Reich überhaupt dürfte die vorliegende Untersuchung für die künftige Forschung ein Standardwerk darstellen. Sie ist, wie bereits erwähnt, auf die institutionelle Geschichte des Spruchkollegiums beschränkt.

Die unübersehbare Masse der überlieferten Akten und deren fehlende Einzelerschließung macht es offenbar unmöglich, eine materielle Aktenanalyse in das Zentrum der Untersuchung zu stellen. Eine materielle Aktenerschließung beschränkt sich auf die wenigen Angaben in der Tabelle der Anlage 30 auf S. 329-330. Sowohl bei den Sprüchen der Juristenfakultät als auch bei denjenigen des Schöffenstuhls lagen die Schwerpunkte der Spruchtätigkeit vor allem auf dem Gebiet des Prozeßrechts mit etwa 40 % sowie des Straf- und des Strafprozeßrechts (zwischen 20 und 30 %) und des Erbrechts (etwa 15 % mit abnehmender Bedeutung). Neben einer historisch-quantitativen Analyse der Aktenüberlieferung vor allem in Korrelation zu den wirtschafts- und sozialhistorischen Daten der Epoche, wäre auch eine materiellrechtliche Einzelanalyse wenigstens ausgesuchter Aktenvorgänge von größtem Interesse. Der Vf. selbst erkennt diese Notwendigkeit: In der "Schlußbetrachtung" am Ende der Untersuchung schreibt er (235): "Verlauf, Intensität und Ergebnisse der Rezeption der fremden Rechte im Bereich des Gemeinen Sachsenrechts sind von der rechtshistorischen Forschung bisher vernachlässigt worden. Die inhaltliche Analyse der sächsischen Schöffenstuhl- und Fakultätssprüche könnte wertvolle Ergebnisse für die Klärung dieser offenen Probleme liefern."

Es bleibt am Schluß dieser Rezension die Hoffnung auszusprechen, daß gerade auf der Basis der grundlegenden Untersuchungen des Vfs. zu der sächsischen Justizgeschichte auch eine solche Auswertung der Wittenberger Akten im Hinblick auf eine Geschichte der Rezeption des römischen Rechts in Sachsen bald in Angriff genommen werden kann.