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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1437–1439

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Queisser, Cornelia

Titel/Untertitel:

Paul Drews. Programm einer empirischen Theologie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 239 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 60. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-04066-7.

Rezensent:

Frank Thomas Brinkmann

Dass Paul Drews, vor einem halben Jahrhundert noch in einer umfangreichen Publikation als Vater einer evangelischen Kirchen- und religiösen Volkskunde gewürdigt, bisweilen auch geführt als ein früher Streckenposten der Religionssoziologie, im gegenwärtigen Betrieb der Praktischen Theologie kaum schwach erinnert wird, ist die erstdiagnostische Ausgangslage einer Untersuchung, die durch Andreas Kubik angeregt und als Dissertationsschrift betreut, letztlich von der Rostocker Universität als theologische Qualifikationsarbeit angenommen wurde. Bereits bei der Lektüre erster Schriften, so erklärt sich Cornelia Queisser im Vorwort zu besagter Studie, sei sie von der Idee entflammt gewesen, dem in Vergessenheit Geratenen, insbesondere nun seinem »Konzept empirischer Theologie, die Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, die ihr der Sache nach gebührt«.
Das leuchtet ein; immerhin haben doch allerlei Praktische Theologien in den vergangenen Dekaden – wenn auch in unterschiedlichen Rubriken, unter mannigfachen Leitsignaturen – den Versuch unternommen, die Realitätsanteile ihrer Aktivitäten zu erhöhen und empirische Absicherungsstrategien der je aufgebrachten Religionskonzepte zu entwickeln: Die deduktiven Verfahren, von gelebter Religion auszugehen, sie wahrzunehmen bzw. hermeneutisch zu erschließen, erhielten ihre empirischen Gütesiegel in dem Maße, wie es gelingen sollte, etwa mit sozialwissenschaftlichen, religionspsychologischen und kulturanthropolo-gischen Methodenapparaturen aufzuzeigen, inwiefern sich z. B. Kirchenmitgliedschaften, fromme Sinndeutungspraktiken und sub­jektiv-individuelle Lebensvollzüge unter (spät)modernen Transformationsschüben theologisch verstehen und gestalten lassen. Tendenziell werden die Anfänge dieser starken Trends mit dem von Klaus Wegenast geprägten Begriff der empirischen Wendung sowie mit den in der Zeitschrift Theologia Practica vorgetragenen Neubestimmungsversuchen u. a. von Gert Otto und Dietrich Rössler assoziiert. Die damit einhergehenden Datierungsvorschläge, die sich auf deutliche Zäsuren in den späteren 1960er Jahren konzentrieren, orientieren sich dabei an der Basisthese, dass die Praktische Theologie unter der »Vorherrschaft der dialektischen Theologie (ca. 1920–1965)« (12) an einer Wahrnehmung religiöser Großwetterlagen ebenso wenig interessiert war wie an empirisch-theologischen Fragestellungen. Obwohl nun dieser Behauptung ohne größere, verwegene Denkkapriolen kaum widersprochen werden kann, bleibt doch dem Missverständnis vorzubeugen, dass die jüngste (praktisch-)theologische Wertschätzung der Empirie eben auch wissenschaftsgeschichtlich die erste war. Vielmehr gilt es, dem Umstand gerecht zu werden, »dass bereits um 1900 ein empirisch-theologischer Paradigmenwechsel die Forschung er­fasste. Dieser verbindet sich vor allem mit dem Namen Paul Drews (1858–1912), welcher seinerzeit das theologisch anerkannteste Programm vorlegte.« (12)
Vor diesem Hintergrund also platziert Q. ihr ehrgeiziges Projekt einer wissenschaftsgeschichtlichen Erhellung des Werkes von Paul Drews, der in seiner »theoretisch ausgearbeiteten und praktisch erprobten empirischen Theologie, die sich um die Religiöse Volkskunde, Religiöse Psychologie und Evangelische Kirchenkunde herum gruppiert, […] die konkrete Gestalt einer empirisch ausgerichteten Praktischen Theologie präfiguriert.« (12) Allein auf weiter Flur steht Q. gleichwohl mit ihren Zielsetzungen und Fragestellungen nicht; zu fragen bliebe, wie es sich mit dem reklamierten, weil selbstwahrgenommenen und im Arbeitsumfeld attestierten forschungsgeschichtlichen Exotenstatus denn in Anbetracht aller sekundären Publikationen (K. Eger, W. Rudolph, V. Drehsen u. a. m.) verhält, mit denen Q. den Dialog führt: Denn wie es sich für eine gute forschungsgeschichtliche Arbeit gehört, verrechnet Q. ihre Drews-Quellstudien und -Interpretationen stets im Abgleich mit den bisherigen Erträgen einschlägiger Referenzveröffentlichungen über und zu Paul Drews. (Dass dies vielleicht ein-, zweimal zu häufig geschieht und unter Redundanzverdacht gestellt werden könnte, steht auf einem anderen Blatt, ebenso, dass Wiederholungseinschübe im Fließtext hinderlich sind, wenn Q. ihre Forschungslogik und -stringenz anschaulich machen will.)
Gleichwohl, die Denk- und Forschungserträge, die letztlich präsentiert werden, verdienen Beachtung. So bringt Q. sehr überzeugend vor, wie der lutherische Kulturtheologe und Kulturprotes­tant (16) seine persönliche Ausgangserfahrung mit der sozialen Frage seiner Zeit im Spannungsverhältnis von theologischer An­thropologie (Klassensündenlehre), lutherischer Berufsethik (Sittenlehre) und sozialethisch-diakonischer Feinabstimmung (Ge­sellschaftslehre) zu fassen versucht hat, dabei zu ersten programmatischen Schrittfolgen – Wahrnehmung unterschiedlicher Mili­eus (59), Erkundung von Bevölkerungsschichten, Ursachenanalyse von Krisensymptomen (42 f.) – inspiriert wurde. Doch auch die theologieinterne Debatte um Dogmatik oder religiöse Psychologie, namentlich die Streitfrage, ob sich das Frömmigkeitsprofil eines Menschen nur über dogmatisch-kirchliche Kriterien vermessen lässt, dürfte sich, so Q., maßgeblich in Drews’ späterer Positionierung niedergeschlagen haben, »dem gegenwärtigen religiösen Leben Beachtung zu schenken« (55). Drews, der an der Kirche als Wächterin des (nicht nur sittlichen) christlichen Gewissens festhalten wollte, erkannte deutlich die Tragweite all jener Krisen-phänomene, die man einerseits distanziert unter dem Begriff der Entfremdung subsumieren, andererseits aber auch anteilig auf pastorale Insuffizienz zurückführen konnte. Die Konsequenz ist unmissverständlich: Der ins Leere oder nach oben gerichtete Blick der Geistlichen sei (wieder) auf die Lebenden und ihre Lebensausdrücke zu richten! (Dass Q. im betreffenden Erläuterungszusammenhang u. a. den Dilthey’schen Verstehensbegriff aufgreift, ist löblich; dass sie Objektivationen durchgängig als Objektvationen – ohne »i«! – bezeichnet, weniger; vgl. 70 ff.)
Und so ist der Fall wohl klar: Wenn die Praktische Theologie sich fokussiert auf die Lebensausdrücke von Menschen in konkreten Gruppierungen (79 f.) – um einen romantisierten Volksgeist geht es hier übrigens weniger! (81 f.) –, auf die seelischen Regungen und Ausdrücke von Menschen (87 f.) sowie auf die geschichtlichen und aktuellen Glaubensvorkommnisse innerhalb eines begrenzten Feldrahmens (103 f.), dann wird sie sich alsbald imstande sehen, kirchlichen Amtsträgern jenes Wissen bereitzustellen, das diesen Geistlichen die Möglichkeit gibt, »sich in die Gedanken- und Lebenswelt der jeweiligen Bevölkerungsgruppe einzufühlen« (78). Sozusagen im kirchlichen Interesse also überschneiden sich Religiöse Volkskunde, Religiöse Psychologie und Evangelische Kirchenkunde; auf methodischem Terrain wird dies nachweisbar offensichtlich (120–170).
Letzten Endes, so zeigt Q. (196 f.), wird aus dem frühen Drews­schen Imperativ Mehr Herz fürs Volk (1891) innerhalb von 20 Jahren nicht nur ein Beitrag zur Reform des theologischen Studiums, sondern ein nahezu gelöstes Problem der praktischen Theologie (1910). – Zumindest, so sich die (Praktische) Theologie für Tatsachen öffnet (205).