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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1434–1436

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Heyl, Andreas von, Kemnitzer, Konstanze, u. Klaus Raschzok [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Salutogenese im Raum der Kirche. Ein Handbuch.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 574 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04142-8.

Rezensent:

Michael Klessmann

Das Konzept der Salutogenese hat seit einigen Jahren Hochkonjunktur, auch in Kirche und Diakonie wird es mit zunehmender Dringlichkeit rezipiert. Für die im Bereich von Kirche und Diakonie Tätigen sind die beruflichen Belastungen hoch, der Prozentsatz derer, die unter stressbedingten Gesundheitsstörungen leiden, ist deutlich höher als in der Gesamtbevölkerung, das haben empirische Untersuchungen belegt. Dieser Befund ist verstörend angesichts einer menschenfreundlichen Botschaft der Kirchen; Arbeit soll im theologischen Selbstverständnis der Kirchen der »Verwirklichung von Freiheit« dienen (Reiner Anselm, 144) und nicht Menschen durch »Überforderungsstrukturen« (120) krank machen. Vor diesem Hintergrund haben drei an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau im Bereich der Praktischen Theologie Lehrende (der leider kürzlich verstorbene apl. Professor Andreas von Heyl, Konstanze Kemnitzer als Privatdozentin und der Lehrstuhlinhaber Klaus Raschzok) ein umfangreiches Handbuch herausgegeben, in dem das Thema in 34 Beiträgen (von 32 Autoren und Autorinnen verfasst) breit dargestellt wird. In einer kurzen Einführung stellen die Herausgebenden das Konzept der Salutogenese vor und formulieren als Zielsetzung des Buches: »Der verantwortungsvollen Ge­staltung von Arbeit im Raum der Kirche im Sinne eines saluto-genetischen Gesamtverständnisses von Menschen will das vorliegende Handbuch dienen.« (19)
Im ersten Teil (»Perspektiven«) werden psychologische, soziologische, politisch-rechtliche, wirtschaftliche, alttestamentliche, neu­testamentliche, orthodoxe, katholische, evangelische, freikirchliche Perspektiven zum Konzept der Salutogenese entfaltet.
Im zweiten Teil werden verschiedene »Phänomene«, die im Zu­sammenhang des Salutogenese-Konzepts von Bedeutung sein können, dargestellt: die Bedeutung von Spiritualität, die Auswirkungen von Mobilität und Virtualität, der Stellenwert des Arbeits-klimas, das Verständnis von Arbeit, Möglichkeiten der Kon­fliktklärung etc. Von Heyl schreibt hier über den wichtigen Zusammenhang von Stress und Salutogenese (215 ff.), weist auf die hohe Bedeutung struktureller Faktoren hin. – »Den nachhaltigsten salutogenetischen Effekt hätte es zweifellos, wenn die Arbeitgeber für Arbeitsbedingungen sorgen, unter denen sich die Beschäftigten wohlfühlen und entsprechend ihren Begabungen einbringen und entfalten können.« (236) – Den konkreten Zusammenhang dieser These mit kirchenleitendem Handeln führt dann erst im dritten Teil (»Handlungsfelder«) Andreas Weigelt aus (»Salutogenese als kirchenleitende Herausforderung«, 399 ff.): Es müsse eine salutogenetische Grundhaltung in der Kirche einziehen, die ihr Augenmerk auf die konkreten Arbeitsbedingungen legt, unter denen kirch-liche Mitarbeitende arbeiten: Jahresdienstgespräche, differenzierte Dienstordnungen (die in einigen Landeskirchen gerade erprobt werden), Vertretungsregelungen, qualifizierte Weiterbildungen für das Leitungspersonal etc. Solche strukturellen Maßnahmen müssen ergänzt werden durch die bekannten individuellen Aktivitäten: Auszeiten, Exerzitien, Supervision etc. Im dritten Teil kommen neben dem Pfarramt auch Arbeitsfelder aus der Diakonie, besonders Pflege- und Pflegewissenschaft, außerdem Religions-, Gemeinde- und Familienpädagogik, Pastoralpsychologie, Seelsorge und Gottesdienst in den salutogenetischen Blick. Nichttheologische Berufe im Raum der Kirche werden hier ausdrücklich auch bedacht; erstaunlicherweise bleibt jedoch die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen, die auf allen Ebenen kirchlichen Handelns im­mer wichtiger werden, ausgespart.
Insgesamt ein anregendes und umfassendes Buch, in dem zu stöbern sich lohnt. Stichworte wie »Protestantisches Arbeitsethos« (139 ff.), »Ausbeutung« (317 ff.), »öffentliche Theologie« (553 ff.) regen an, den größeren Rahmen von Überlastung und Salutogenese zu bedenken. In manchen Fällen hätte ich mir mehr Konkretion (hilfreich in dieser Hinsicht der Beitrag von Kuchenbauer mit Fallbeispielen zur salutogenen Konfliktlösung, 281 ff.) und weniger Allgemeinplätze gewünscht (»Arbeit darf nicht zur Religion werden«, 148; man soll »ganz bewusst freie Zeit aussparen«, 170; der Pfarrberuf sei »der schönste Beruf der Welt«, 364 u. ö.). Das Problem ist doch, dass Betroffene meistens das alles wissen, es aber aus strukturellen und individuellen Gründen nicht hinkriegen, das Wissen in ihre Praxis umzusetzen.
Die Herausgebenden haben anscheinend die Neigung, den Fokus stärker auf die individuellen Bewältigungsmechanismen von Stress und Überlastung zu richten als auf die strukturellen. Das von Antonovsky entwickelte Konzept des Kohärenzgefühls verführt dazu, es individualisierend zu verengen. Diese Neigung zeigt sich schon darin, dass ein Aufsatz des Psychologieprofessors Uwe Schaarschmidt »Salutogenese aus psychologischer Perspektive« den Band eröffnet (25 ff.). In dem von ihm vorgestellten AVEM-Konzept (Arbeitsbezogenes Verhaltens- und Erlebensmuster) geht es darum, die persönlichkeitsspezifischen Risikomuster und Stile zu identifizieren, die für Diagnosen und Interventionen bedeutsam sein können. An zweiter Stelle erscheint dann der Beitrag von Chris-toph Morgenthaler (Prof. em. für Seelsorge und Pastoralpsychologie in Bern) »Soziale Kontexte der Salutogenese. Soziologisch-systemische Grundorientierung«, der zunächst eine differenzierte Einführung in A. Antonovskys Konzept der Salutogenese gibt und dann die Rahmenbedingungen benennt, die im Sinn von »enabling conditions« auf den verschiedenen Systemebenen gegeben sein müssen, damit Einzelne individuelle Maßnahmen der Salutogenese realisieren können. In dem Beitrag »Pfarrberuf und Arbeitsgesundheit« nennt von Heyl vorrangig viele notwendige individuelle Maßnahmen (Allmachtswünsche entzaubern, Über-Ich entmachten, Depression vermeiden, narzisstische Kränkung be­arbeiten, der geistlichen Versteppung [sic!] wehren), die aber weitgehend auf der Appellebene bleiben, wenn nicht geeignete Arbeitsstrukturen und das Arbeitsklima insgesamt – und da spielen die in diesem Band kaum erwähnten Leitungskräfte der mittleren Ebene eine zentrale Rolle – dafür geschaffen werden. »In schlechten Strukturen können selbst fähigste Personen in Kürze kaputt gehen«, hat der Diakoniewissenschaftler Alfred Jaeger einmal geschrieben. Auch ein eher unkritisches Verständnis der Bedeutung von Glaube und Religion ist da nicht hilfreich. Kann man im Anschluss an Mk 7 sagen »Wer sich ganz intensiv und intim von Gott berühren lässt, der wird gesund« (18) – ohne zugleich die möglichen destruktiven Seiten von Religion in Vergangenheit und Gegenwart mitzubedenken? Und kann man ohne jede Ambivalenz salutogenetische Aspekte in der »Bereitung« und Feier des Gottesdienstes ausmachen (Raschzok, Kemnitzer, 535 ff.)? Unter Bezugnahme auf E. Hirsch ist da nostalgisch vom »Verweilen in der Kammer des Predigers als ›Auszeit‹« die Rede, und dass der Pfarrer am Samstag grundsätzlich nicht gestört werden dürfe – ohne zu erwähnen, dass für viele Pfarrerinnen und Pfarrer auch das Gottesdiensthalten und Predigen hohe Belastung bedeutet. Wenn es darum geht, eine salutogenetische Orientierung für die Kirche zu fördern, dann muss man doch die Belastungen erkennen und benennen, statt sie idealisierend zu übergehen. Zweifellos können Einzelne mit Hilfe des reframing (Umdeuten) in manchen Belastungen des Pfarramts auch die Chancen zur freien Gestaltung und zur Kreativität erkennen (361), aber die dort gemachten Vorschläge klingen eher verharmlosend (man könne doch dank technischer Möglichkeiten die Predigt auch im Schwimmbad oder auf der Berghütte oder im Ruderboot auf dem See vorbereiten), und ein wirklich struktureller Beitrag zur Lösung der Überlastung vieler in Kirche und Diakonie Tätiger sind sie nicht.