Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1432–1434

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Greifenstein, Johannes

Titel/Untertitel:

Ausdruck und Darstellung von Religion im Gebet. Studien zu einer ästhetischen Form der Praxis des Christentums im Anschluß an Friedrich Schleiermacher.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XII, 499 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 18. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-153534-5.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Diese sachlich gehaltvolle, wenn auch vom Umfang her etwas aus dem Ruder gelaufene Arbeit von Johannes Greifenstein wurde bei Christian Albrecht in München angefertigt und dort im Wintersemester 2013/14 als Dissertation angenommen. Sie sucht das Gebet als anthropologisches, genauer: als bewusstseinsphilosophisches und ästhetisches Phänomen zu beschreiben, ohne dabei auf metaphysische Kategorien wie das Handeln oder Eingreifen Gottes zu rekurrieren. G. expliziert das Gebet damit im Rahmen einer konsequent anthropologisch reformulierten Theologie und einer aus der Theorieperspektive beschriebenen religiösen Praxis (447). Es geht nicht um spirituelle Beschreibungen, sondern um philosophisch-ästhetische Rekonstruktionen des Gebetsvorganges. Darum werden von G. auch keine Gebetstexte oder -formulare analysiert, sondern die Aufmerksamkeit gilt dem Phänomen des Betens als eines denkerischen Vollzuges.
Insofern G. von der Gebetspraxis ausgeht, handelt es sich um eine praktisch-theologische Arbeit; was allerdings die Arbeitsweise betrifft, muss man von einer systematisch-theologischen Praxistheorie sprechen, die den untrennbaren Zusammenhang beider Disziplinen eindrücklich unterstreicht. Man kann die Studie auch als Skizze einer Fundamentaltheologie des Gebets bezeichnen.
Fast die Hälfte der Arbeit beschäftigt sich mit »Ausdruck und Darstellung von Religion im Gebet bei Friedrich Schleiermacher« (179–375), wobei neben den Reden, den Monologen und der Praktischen Theologie vor allem die Christliche Sittenlehre interpretiert wird (276–370). Das »darstellende Handeln« ist nach Schleiermacher zunächst keine spezifisch christliche Praxis, sondern ist für das menschliche Leben selbst charakteristisch (278.316). Bekanntlich verwendet Schleiermacher den Begriff des »Gottesdienstes« zu-guns­ten der Rede vom »Kultus« nicht; aber er unterscheidet in reformatorischer Orientierung zwischen der »Dienstbezeugung« des Menschen und der (abzulehnenden) »Diensterweisung« (280).
Weiterführend ist besonders G.s Differenzierung zwischen dem »intersubjektiven« und dem »intrasubjektiven« darstellenden Handeln (300–316). Das Ausdrucksverhalten des Subjekts ist nicht nur gemeinschaftsbildend, sondern es hat auch »eine Funktion für die Verständigung dieses Subjekts über sich selbst« (315). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Religion bzw. das unmittelbare Selbstbewusstsein nach Schleiermacher zunächst gerade nicht gegenständlich, nicht in kunstvoller Darstellung begegnet, woraus sich eine deutliche Spannung zur ästhetischen Praxis ergibt (338 f.).
Den Vorwürfen, Schleiermacher habe vor allem das Bittgebet ethisch und philosophisch kurzgeschlossen, wird vehement entgegengehalten, es handle sich dabei um »oberflächliche« Beschreibungen, die in der theologischen Literatur zumeist ungeprüft »repetiert« würden (368 f.). Gerade bei dieser zentralen Frage hätte ich mir allerdings etwas mehr theologische Auseinandersetzung gewünscht. Treffend wird herausgearbeitet, dass es Schleiermacher nicht eigentlich um eine systematische Theorie des Gebets ging, sondern primär um eine Theorie des Ausdrucks und der Darstellung von Religion, »in die er das Gebet einzufügen« wusste (373).
Der Schleiermacherauslegung ist ein Kapitel mit ästhetischen Theoriebildungen aus der Zeit des 17. und 18. Jh.s vorangestellt, worin sich G. in musikästhetischen (u. a. Monteverdi, Mattheson, Forkel) und poetologischen (u. a. Opitz, Gottsched, Klopstock) Diskursen beschlagen zeigt. Hier verschwindet der Untersuchungs-gegenstand des Gebets allerdings hinter der eingehend thematisierten Spannung zwischen den reproduzierenden und den verwirk­lichenden (in heutiger Sprache: »performativen«) Aspekten ästhe­tischer Praxis. Im dritten Teil der Arbeit (377–449) werden die ästhetischen Kategorien der ersten beiden Teile auf das Gebet bezogen, wobei allerdings – außer mit Martin Luther – kaum die Auseinandersetzung mit theologischen Autoren gesucht wird, sondern stattdessen weitere philosophische und ästhetische Refer- enzen (u. a. Christian Wolff und Theodor Lipps) herangezogen werden.
Inhalt und These des Buches sind durch den Titel genau angegeben: Das Gebet ist im Anschluss vor allem an Schleiermacher als Ausdruck und Darstellung von Religion zu beschreiben. Es fällt auf, dass nicht die durch Schleiermacher geläufige Begriffsbildung »Mitteilung und Darstellung« (bzw. »mitteilende Darstellung« oder »darstellende Mitteilung«) zugrunde gelegt wird. Das hängt einerseits mit dem ästhetischen Zugang, andererseits mit dem Gegenstand Gebet zusammen. Dabei hätte auch der Gedanke des Gebets als »Mitteilung« (in intrasubjektiver wie in intersubjektiver Weise) seine Plausibilität gehabt. Die Leitthese von Ausdruck und Darstellung führt auf aktive und passive, auf repräsentierte und produktive Elemente des Gebetsvorgangs. Das Denken im Gebet hat zunächst – als eigenes Denken – den Charakter des Ausdruckshandelns; darüber hinaus aber erzeugt dieses Denken auch etwas bzw. es stellt etwas dar und damit (produktiv) auch etwas her (so etwa 430 u. ö.).
Die leitenden Thesen, die in den materialen Entfaltungen in der Mitte bisweilen etwas undeutlich werden, lassen sich am leichtes­ten der Einleitung (1–19) und dem Nachwort (445–449) entnehmen. G. will ein Gebetsverständnis entwickeln, das »auch an den außertheologischen wissenschaftlichen Diskurs anschlussfähig ist« und das die religiösen Deutungen nicht als Elemente wissenschaftlicher Theoriebildung missversteht (5). Bei der ästhetischen Betrachtung gehören die Wiedergabe bereits vorhandener Religion und die Beförderung sich erst bildender Religion zusammen. Das darstellende Handeln in Predigt, Gesang und Gebet ist »insgesamt eine Äußerung der christlichen Religion und dadurch zugleich ihre Beförderung« (15). G. sieht den Menschen dabei als »wesenhaft durch Ausdrucks- und Darstellungsverhalten gekennzeichnet«, so dass das Gebet nicht nur seine religiöse Praxis erschließt (446). G. liegt an einer wissenschaftlichen Reflexion, die die »religionstheologische oder religionstheoretische Wende« zugrunde legt (447). In der theologischen Diskussion nimmt er dagegen die wissenschaftliche und die religiöse Bezugnahme auf das Gebet in »einer unreflektierten Verbindung« wahr (3).
Insgesamt kann G.s These so zusammengefasst werden: Die ausdrucks- und darstellungsästhetische Sicht Schleiermachers er­schließt die Praxis des Gebets als Tätigkeit des religiös symbolisierenden Menschen. So wird vom darstellenden Handeln her eine kulturwissenschaftlich anschlussfähige theologische Ethik ebenso möglich wie eine Kunst- und eine Gottesdiensttheorie (16). Der These ist vorbehaltlos zuzustimmen, wobei besonders die spirituelle Selbstzurücknahme bei der wissenschaftlichen Rede vom Ge­bet festgehalten werden muss. Allerdings ist damit für eine theologische Theorie von Gebet und Gottesdienst noch nicht alles gesagt. Denn die fundamentalen Perspektiven müssen gerade auch dazu dienen, die materialen Fragen (z. B.: Gebetserhörung, anamnetische und epikletische Gestaltungsformen, individuelle und private Gebetsanreden im trinitarischen Verständnis, Gebetserziehung) zu reformulieren bzw. auch jene von diesen her tiefer zu durchdringen. Dies konnte in der vorliegenden Arbeit aufgrund der ausführlichen Beschäftigung mit den herangezogenen Autoren nicht geleistet werden und bleibt der Weiterarbeit aufgegeben.
Das Buch ist von hoher Argumentationsdichte und zeugt von einer intensiven Beschäftigung mit den schwierigen Gegenständen. Der Text liest sich zwar nicht leicht, wurde aber hervorragend korrigiert. Auf jeden Fall wird die künftige systematisch-theologische und praktisch-theologische Diskussion zum Thema Gebet intensiv auf diese Arbeit zurückgreifen.