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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1427–1430

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wegner, Gerhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Legitimität des Sozialstaates. Religion – Gender – Neoliberalismus.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 309 S. m. Abb. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-04138-1.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

Der Band versammelt Beiträge zu einer Tagung mit dem Titel »Protestantische Ethik und moderner Sozialstaat: Fernwirkungen der Reformation«, die 2014 in Berlin vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD veranstaltet worden ist.
In der Einleitung vermerkt Gerhard Wegner, die Zusammenhänge zwischen Reformation, lutherischer Staatskirche und mo­dernem Sozialstaat seien »offensichtlich nicht ganz zufällig«, aber komplex und interkonfessionell »umkämpft«. Er stimmt zudem E. Rieger und S. Leibfried zu, die dem freien marktwirtschaftlichen Kapitalismus und der Wohlfahrtsstaatlichkeit des Westens »die gleichen religiösen Wurzeln« bescheinigten, was die tendenziell gegensätzlichen Ordnungsmodelle auch ethisch-moralisch fundiere und einen entsprechenden Glaubenseifer ihrer Anhänger speise.
Als Präludium folgt eine Betrachtung von Marcel Hénaff über »Gabe, Markt und soziale Gerechtigkeit«. Ausgehend von Marcel Mauss’ Interpretation zeremonieller, zur Gegengabe verpflichtender Gaben, reflektiert Hénaff wirtschaftswissenschaftliche Analysen dieser Art des Schenkens durch G. A. Akerlof und C. F. Camerer und sieht als Kern des Austauschs nicht ein wirtschaftliches Geschehen, sondern gegenseitige Anerkennung und eine Verständigung über die guten Absichten der Beteiligten. In modernen Gesellschaften finde sich das Erbe des zeremoniellen Schenkens »auf der institutionellen Ebene der Rechte.« Er schließt an A. Sen an, der allen grundlegende Rechte auf die Ressourcen zuspricht, die zu einem menschenwürdigen Leben befähigen, und betrachtet die institutionellen, sozialstaatlichen Rahmenbedingungen für die Verwirklichung solcher Rechte und für die Gabe solcher Güter als einen Ausweis des gegenseitigen Respekts und als die Bestätigung der Menschenwürde aller.
Den Abschnitt »Christentum und Sozialstaat« leitet ein luzider Beitrag von Franz-Xaver Kaufmann ein, der nach den christlich-normativen Vorstellungen fragt, die der Gestaltung des Sozialstaates zugrunde liegen, und sich für diese Wertvorstellungen nicht auf das Luthertum oder auch nur das lateinische Christentum beschränkt, sondern bei der jesuanischen Wertschätzung für die Schwachen, der frühkirchlichen Betonung der Würde der Armen, der altkirchlichen Lehre von der zentralen Stellung der Armen und Geringen in der Kirche und bei der Universalität der christlichen Botschaft ansetzt, die »keine prinzipiellen Grenzen der christlichen Liebestätigkeit« gekannt und nicht Sippensolidarität, sondern den Einzelnen ins Zentrum gerückt habe.
Kaufmann ist überzeugt, »dass diese altchristlichen Selbstverständlichkeiten der Anerkennung des Individuums unabhängig von seinem sozialen Rang und des moralischen Universalismus im kollektiven Gedächtnis auch der konfessionalisierten Christentümer der frühen Neuzeit wirksam waren. Sie haben ihren Niederschlag schließlich in der Doktrin der Menschenrechte gefunden, welche heute wohl als einflussreichste moralische Grundlage globalen Zusammenlebens gelten darf«. Kaufmann arbeitet ferner die »Gleichheitsdimension« in den christlichen Gerechtigkeitsvorstellungen heraus, die allein im Okzident zu einer steten Begründungsbedürftigkeit sozialer Ungleichheiten geführt habe, und attestiert der Reformation, sie habe in Einklang mit den wirtschaftlichen Tendenzen des Frühkapitalismus »zu einer Abwertung der Armen geführt«. Luther habe die Wohlfahrtsverantwortung und Sozialfürsorge dem Staat überlassen, Calvin dagegen dessen Verantwortung für die gesellschaftlichen Verhältnisse verneint und stattdessen zur »Verfleißigung der Bevöl-kerung« gemahnt. Für die sozialstaatliche Entwicklung im besonders interessanten Fall Brandenburg-Preußen sei »von einer glücklichen Kombination von calvinisch inspirierter Disziplin und lutherisch inspirierter Sozialverantwortung« auszugehen, unterstützt vom »zur Bejahung der Staatsverantwortung« bekehrten katholischen Zentrum.
Karl Gabriel und Hans-Richard Reuter behandeln das Thema »Sozialstaat und Konfessionen in Deutschland« und untersuchen, inwieweit die gemischtkonfessionelle Religionskultur den deutschen Pfad der Sozialstaatsentwicklung mitgeprägt hat. Sie zeigen eindrücklich, wie viel die weltweit innovative deutsche Sozialpolitik sowohl dem Bemühen um einen Ausgleich der Klasseninteressen als auch der »konfessionellen Spannungslinie« verdanke, die zur wohlfahrtsstaatlichen Kontinuität, zur Vielfalt der Träger und Akteure und zum sozialen Ausgleich erheblich beigetragen habe.
Bo Stråth behandelt »Die kulturelle Konstruktion des Nordens«, das »nordische Modell« für den Aufbau einer guten Gesellschaft, eines »folkhem« (Heim für das Volk). Diese Entwicklung habe viel dem Pietismus und der Erweckungsbewegung des 19. Jh.s zu verdanken, die eine De-Hierarchisierung der Religion gefordert und bewirkt und die gesamte nordische Gesellschaft mit einer individuell-zentrierten protestantischen Ethik durchdrungen habe, die in enger Beziehung zum britischen Pragmatismus und Empirismus stehe.
Wichtiger Träger dieser zum Kompromiss statt zur Polarisierung neigenden Einstellungen seien die Bauern gewesen, die sich den Idealen der Freiheit, Gleichheit, Bildung und politischen Selbstbestimmung verpflichtet gefühlt und für Protest und Reform mit einer in Kirchen- und Glaubensfragen neutralen Arbeiterbewegung verbunden haben. Um 1900 habe sich das Reformbündnis für bessere Lebensbedingungen selber »Volksbewegungen« genannt, und als in Schweden in den 1930er Jahren die Sozial demokraten an die Macht gelangt seien, haben sie das »folk- Konzept« in ihrem Sinne übernommen, fortentwickelt und angesichts der außenpolitischen Bedrohungen zeitweise sogar um »die Idee der Volkskirche als Fusion von Staat und Volk, Religion und Politik« ergänzt, die auch in anderen nordischen Ländern lebendig gewesen sei. Das alles sei aber »nur eine Dimension« einer sozialdemokratisch-utilitaristischen Politik für eine gute, inklusive und friedfertige Gesellschaft gewesen.
Henrik Stenius ergänzt diese Darlegungen mit »Was bedeutet das Leben in der Ein-Norm-Gesellschaft? Das historische Erbe der Symbiose von Kirche und Staat in den nordischen Ländern«. Er unterstreicht die Bedeutung der Symbiose von Staat und lutherischer Kirche in der »Bildungsphase der nordischen Gesellschaft«, aber auch die von unten nach oben wirkende, staatsbildende Kraft des Bildungsbauerntums im 19. Jh., den in gemeinsamen ethischen und religiösen Überzeugungen wurzelnden Glauben an die Möglichkeit fairer und ehrlicher Kompromisse und die gesellschaftlichen Inklusions-Mechanismen Arbeit (statt Wohlfahrtsleistungen), örtliche politische Mitbestimmung, Wehrpflicht und Teilnahme an der Volksbildung.
Philip Manow geht in »Der lange Schatten der Reformation: Der Wohlfahrtsstaat und der Konflikt zwischen Staat und Kirche in Europa« vor allem der »institutionellen Erbschaft des politischen Katholizismus« nach und legt dar, dieser sei je nach den konfessionellen Mehrheitsverhältnissen in der Minderheitenposition re­formorientiert, als Mehrheitsreligion aber antimodernistisch und antirepublikanisch wirksam gewesen, wobei Letzteres mangels Re­formperspektiven starke kommunistische Parteien und Ge­werkschaften auf den Plan gerufen habe – mit weitreichenden Folgen für die politische Ökonomie der betroffenen südeuropäischen Länder.
Im Abschnitt »Neoliberalismus und Sozialstaat« sieht Tuomas Martikainen »Religion und Sozialstaat unter der Vorherrschaft des Neoliberalismus« und wirft die Frage auf, ob die Kirchen ihr Proprium verlieren, wenn sie verstärkt der Logik der Dienstleistungsgesellschaft folgen und ein Anbieter unter vielen werden.
Sodann behandelt Per Petterson »Die Deregulierung des schwedischen Sozialstaats und der Religion«. Er beschreibt die mähliche Scheidung von Staat und Kirche, die Integration der »demokratischen Mehrheitskirche« als Dienstleisterin in das schwedische Sozialwesen und dessen marktförmige Deregulierung seit den 1980er Jahren und fragt, ob sich die ehemalige Staatskirche jetzt nicht stärker und kritischer in innerschwedische Gerechtigkeitsdebatten einbringen müsste und ob ihre Identität dadurch bedroht sein könnte, dass sie als Vertragspartnerin des Staates vielfältigen Pflichten und staatlichen Kontrollen unterliege. Er plädiert dafür, dass die Kirche sich vor allem als Bewahrerin und Wächterin von Menschlichkeit und Solidarität versteht und als Vorreiterin für die Anliegen der Leidenden und Bedürftigen wirkt, was nicht zwingend zu politischen Konflikten führen müsse, jedoch als »Korrektiv und Speerspitze gegenüber dem Staat« unverzichtbar sei.
Mit Blick auf Großbritannien erörtert Peter Taylor-Gooby »Die doppelte Krise des Sozialstaates und Antworten darauf«. Der Sozialstaat gerate zum einen durch die demographisch bedingte Zunahme »alter«, mit dem Altern verbundener sozialer Risiken unter Druck, zum anderen durch »neue«, Erwerbsfähige betreffende Risiken im Gefolge zunehmender Frauenerwerbstätigkeit und sinkender Jobsicherheit. Wer aber im erwerbsfähigen Alter Sozialleistungen erhalte, werde gesellschaftlich minder wertgeschätzt. Dem könne politisch »durch die Festlegung eines Rechts auf Arbeit, durch die Bereitstellung sinnvoller Arbeit für die Betroffenen und durch […] eine größere Demokratisierung der Unternehmen« entgegengewirkt werden.
Ann Shola Orloff stellt unter der Überschrift »Eine gender-offene Zukunft?« dar, wie in den USA und Schweden seit den 1960er Jahren genderspezifische Arbeits- und Sozialrechtsnormen (z. B. des Leitbilds der Hausfrauenehe) abgebaut und genderneutrale Regelwerke und Unterstützungsmechanismen aufgebaut wurden. Sie plädiert dafür, man möge sich »nicht einer unerreichbaren Symmetrie der Geschlechter verschreiben, sondern einen gender-offenen Ansatz verfolgen«, der »verschiedene Möglichkeiten der Umsetzung eines geschlechtergerechten Lebensmodells zulässt.«
Als Coda folgt von Frank Nullmeier der Beitrag »Die Legitimation des Sozialstaates«, der eigentlich am Beginn der Tagung stand und in dem am Schluss des Bandes abgedruckten Kongressbericht von Hans Joachim Schliep zu Recht als ein »Höhepunkt« bewertet wird. Nullmeier fragt, was und wie die protestantische Sozialethik Eigenes zur Legitimation des Sozialstaates beitragen kann. Beim Wie plädiert er gegen die Vorstellung, religiöse Beiträge kirchenseitig in die Sprache säkularer öffentlicher Diskurse übersetzen zu müssen, denn diese Diskurse seien ihrerseits ein Sprachengewirr oftmals quasireligiös fundamentaler Überzeugungen, die dann ja wohl auch übersetzungsbedürftig sein müssten. Richtiger sei es, die Partikularität der unterschiedlichen Sprachen anzuerkennen und gegenseitig die Anstrengung des Einander-Verstehen-Wollens einzufordern. Sodann skizziert Nullmeier die wesentlichen Argumentationsstränge zur Legitimation von Sozialstaatlichkeit und fragt, welchen argumentativen Mehrwert die protestantische Sozialethik entlang dieser Stränge stiften kann. Es sei zu überlegen, »heute eine Sozialethik gerade in enger Anbindung an die Theologie zu formulieren«. Dafür komme es »auf eine Stärkung der theologischen Komponente und Kompetenz der Sozialethik an«. Nullmeier zeigt den Weg dorthin auf anhand einer Besinnung auf die lutherische Rechtfertigungslehre, die Gerechtigkeit Gottes als radikal einsei-tiges, »pures Umsonst« und anhand einer Analyse der Nicht-Re-ziprozität bestimmter Gaben – in deutlichem Unterschied zu Hénaff, und schlägt vor, zur Legitimation des Sozialstaates über Tugend- und Individualethisches hinausreichend »eine Institutionenethik zu entwickeln, die Nicht-Reziprozität stützt«.
Ein Beitrag von Margot Käßmann und Gerhard Wegner über »Die Ursprünge des Sozialstaates in der Reformation und seine christliche Prägung heute« und der schon erwähnte, pointierte Kongressbericht von Hans Joachim Schliep schließen den Band ab.