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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1425–1427

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schneider, Heinrich

Titel/Untertitel:

Europas Krise und die katholische So-ziallehre. Herausforderungen und Reformperspektiven.

Verlag:

Heiligenkreuz: Be&Be-Verlag 2014. 228 S. Kart. EUR 12,90. ISBN 978-3-902694-68-3.

Rezensent:

Arne Manzeschke

Europa steckt in der Krise. Das ist kein neuer Befund, aber diese Krise hat sich in den letzten Monaten offenbar so verschärft, dass der EU-Kommissionsvorsitzende Jean-Claude Juncker von einer gefährlichen »Polykrise« spricht und seine aktuelle Kommission als eine der »letzten Chance« ansieht (vgl. das Interview mit Pierre Moscovici vom 17.2.2016 in der taz). Die Flüchtlingskrise, der Brexit, die Verhandlungen mit der griechischen Regierung über die Rückzahlung ihrer Schulden, die erkennbaren Nationalismen und Populismen – all das sind Anzeichen einer Zerreißprobe, für die aktuell keine rechte Lösung zu erkennen ist.
In dieser Schärfe war die Krise Europas bei Abfassung des hier anzuzeigenden Buchs von Heinrich Schneider so noch nicht ausgeprägt, und doch hat er als langjähriger und ausgewiesener Kenner der Zusammenhänge und Hintergründe auf diese Entwicklung aufmerksam gemacht. Er sieht die Union in einer grundlegenden Orientierungskrise, welche bereits mit ihren Gründungsakten verbunden sei und unter dem Druck der Ökonomisierung immer neue Zentrifugalkräfte freisetze und mittlerweile bei allen Europäern guten Willens Ratlosigkeit und Lähmung hervorrufe. Das Grundproblem der Europäischen Union sei ihre Konstruktion als Wirtschaftsunion, die ohne eine gemeinsame (Wirtschafts-)Politik keinen Zusammenhalt unter ihren Nationalstaaten schaffen könne. Eine Gemeinwohlorientierung, wie sie in der katholischen Soziallehre seit Jahrhunderten theoretisch gut begründet vorliege, könnte in dieser Krise Auswege und Abhilfe leisten, jedoch sei dazu eine »Umkehr« (Fr. Chr. von Weizsäcker; 218) notwendig, gegen die derzeit mehrere Faktoren sprächen, zu der es aber auch keine gute Alternative gäbe.
In einem weiten, gut lesbaren Bogen führt S. die Entwicklung der katholischen Soziallehre und ihre prinzipielle Gemeinwohl-orientierung vor. Entgegen dem römisch-juristischen Verständnis des bonum commune als Durchgriffsrecht des Herrschers zum Zwecke der Durchsetzung staatlicher Zwecke und zur Demonstration seiner Allmacht sei das europäische Gemeinwohlprinzip am aristotelischen Denken orientiert, das zu dem Kriterium zur Beurteilung politischer Ordnungen werde: »Nur die Politordnung, in der die Regierungsgewalt im Dienste des Gemeinwohls ausgeübt wird, ist anerkennungswürdig – wer immer auch die Regierungsaufgaben wahrnimmt« (24). Hier gelte, was später vom Aquinaten unterstrichen worden sei, der »Vorrang des Ganzen vor den Gliedern« (25, vgl. Summa Theol. II–II, 58, 5).
Die ältere Gemeinwohllehre habe durch kircheninterne wie auch -externe Kritik eine Neukonturierung seit dem 19. Jh. erfahren, in der personale Momente und Rechte deutlicher akzentuiert und mit der Gemeinwohlorientierung koordiniert würden. Angesichts immer komplexer werdender Staatengebilde (communitates) gelte für die Politik die Leitfrage, ob sie gemeinwohlförderlich oder -hinderlich ausgelegt werde. Für die EU sei zu konstatieren, dass sie bei den beobachtbaren Interessenkonflikten noch keine Gemeinschaft sei und ein entsprechendes Bewusstsein institutionell ge­rahmt erst geschaffen werden müsse, um aus diesem Bewusstsein heraus eine praktische Gemeinwohlorientierung zu realisieren.
S. muss nun jedoch zugestehen, dass die starken Impulse der katholischen Soziallehre aus den 1950er Jahren für ein geeintes Europa heute nicht in gleichem Maße ihre Wirkung entfalten. Er erklärt das damit, dass einerseits das Zweite Vatikanische Konzil eine gewisse Skepsis gegenüber der naturrechtlichen Verankerung mit sich gebracht und so zu einer inhaltlichen Abschwächung und kirchlichen Zurückhaltung geführt habe, andererseits die Erweiterung des weltkirchlichen Fokus im Zuge der Globalisierung die europäischen Fragen neu kontextualisiert habe. Ein Momentum, das angesichts der Flüchtlingskrise seine Evidenz eindrücklich, wenngleich auch deprimierend unter Beweis stellt.
Wirtschaftsethisch interessant ist die starke Kritik an Ökonomismus und Neoliberalismus, die allein durch andere geistige Grundlagen und eine soziale Einbettung überwunden werden könnten. S. wirbt mit diesem Buch – und auch seinem Leben – unbeirrt für diese inhaltliche Erneuerung und Weiterentwicklung des Europäischen Staatenbundes. Zu Recht weist er auf die mehrfachen europapolitischen Einlassungen Jürgen Habermas’ hin, der bereits vor Papst Franziskus in Kritik und Konstruktion den Weg zu einer gemeinwohlorientierten Union gewiesen hat. Leider unterschlägt er – trotz eines so überschriebenen Kapitels – »die evangelischen und anderen Ideen zur europäischen Einigung« (z. B. Aktivitäten der GEKE und EKD). Das Gemeinwohl als Ziel pluraler Gesellschaften bedarf einer weltanschaulichen Basis, aber die ist heute wohl nur plural zu haben und auf dem Wege eines demokratischen Verständigungsprozesses – so mühsam der auch ist. Zweifelsohne stellt die katholische Soziallehre hier eine wichtige mentale Ressource dar. Allerdings erscheint mir ihre Reichweite dort größer, wo sie sich mit Konzepten, Aktionen und Argumenten verbündete, die den gleichen Fluchtpunkt haben.