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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1067–1069

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Köhler, Wiebke

Titel/Untertitel:

Rezeption in der Kirche. Begriffsgeschichtliche Studien bei Sohm, Afanas’ev, Dombois und Congar.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 180 S. gr.8 = Kirche und Konfession, 41. Kart. DM 58,-. ISBN 3-525-56545-3.

Rezensent:

Günther Gaßmann

Über seinen ursprünglichen rechtshistorischen und kanonistischen Bereich hinaus ist "Rezeption" in den letzten Jahrzehnten zu einem vielbenutzten Begriff und Konzept in den verschiedenen Wissenschaften und bis hinein in den allgemeinen Sprachgebrauch geworden. Alles mögliche wird auf alle mögliche Weise rezipiert, und Rezeptionsprozesse umgeben uns auf allen Seiten. Begriffliche Klärung ist also notwendig, gerade auch angesichts der neueren und breiten Verwendung des Rezeptionsbegriffs in kirchenrechtlichen, theologischen und vor allem ökumenischen Zusammenhängen. Solche Klärung ist im Blick auf den Zusammenhang von Konzil und Rezeption weit vorangeschritten (vgl. den Überblick bei Gilles Routhier, La réception d’un concile, Paris: Les Editions du Cerf 1993). Zur Näherbestimmung von Rezeption in ökumenischen Konvergenz-, Konsens- und Übernahmeprozessen sind in jüngster Zeit viele Arbeiten erschienen, ebenso zur Diskussion in der römisch-katholischen Kirche und zur kirchenrechtlichen Bearbeitung des Themas.

Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zur Klärung des Begriffs der Rezeption nun auch für den bislang sehr zurückhaltenden evangelischen Bereich leisten. Sie wurde im WS 1994/95 als Dissertation der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster vorgelegt. Die Vfn. weiß um die breite ökumenische Diskussion, bezieht diese aber nicht mit ein und konzentriert sich stattdessen auf einige wenige Kirchenrechtler und Theologen, in deren Werk sich kirchenrechtliche und theologische Erwägungen zum Rezeptionsbegriff verbinden. Dabei will sich die Vfn. auf den Begriff und seine Verwendung, auf eine Begriffsgeschichte des theologischen Rezeptionsbegriffs konzentrieren. Sie sieht den Beginn dieser Geschichte bei Rudolf Sohm. Das Kapitel über Sohm nimmt den breitesten Raum in der Arbeit ein, da die Vfn. sein Verständnis von Rezeption vom umfassenderen Zusammenhang seiner rechtswissenschaftlichen, kirchengeschichtlichen, ekklesiologischen und pneumatologischen Aussagen und vom Beziehungsgeflecht von Recht und Staat, Geist und Kirche her analysiert. Auf dem Hintergrund der Aporien von Geist und Recht, charismatischer und formaler Autorität, Kirchenrecht und Wesen der Kirche wird die Leistung Sohms in der Entwicklung des Rezeptionsbegriffs von einem rechtshistorisch und rechtsphilosophisch geprägten Begriff hin zu einem ekklesiologisch und pneumatologisch bestimmten kirchenrechtshistorischen und theologischen Begriff gesehen. Allerdings ist für Sohm mit der Durchsetzung des römischen Rechts im kanonischen Recht die Zeit der Rezeptionsvorgänge vorbei.

Wesentlich kürzer wird das Verständnis von Rezeption bei zwei Theologen und einem Kirchenrechtler in diesem Jahrhundert behandelt. Alle drei haben das Werk Sohms gekannt. Die dadurch gegebenen Beziehungen werden durchgehend in der Form von Vergleichen aufgenommen. Kurze Überblicke über die Ekklesiologie von A. S. Chomjakow und den Begriff "Sobornost" beschreiben die Voraussetzungen für den Rezeptionsbegriff des russisch-orthodoxen Theologen Nikolaj Afanas’ev (1893-1966), die dieser im Rahmen seiner "eucharistischen Ekklesiologie" weiterführt. Rezeption ist bei ihm u. a. Korrespondenz und Zusammenwirken der Charismen innerhalb der Ortskirchen und Form der Kommunikation der Ortskirchen untereinander und damit Ausdruck von deren Einheit.

Nach einer ausführlicheren Darstellung der Kirchenrechtstheorie des evangelisch-lutherischen Kirchenrechtlers Hans Dombois (geb. 1907) wird gezeigt, wie er Rezeption (oft in der Verbindung von receptio und traditio) als einen kirchenrechtlichen und handlungstheoretischen "Grundbegriff" versteht. Rezeptionsvorgänge vermitteln im Beziehungsfeld des Wirkens des Heiligen Geistes und des auf Offenbarung sich beziehenden Konsensus der Kirche die wechselseitige Anerkennung geistlicher Entscheidungen.

Yves Congar (1904-1995), der große katholische Ekklesiologe und Ökumeniker, hat sich mit einem einzigen Aufsatz "Die Rezeption als ekklesiologische Realität" (1972) einen Stammplatz in vielen Arbeiten zur Rezeptionsthematik erschrieben. Die Vfn. führt auch hier mit einer ausführlicheren Einleitung, in der sie das Verständnis von Rezeption im kanonischen Recht und A. Grillmeiers Aufsatz "Konzil und Rezeption" (1970) beschreibt, hin zum Rezeptionsverständnis Congars. In kritischer Durchsicht traditioneller, zumeist kanonistischer Rezeptionstheorien sieht Congar im Rahmen seiner Communio-Ekklesiologie den Ort der Rezeption in der Lehre von der Kirche, im Zusammenwirken des Heiligen Geistes mit den von Christus gestifteten Strukturen und in der Beteiligung aller Gläubigen, so daß durch Rezeption Einmütigkeit (Konsens und communio) in jeder Ortskirche und in der Gemeinschaft der Ortskirchen erreicht wird.

Im abschließenden "Fazit" faßt Wiebke Köhler die Rezeptionsbegriffe der vier "Hauptpersonen" (und von Grillmeier) noch einmal zusammen, und zwar unter der übergreifenden Frage nach dem Verhältnis der kirchenrechtlichen zu systematisch-theologischen Bestimmungen von Rezeption. Dies wird begleitet von der Frage, wie die Ansätze bei Sohm von den anderen drei Autoren weiterentwickelt worden sind. Zwei weitere Unterabschnitte behandeln die grundlegende Rolle der Pneumatologie und der Ekklesiologie im Verständnis von Rezeption bei den vier Autoren. Kritisch vermerkt die Vfn., daß keine der vorgestellten Darstellungen auf die Gefährdung von Rezeptionsprozessen durch die Sünde der Menschen eingeht. Schließlich wird noch einmal die Rolle des Geschichtsverständnisses für den Weg hin zur systematisch-theologischen Interpretation von Rezeption bei den vier Autoren kurz umrissen und die Notwendigkeit der Weiterarbeit am theologischen Rezeptionsbegriff unterstrichen.

Die Stärke dieser Arbeit ist zugleich ihre Schwäche. Es ist beeindruckend, wie die Vfn. immer wieder kirchenrechtsgeschichtliche, rechtswissenschaftliche, kirchenrechtstheoretische, kirchengeschichtliche, ekklesiologische, pneumatologische und andere Sachgebiete als Einführung, Rahmen und ständig gegenwärtigen und einbezogenen Interpretationskontext für die Darstellung des Themas der Rezeption heranzieht. Das ist methodologisch für Klärung und Verstehen hilfreich. Doch diese "Nebenthemen" der Arbeit geraten so ausführlich im Verhältnis zur jeweiligen Darstellung des Hauptthemas der Rezeption und unterbrechen diese Darstellung auch ständig, so daß ein nicht angemessenes Ungleichgewicht entsteht (bei Sohm machen die Ausführungen zur Rezeption etwas mehr als die Hälfte des Kapitels aus, bei den anderen weniger als die Hälfte der betr. Texte). Darunter leiden dann auch die Referate des Rezeptionsbegriffs bei den vorgestellten Autoren, besonders bei Sohm, die z. T. recht kurz und summarisch geraten sind. Hier wäre eine stärkere und etwas ausführlichere Konzentration auf das Hauptthema hilfreich gewesen. Doch die Arbeit von Wiebke Köhler ist, soweit ich sehe, die erste umfassendere evangelische Arbeit zum theologischen Rezeptionsverständnis und in dieser Perspektive kann das kluge und mit Aspekten und Gedanken vollgepackte Buch nur dankbar begrüßt werden.