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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1417–1419

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ward, Graham

Titel/Untertitel:

How the Light Gets In. Ethical Life I.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2016. 392 S. Geb. £ 30,00. ISBN 978-0-19-929765-8.

Rezensent:

Ulrich Schmiedel

»There is a crack in everything, that’s how the light gets in.« Um die Risse, von denen Leonhard Cohen in seinem »Anthem« singt, geht es in Graham Wards hier zu besprechendem Buch. W., Regius Professor of Divinity an der University of Oxford, stellt darin ein interdisziplinäres Modell Systematischer Theologie vor, das die Disziplin der Dogmatik auf christliche Praktiken innerhalb und außerhalb der Kirche(n) ausrichtet: »The Latin doctrina is a process, a practice […] of making someone learned« (45). Seine Antwort auf die Frage, wie Gottes Licht in diese Praktiken fällt, ist der Ausgangspunkt für eine auf vier Bände angelegte Dogmatik, die W. als »en-gaged systematics« (123) ausweist. How The Light Gets In stellt Kontext, Konzeption und Konsequenzen dieser Dogmatik dar, die zu mehr methodischen und thematischen Innovationen anregt, als in einer kurzen Rezension angesprochen werden können.
Zunächst untersucht W., wie sich die Disziplin der Dogmatik seit den Formulierungen des Credos verändert hat. Worauf es ihm bei dieser Untersuchung ankommt, ist Praxis. Laut W. verdeutlicht die Theologiegeschichte, die er anhand ausgewählter Beispiele bis zu Philipp Melanchthons Loci communes analysiert, dass Theologie nicht von den kulturellen Praktiken getrennt werden kann, in denen sie erarbeitet wird. Die Theologie wirkt auf die Lebenswelt und die Lebenswelt wirkt auf die Theologie – Wechselwirkungen, die sich bis in die biologische Konstitution des Menschen nachverfolgen lassen. »This process of cultural formation will become central to this project as a whole because it involves the way discursive activities embed values. An engaged systematic theology is an embedded and embedding theology. This will be one of its operational keys for the cultivation of ethical life« (135). Wenn es der Dogmatik um Jesus Christus geht, dann muss sie auf die Praktiken einwirken, in denen Menschen ihr Leben führen; nur so können diese Praktiken auf Jesus Christus ausgerichtet werden. Hier liegt der gleichermaßen deskriptive wie präskriptive Anspruch von W.s Dogmatik: Es geht Theologie als christlicher Praxis (und christlicher Praxis als Theologie) einerseits darum, die Welt zu verstehen, und andererseits darum, die Welt zu verändern. Als »pedagogy« (139) ist Dogmatik gleichzeitig »created« und »creative«, weil sie auf Gottes Offenbarung antwortet: »It is an understanding of this prior speaking that makes theological discourse distinctive. Theology would then begin with ›deep listening‹ (which could be a transla-tion of the Latin ab audere from which we get the word ›obedience‹).« (160)
Dass sich Risse durch die kulturellen Praktiken ziehen, durch die Gottes Licht in die Welt fällt, erläutert W. unter Rekurs auf die Phänomenologie Maurice Merleau-Pontys. Man muss sich nur vergegenwärtigen, was man wahrnimmt, wenn man einen Würfel sieht, um W.s Grundgedanken zu verstehen. Genau genommen lassen sich nur drei Seiten des Würfels gleichzeitig sehen. Aber weil man weiß, dass ein Würfel sechs Seiten hat, ergänzt man in der Wahrnehmung des Würfels das, was man nicht sieht: »perceptual faith« (229). Zwar erläutert W., dass Merleau-Ponty nichtreligiöse und religiöse Transzendenz voneinander trennt, aber er gibt sich mit dieser Trennung nicht zufrieden. Ob religiös oder nichtreligiös, »perceptual faith« ist nach oben offen. Dieser Offenheit, deren Wahrnehmung im Glauben pädagogisch und performativ geschult werden muss, versucht W. im Gespräch mit Anselm von Canterbury auf die Spur zu kommen. Laut W. ist die Analogie, die gleichzeitig die Trennung sowie die Nicht-Trennung von Immanenz und Transzendenz ausdrückt, entscheidend für Anselms Definition der Theologie als Glaube, der sich selbst zu verstehen sucht. Im Rekurs auf aktuelle kultursoziologische und kulturphilosophische Analysen erklärt W., wie sich die Bedingungen für diesen Glauben seit Anselm verändert haben. Dabei nimmt er das semantische Spektrum von Glaube unter den Bedingungen der Postmoderne in den Blick: Anstelle der Kritik der Religion durch die Vernunft (und der Kritik der Vernunft durch die Religion) werden Glaubende in postsäkularen Gegenwartsgesellschaften mit der Konkurrenz von verschiedenen teils säkularen teils sakralen Glaubensweisen konfrontiert. Theologie soll den christlichen Glauben unter diesen Bedingungen glaubhaft machen, weil der Glaube entscheidend für die Ausrichtung kultureller Praktiken ist. »Believing matters; right believing matters even more« (284). Hier geht es um das, was W. auf den Begriff der Sittlichkeit zu bringen versucht. Mit »Sittlichkeit [ Ethical Life]« ist das abschließende Kapitel überschrieben, in dem W. eine Relektüre von Georg F. W. Hegels System der Sittlichkeit vorlegt. Er verknüpft Physik und Metaphysik zu einem Plädoyer für einen trinitarischen Panentheismus, dessen spekulative Höhen selbst Hegel ein Staunen abgerungen hätten. Der Grundgedanke, den er dabei ausbuchstabiert, ist die Antwort auf die Frage, wie Licht ins Dunkel kommt. Die Inkarnation Gottes in Jesus Christus ist das, was Leben zum Leben macht. Und durch die Risse, die sich durch die Praktiken gelebten Lebens ziehen, fällt das Licht dieser Inkarnation: »Theology as prayer issues from and returns to the a divine rhythm running throughout incarnation of emptying ( kenosis) and filling (pleroma); that circulation of grace which is life in Christ: from the fullness of His divinity we are continually being filled. As such, I say again, we are all theologians« (205).
Zweifellos gehört W. zu den innovativsten und instruktivsten Theologen der Gegenwart. Die Bandbreite aktueller natur- und kul­turwissenschaftlicher Debatten, die er in seiner Dogmatik aufgreift, ist atemberaubend. Weder Blaise Pascal noch Blair Witch Project sind vor seinen poststrukturalistischen Interpretationen sicher, die oft zu erstaunlichen Ergebnissen führen. Dass er dabei auf Primär- und Sekundärliteratur in mehr als sechs Sprachen zurückgreifen kann, lässt auch manchen orthographischen Fehler verzeihen. Man darf aber nicht unterschlagen, was W. unter Interdisziplinarität versteht: Wissenschaften im Dienst der Theologie statt Theologie im Dienst der Wissenschaften. Seine Ausrichtung des Christentums auf das Dogma der Inkarnation beispielsweise wird weder durch die natur- noch durch die kulturwissenschaftlichen Disziplinen infrage gestellt, die W. heranzieht. Dass diese Disziplinen die (neu)platonische Metaphysik untermauern, die sich durch seine Dogmatik zieht, ist verblüffend. W. scheint schon zu wissen, was die Wissenschaften über die Welt sagen, bevor er sie befragt: »life, the life of all things, is suspended in the loving grace that created us« (290). Aber wenn sich die Bedingungen, unter denen in der Gegenwart geglaubt oder nicht geglaubt wird, so radikal verändert haben, wie W. annimmt, dann müssten sich diese Änderungen doch auch auf die Ausrichtung des Christentums auswirken. Obwohl die Verortung der Dogmatik in kirchlichen und nichtkirchlichen Praktiken einleuchtet, wäre die – klassisch von Johann Salomo Semler konzipierte – Unterscheidung der Theologie von der religiösen Praxis (und der religiösen Praxis von der Theologie) instruktiv, um Distanz von diesen Praktiken zu gewinnen. Denn diese Distanz erlaubt es erst, kritisch und konstruktiv mit den Praktiken umzugehen, die vom Licht der Gnade Gottes erhellt werden sollen.
Obwohl W. die ursprünglich auf Semler zurückgehende Unterscheidung ablehnt, darf man auf die folgenden Bände seiner am-bitionierten Dogmatik gespannt sein. Denn wo und wie auch immer Gottes Licht ins Dunkel fällt – die Bedeutung dieses Lichts muss sich in den Praktiken zeigen, in denen Menschen ihr Leben führen.