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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1415–1417

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Thiselton, Anthony C.

Titel/Untertitel:

Systematic Theology.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2015. XIV, 453 S. Geb. US$ 40,00. ISBN 978-0-8028-7272-2.

Rezensent:

Christoph Raedel

Obwohl nicht durch einen Untertitel ausgewiesen, handelt es sich bei dem vorliegenden Band dem Vorwort zufolge um ein Lehrbuch. Lässt sich das Werk hintergründig auch als reife Frucht eines Forscherlebens verstehen, so ist es doch in erster Linie von dem Anspruch her zu lesen und zu beurteilen, als handliches, einbändiges Lehrwerk in Gebrauch genommen zu werden. Im Blick auf den Autor ist dabei anzumerken, dass Anthony C. Thiselton sowohl in der Systematischen Theologie als auch der neutestamentlichen Wissenschaft zuhause ist.
In 15 Kapiteln – darin der durchschnittlichen Wochenanzahl eines Semesters entsprechend – werden die Loci der Dogmatik abgeschritten, wobei jedes Kapitel für sich noch einmal in je fünf Teile untergliedert ist. In seinem Grundriss folgt der Band dem traditionellen Aufbau der Dogmatik, doch setzt der Vf. durch Schwerpunktsetzungen auch eigene Akzente. Wie bei einem in der Hermeneutik so versierten Autor wie Thiselton kaum anders zu erwarten, werden Fragen der dogmatischen Methode und des Status theologischer Aussagen eingehend verhandelt (Kapitel I). In kurzen und raschen Sequenzen – die auch für die weiteren Kapitel charakteristisch bleiben – werden erkenntnis- und wahrheitstheoretische sowie geschichts- und sprachphilosophische Entwürfe bis in die Gegenwart hinein vorgestellt. Pannenberg, Kierkegaard, Barth, Jüngel, Austin, Searle, Ricœur und W. Iser – mit allen diesen Namen und ihren fundamentaltheologischen bzw. hermeneutischen Beiträgen macht der Leser bereits im ersten Kapitel Bekanntschaft. Weil es philosophisch aber zugleich das anspruchsvollste Kapitel ist, empfiehlt der Vf. im Vorwort, das erste Kapitel ggf. an den Schluss der Lektüre zu setzen, was m. E. in den niederen Semestern auch ratsam ist. Weitere eigene Akzente setzt der Vf. mit dem vierten Kapitel (»The Challenge of Atheism«) sowie einer für die abendländische Dogmatik ungewöhnlich breiten Entfaltung der Pneumatologie (Kapitel XI und XII). Weil es in der Besprechung eines Lehrbuchs nicht darum gehen kann, die vielen unvermeidlichen Auswahlentscheidungen des Vf. im Einzelnen unter die Lupe zu nehmen, möchte ich vielmehr einige Charakteristika des Bandes hervorheben.
Kennzeichnend für diesen Band ist erstens die biblisch-theologische Grundlegung der dogmatischen Topoi in Verbindung mit (fast enzyklopädisch anmutenden) theologiegeschichtlichen Überblicken. Was die exegetischen Fundierungen angeht, gibt der Vf. einer bewährten Tradition anglikanischer Theologie die Ehre, in der gewissenhaften Skizzierung theologiegeschichtlicher Entwicklungen dürfte das Vorbild des vom Vf. sehr geschätzten Systematikers W. Pannenberg nachwirken. Konkret bedeutet dies: Der Vf. entwickelt die Loci der Dogmatik im beständigen Gespräch mit den Bibelwissenschaften, wobei vornehmliche Berücksichtigung die sehr lebendige angelsächsische Diskussion findet. Für eine Systematische Theologie (dieses Umfangs) vergleichsweise breit ausgearbeitet werden von daher u. a. die biblischen Termini zur Sün-denlehre, zur Christologie und Versöhnungslehre. Auch finden – durchaus detailreich – das gesamtbiblische Zeugnis vom Gottesgeist und der Schriftbefund zu den »letzten Dingen« (einschließlich der Fragen eines Millenniums) Beachtung. Die Fülle an theologiegeschichtlichem Material zu verarbeiten, gelingt in den einzelnen Kapiteln unterschiedlich gut. Gelungen scheinen mir z. B. die Entfaltung der mit der Religionskritik verbundenen Entwicklungen (Kapitel IV) sowie die Einführung in die Christologie (Kapitel VIII und X), wo der Vf. teilweise auch stärker thematisch als an Autoren orientiert arbeitet. Dagegen wird der Raum in der Entfaltung der Versöhnungslehre (Kapitel IX) erkennbar knapp. Barths Versöhnungslehre wird in fünf Zeilen skizziert, was kaum mehr als eine Einladung sein kann, sich am Original kundig zu machen. Gelegentlich gerät ein Abschnitt so kurz, dass ein Theologe zwar in der Zwischenüberschrift genannt, aber gar nicht besprochen wird (vgl. Losky auf 310).
Ein weiteres Kennzeichen dieses Lehrwerks ist die Betonung theologischer Konvergenzen. Der Vf. lässt zwar durch Auswahl und Schwerpunktsetzungen eigene Präferenzen erkennen, hält sich im Blick auf kritische Bewertungen jedoch weitgehend zurück. Gelegentlich wird Skepsis sichtbar (so im Blick auf Schleiermachers Sündenverständnis), vereinzelt auch explizite Kritik (so z. B. gegenüber dem Dispensationalismus, der Fegfeuerlehre oder der Überbetonung der Glossolalie in der Pfingstbewegung). Doch dominiert im Ganzen die Tendenz, von einer letztlichen Konvergenz unterschiedlicher Deutungsansätze auszugehen. So kommen in Kapitel I Barth und Pannenberg zum Status theologischer Aussagen zu Wort mit dem Ergebnis, dass ihre widerstreitenden Überzeugungen zum Verhältnis von Glaube und Vernunft letztlich die notwendigen zwei Seiten ein- und derselben Medaille seien. Auch in der Sünden- sowie der Versöhnungslehre wird das Material der Theologiegeschichte als ein am ehesten komplementär zu verstehender Reichtum der Deutungen vorgestellt. Wo Luther und Calvin nacheinander besprochen werden, zeigt sich das Interesse an der Gewinnung einer gesamtreformatorischen Perspektive. Bei aller Zurückhaltung im Urteil dürfen gleichwohl unter den neueren Autoren Pannenberg, Moltmann, Ricœur und Wittgenstein als Favoriten des Vf.s gelten.
Ein dritter Grundzug des Werkes ist das explizit hermeneutische Anliegen, das in kenntnisreicher Bezugnahme auf die englisch- und deutschsprachige Diskussion zum Tragen kommt. Der Vf. markiert immer wieder die Aufgabe der Dogmatik, theologische Aussagen als Schlüssel zum gegenwärtigen Verstehen der menschlichen Wirklichkeit zu entfalten. Das kann im einen Fall bedeuten, den biblischen Sachgehalt z. B. der Rede von der Sünde in existentielle Erfahrungsmuster einzuschreiben (wie es Pannenberg und Tillich tun, die vom »Elend« bzw. der »Entfremdung« des Menschen sprechen), im anderen Fall kann das aber auch heißen, z. B. die Rede vom (Sühne-)Opfer nicht unter Hinweis auf Verständnisbarrieren preiszugeben, sondern vielmehr die überlieferte Redeweise kritisch zu sichten, die Opfermetaphorik dann aber auch weiterhin in den Dienst eines theologisch vertieften Verständnisses von Gottes Versöhnungshandeln zu stellen.
Schließlich ist auf die Betonung der pastoralen Dimension der Dogmatik in diesem Band zu verweisen. Immer wieder markiert der Vf., welche Bedeutung theologische Aussagen für das Leben als Christ haben. Dabei wird die geistliche Bedeutung nicht einfach der theologischen Diskussion angehängt, sondern aus der Sache selbst heraus erhoben (vgl. zur Trinitätslehre: 36). Besonders ernst zu nehmen ist der in Kapitel I zu findende Hinweis auf die für das Studium der Theologie notwendigen Tugenden, nämlich »patience and broad interests, as well as […] humility, self-improvement, and prayer« (15).
Wenn es auch unvermeidlich ist, sich als Autor eines einbändigen Lehrbuchs mit vorgegebenem Umfang den damit eng gesteckten Grenzen zu beugen und mit zum Teil rigiden Straffungen zu arbeiten, so bleiben doch Anfragen an einige der vom Vf. getroffenen Grundentscheidungen. So werden m. E. grundlegende Verhältnisbestimmungen wie die von Gesetz und Evangelium oder Rechtfertigung und Heiligung nicht näher bedacht, die (durchaus strittige) Formel Luthers vom simul iustus et peccator wird nur am Rande erwähnt. Auch die Prädikate der Kirche werden auf einer halben Seite lediglich angedeutet, während die Angelologie in den Stufen ihrer Ausbildung differenziert nachgezeichnet wird. Un­günstig (wenn auch nicht unmöglich) scheint mir auch, die Auferweckung Jesu nicht in der Christologie, sondern erst der Eschatologie zu verhandeln.
Dennoch bleibt festzuhalten: Mit seiner Systematic Theology hat der Vf. ein Lehrbuch vorgelegt, das den damit bezeichneten An­spruch im Ganzen überzeugend einlöst. Der Leser wird in Grundentscheidungen der Dogmatik eingeführt und zugleich angeleitet, anhand der so gewonnenen Einsichten zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Der Möglichkeit zur vertiefenden Weiterarbeit dienen die Bibliographie sowie mehrere sehr umfängliche Indizes. Dem Buch ist daher eine weite Verbreitung im Theologiestudium an staatlichen und nichtstaatlichen Hochschulen zu wünschen.