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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1408–1409

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Tetens, Johann Nikolaus

Titel/Untertitel:

Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Kommentierte Ausgabe. Hrsg. v. U. Roth. u. G. Stiening.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XXXIV, 930 S. = Werkprofile, 5. Geb. EUR 159,95. ISBN 978-3-11-037248-9.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Wenn man Johann Georg Hamann in diesem Fall trauen darf, dann hatte Immanuel Kant, während er an seiner »Kritik der reinen Vernunft« arbeitete, die »Philosophische[n] Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung« von Johann Nikolaus Tetens (1736–1807) auf dem Schreibtisch liegen. Unbestreitbar ist jedenfalls das Interesse, das Kant diesem »Selbstdenker« (Max Wundt) der deutschen Aufklärung in Anknüpfung und Widerspruch zuteil werden ließ. Allerdings hatte T. für die aneignende Aufmerksamkeit dieses Rezipienten den Preis zu bezahlen, dass er wirkungsgeschichtlich bald ganz in den Schatten des großen Königsbergers zurücktreten musste. Selbst sein mit den »Philosophische[n] Versuche[n]« vorgelegtes Hauptwerk, das einen der wichtigsten Beiträge zu der in der Spätaufklärung geführten anthropologischen Modedebatte bereitstellte, fiel alsbald dem Strudel des Vergessens anheim.
Nach mehrjährigen Vorarbeiten konnte T. sein opus magnum zur Herbstmesse des Jahres 1777 der Öffentlichkeit übergeben. Kurz zuvor hatte er seine philosophische Professur an der mecklenburgischen Akademie in Bützow gegen einen Lehrstuhl an der Universität Kiel eingetauscht. Mit der 1789 vollzogenen Übersiedlung nach Kopenhagen änderte sich dann auch die berufliche Ausrichtung: Nun ließ T. sein Engagement in theoretischer Philosophie praktisch werden und kümmerte sich fortan bevorzugt um Deichbautechnik (»Reisen in die Marschländer an der Nordsee zur Beobachtung des Deichbaus«, 1788), maritimes Kriegsrecht (»Betrachtungen über die gegenseitigen Befugnisse der kriegsführenden Mächte und der Neutralen auf der See«, 1802) und staatliche Witwenversorgung (»Nachricht von dem Zustande der allgemeinen Wittwen-Casse zu Copenhagen«, 1803).
Dass die kapitale Fundamentalanthropologie von T. nun erstmals in einer vollständigen Neuedition vorliegt, erscheint aller Achtung und Ehre wert. Dieses Werk ist den englischen Aufklärungsphilosophen John Locke und David Hume nicht allein problemgeschichtlich verpflichtet, sondern ebenso auch in seiner literarischen Form: Gemäß der Tradition des englischen Essays reiht T. 14 »Versuche«, mithin relativ selbständige, jeweils in sich geschlossene Reflexionsprotokolle aneinander, deren fulminanter Umfang insbesondere daraus zu erklären ist, dass ihr Verfasser nicht bloß die Ergebnisse, sondern auch den Entstehungsprozess seiner Einsichten mitteilt. In methodischer Hinsicht erhebt T. den stolzen Anspruch, mit dem von ihm gewählten, den zeitgenössischen Naturwissenschaften entlehnten beobachtend-empirischen Verfahren eine gleichsam more geometrico begründete Wahrheitsgewissheit gewährleisten zu können.
Die ersten vier »Versuche« widmen sich den elementaren Tätigkeiten der Seele im Erkenntnisvorgang (Vorstellen; Empfinden; »Gewahrnehmen«; Denkkraft). Danach erörtert T. die Wirkungen dieser Seelenvermögen sowie die Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen und durch die sie sich trotz des ihnen gemeinsamen Grundvermögens gleichwohl unterscheiden lassen; das Letztere, meinte T., werde schon darin offenkundig, dass sich die mentalen Fähigkeiten des Menschen mitunter gegenseitig im Wege stehen. Besondere thematische Vertiefung erfahren sodann die im 18. Jh. breit erörterte Sprachfähigkeit des Menschen (11. Versuch), das Problem der Willensfreiheit (12. Versuch), das seinerzeit ebenfalls intensiv erörterte Leib-Seele-Verhältnis (13. Versuch) sowie, nun in geradezu monographischem Zuschnitt, die dem Menschen zugeschriebene physiologische und kulturgeschichtliche Perfektibilität (14. Versuch), deren philosophische Erkundung, wie T. in seiner »Vorrede« mitteilt, »gewissermaßen das Ziel« ausmache, »wohin die meisten der vorhergehenden Betrachtungen zusammen laufen« (13).
Die Edition wird von einer knappen, präzisen »Einführung« der beiden Herausgeber eröffnet (XIX–XXXI). Sie umreißt die Bedeutung und Struktur des gigantischen Werkes, wohingegen der auch biographisch interessierte Leser allein mit der am Ende beigefügten »Zeittafel« (899 f.) vorliebzunehmen hat. Die Textdarbietung ist verlässlich, die Paginierung der Originalausgabe jederzeit ersichtlich. Vielleicht hätte man noch durch eine tabellarische Auflistung ausweisen können, welche »offensichtlich[en] Druckfehler stillschweigende Verbesserungen« (XXXI) erfuhren. Der »historische Kommentar« (ebd.) bietet in Wirklichkeit weitgehend lediglich literarische oder historische Nachweise und firmiert in der Durchführung darum weit treffender und bescheidener unter der Überschrift »Erläuterungen« (825–896). Das angefügte Verzeichnis der Quellen- und Forschungsliteratur (903–921) ist, obschon es noch einen gründlichen Korrekturdurchgang verdient hätte, ebenso nützlich wie das knappe Personen- und Sachregister (923–930), dem eine mit dem ausführlichen Inhaltsverzeichnis (VII–XVI) korrespondierende Benutzung empfohlen sei.
Die »Philosophische[n] Versuche« von T. markieren eine bedeutende Etappe der spätaufklärerischen, in vielem auf Kant hinführenden Erkenntnistheorie, Psychologie und Anthropologie. Die verdienstvolle Neuedition ermöglicht es nun auf kommode Weise, dieses epochale Werk aus dem Schatten des Königsbergers wieder in das ihm gebührende Licht zu rücken. Was ein anonymer Rezensent dem von T. vorgelegten opus magnum einst zuerkannte, gilt nicht minder für die jetzt verfügbare Neuausgabe: »Unstreitig ein Werk, welches sich den Beifal [!] aller Kenner erwerben wird!«