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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1406–1408

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Straßheim, Jan

Titel/Untertitel:

Sinn und Relevanz. Individuum, Interaktion und gemeinsame Welt als Dimensionen eines sozialen Zusammenhangs.

Verlag:

Wiesbaden: Springer Verlag 2015. X, 366 S. = Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Kart. EUR 49,99. ISBN 978-3-658-06568-3.

Rezensent:

Christoph Seibert

Bei diesem Buch von Jan Straßheim handelt es sich um eine am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin angefertigte Dissertation. Ihr Gegenstand ist die soziale Verfasstheit menschlichen Lebens, die allerdings nicht in einer sozialwissenschaftlich-empirischen, sondern in einer philosophisch-kategorialen Perspektive untersucht wird, deren theoretischen Bezugspunkt die phänomenologische Sozialphilosophie von Alfred Schütz bildet. Das macht sie insbesondere für systematisch-theologisch, aber auch für praktisch-theologisch interessierte Leserinnen und Leser interessant.
Die Problembestimmung der Arbeit setzt bei der alltäglichen Wahrnehmung an, dass die soziale Realität, deren Einheit im Handeln stillschweigend unterstellt wird, sich beim näheren Hinsehen als ein prozessuales Gefüge zeigt, das von erheblichen Spannungen geprägt ist. Diese Spannungen bilden natürlich kein bloßes Oberflächenphänomen eines von ihnen gleichsam unbenommenen Fundaments, sondern sind selbst schon konstitutiv für die Dynamik sozialer Prozesse, wie etwa die Beziehung zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen Individuum und Gemeinschaft. Die Arbeit nimmt ihren Ausgang bei solchen unhintergehbaren Spannungsverhältnissen. In den Blick gerät in ihr allerdings keine zweistellige, sondern eine dreistellige Relation, nämlich die Beziehung zwischen drei gleichursprünglichen Facetten – der Vf. nennt sie »Dimensionen« – menschlicher Sozialität: der undelegierbaren Perspektive des handelnden Individuums (Subjektivität), der unter den Bedingungen von face-to-face-Beziehungen stehenden In-teraktionen (Interaktivität) und schließlich der sich in institutionellen Arrangements verkörpernden gemeinsamen Welt, die ge­genüber den ersten beiden u. a. durch einen höheren Grad an Anonymität, Allgemeinheit und Dauer ausgezeichnet ist (Institutionalität). Entscheidend für die Problembestimmung der Arbeit ist nun die Beobachtung, dass menschliches Leben sich einerseits in allen diesen Dimensionen vollzieht, was nur möglich ist, wenn sie miteinander zusammenhängen; und dass es andererseits in ihnen unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten begegnet, was nur möglich ist, wenn sie relativ eigenständig sind. Aus dieser paradoxen Grundkonstellation ergibt sich die Aufgabenstellung: Gefordert sei nämlich eine »theoretische Konzeption sozialer Zusammenhänge« von Subjekten, Interaktionen und Institutionen, der es gelänge, sowohl die »qualitativen Differenzen und Spannungen zwischen den [drei] Dimensionen« als auch den »Zusammenhang« zu erfassen, »in dem sie aufeinander verweisen und sich gegenseitig voraussetzen« (19). Um das zu leisten, ist freilich ein einheitlicher theoretischer Bezugsrahmen nötig.
An dieser Stelle setzt daher die Bearbeitung des skizzierten Problems an. Dazu stellt der Vf. zunächst eine Oppositionserklärung gegenüber einer Theorieformation aus, die beansprucht, die Koordination jener drei Dimensionen bereits hinreichend geklärt zu haben. Damit ist das sogenannte »Schachmodell der Koordination« (40) gemeint, in dem die Sprache/der Diskurs als Koordinationsmechanismus fungiert. Die Grundschwierigkeit dieses vor allem von Searle und Habermas vertretenen Ansatzes wird darin gesehen, dass er die Dimension der institutionell verfassten sozialen Welt als Folie für die Rekonstruktion der beiden anderen Dimensionen sowie ihrer Koordination verstehe. Der Preis eines solchen Vorgehens ist vergleichsweise hoch. Denn das regelbasierte Diskursmodell könne weder die Unübertragbarkeit des Individuellen erfassen noch sei es in der Lage, der durchweg kontextrelativen Unter- bzw. Überbestimmtheit unserer Sprachregeln Rechnung zu tragen. Aus diesen Gründen sei es deshalb notwendig, über jenes Modell hinauszugehen, um eine Theorieperspektive zu eröffnen, die mindes­tens zwei Bedingungen erfülle: Ihre grundbegriffliche Strategie müsse erstens radikaler ansetzen als der Verweis auf das Faktum der Sprachverwendung, und sie dürfe nicht reduktionistisch in dem Sinne verfahren, dass sie eine Dimension des Sozialen als Paradigma für alle anderen verstehe. Der Vf. erkennt im Werk von Alfred Schütz, das um die Begriffe »Sinn« und »Relevanz« kreist, einen Kandidaten, der u. a. diese Bedingungen erfüllt. Ausgehend von ihm lasse sich daher »Sinn über sprachlich festgelegten Sinn hinaus« begreifen sowie »die Selektion dessen, was in der potentiellen Fülle eines konkreten Kontextes hier und jetzt ›relevant‹ ist« (101), bestimmen. Und so sind die restlichen Kapitel des Buches der Aufgabe gewidmet, die skizzierte Problemkonstellation im Lichte der Einsichten dieses Autors zu bearbeiten. Dabei geht der Vf. durchweg systematisch vor, d. h. er liefert keine Schütz-Referate, sondern entfaltet dessen Einsichten im engen Bezug zur eigenen Problemanalyse, wobei auch an Kritik nicht gespart wird.
In der Durchführung gestaltet sich das so, dass zunächst der Sinnbegriff im Verhältnis zum »sinnhafte[n] Individuum« entwi-ckelt wird (117–188), um in seinem Horizont dann die Dreidimensionalität des Sozialen systematisch zu bestimmen (189–258). Entscheidend dabei sei, dass Sinn über differenzierende Operationen generiert werde, sich also in der Spannung zwischen der Fülle des Möglichen und einer permanent auswählenden Aktivität einstelle. Die daran anschließende »Dynamik des Sinns« (258) in der Spannung zwischen Dauerhaftem (»Kontinuation«) und Wandelbarem (»Kontextualisierung«) wird schließlich über den zweiten Leitbegriff, den Begriff der Relevanz, erschlossen (259–328), wobei der Vf. am Schütz’schen Relevanzverständnis einen klaren Schwachpunkt hervorhebt (269 ff.): Während dieser mit Spielarten des Pragmatismus von einem »Primat des Gewohnten« (272) ausgehe, müsse vielmehr »dem Wandel, der Abwechslung, dem Neuartigen und Unbekannten eine eigenständige Anziehungskraft« (278) zukommen. Das leuchtet ein, wenn die Genese von Sinn differenztheoretisch erschlossen wird. Denn unter dieser Voraussetzung kann keinem Pol der Differenz ein »Primat« zuerkannt werden. Im Zuge seiner Überlegungen platziert der Vf. schließlich das an Relevanz orientierte »soziale Wirken« (205) als den zentralen Mechanismus, der die drei Dimensionen miteinander koordiniert. Damit werden zwar Einsichten einer Theorie des kommunikativen Handelns aufgenommen, aber insofern ausgeweitet, als soziales Wirken sowohl in sprachlichen als auch in vorsprachlichen Formen begegnet. Das Buch endet mit einem prägnanten Fazit und der Andeutung einer kunstphilosophischen Forschungsperspektive (339–358).
Fazit: Ich teile die Einschätzung, dass das »Schachmodell der Koordination« zu kurz greift, um die verschiedenen Dimensionen sozialer Realität in ihrem Zusammenspiel zu erfassen. Es wird für mich auch weitgehend überzeugend gezeigt, inwiefern diesem Defizit mit den Mitteln eines sozialphänomenologischen Theorieansatzes begegnet werden kann. Was allerdings vom Vf. bewusst offen gelassen wird, ist die Klärung der materialbezogenen Frage, welche Bedeutung die Schütz’schen Kategorien für das Verstehen der verschiedenen sozialen Handlungssphären haben. Auch wenn diese Frage zum großen Teil offen bleibt, so liefert die Arbeit neben der Sinnthematik und der darin eingebetteten Differenzierung zwischen Subjekt, Interaktion und Institution wichtige Anknüpfungspunkte für eine Theorie der Religion. Das legt die Vermutung nahe, dass die religionssoziologischen Untersuchungen von Berger u nd Luckmann die Potentiale des Schütz’schen Denkens noch längst nicht ausgeschöpft haben. Für Leser und Leserinnen, die diese Fragestellung weiter interessiert, ist das Buch jedenfalls eine klare Lesempfehlung.