Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1404–1405

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Masala, Alberto, and Jonathan Webber[Eds.]

Titel/Untertitel:

From Personality to Virtue. Essays on the Philosophy of Character.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2016. 240 S. Geb. US$ 74,00. ISBN 978-0-19-874681-2.

Rezensent:

Jochen Schmidt

Charakter hat sich als Thema philosophischer, theologischer und psychologischer Forschung zurückgemeldet, nachdem vor allem empirisch-ethisch und ideologiekritisch motivierte Vorbehalte gegen jegliche Art des Nachdenkens über personale Eigenschaften im Horizont moraltheoretischer Fragestellungen diesen Begriff nahezu aus dem Gesichtsfeld der Forschung verdrängt hatten. Ein nun erschienener Band präsentiert Studien zur sich neuerlich formierenden Philosophie des Charakters. Die Herausgeber Alberto Masala und Jonathan Webber verdeutlichen, dass die Kategorie Charakter das Potential hat, die grundsätzlich zu unterscheidenden Aspekte Persönlichkeit und (ethische) Tugend zu integrieren. Die von einer solchen Besinnung auf die Kategorie Charakter ausgehenden Impulse werden durch teils stark spezialisierte Beiträge beleuchtet, die sich im weiteren Sinne der politischen Philosophie, der analytischen Philosophie und der empirischen Ethik/Moral psychologie zuordnen ließen. Exemplarisch seien im Folgenden Beiträge aus den drei genannten Bereichen vorgestellt.
Jonathan Jacobs diskutiert in seinem Beitrag »Character, Punishment, and the Liberal Order« (9–34) die Frage, inwieweit der liberale Staat sich um Charaktere von Individuen zu sorgen hat. Auf der einen Seite, so stellt Jacobs klar, steht es dem Staat nicht zu, seinen Bürgerinnen und Bürgern bestimmte Vorstellungen gelungener individueller Lebensführung nahezulegen. Umgekehrt aber hat staatliches Handeln, etwa mit Blick auf die konkrete Praxis des Justizvollzugs, Rückwirkungen auf die Charaktere derer, die von diesem Handeln betroffen sind, und dies ist wiederum für den Staat insbesondere dann von Bedeutung, wenn die Justizvollzugsmaßnahmen in ihrer konkreten Form Auswirkungen auf jene Dimension der charakterlichen Verfassung der Betroffenen haben, die Jacobs als civil disposition bezeichnet.
Mit civil disposition ist das Ensemble von Gewohnheiten, Einstellungen und motivationalen Mustern gemeint, die für die »Gesundheit« der Zivilgesellschaft von entscheidender Bedeutung sind (13 f.). Ein liberal verfasstes Gemeinwesen übt also zwar keine moralische Unterweisung aus, jedoch ist es seine Aufgabe, Bedingungen herzustellen bzw. zu bewahren, unter denen Individuen moralische und andere Werte verwirklichen und so einen Sinn der Kohärenz des eigenen Lebens entwickeln können. Wenn Personen in der konkreten Praxis des Justizvollzugs nicht als verantwortliche Akteure behandelt werden, die vor allem in sozialen Zusammenhängen Entscheidungen treffen, sondern einer nahezu vollständigen Reglementierung aller Lebensvollzüge unterworfen werden, dann sollte man nicht erwarten, dass das Vermögen dieser Personen, als verantwortliche Akteure aufzutreten, nicht kompromittiert wird (28 f.).
Mit analytisch-philosophischem Besteck arbeitet Roman Alt-shuler in seinem Beitrag »Character, Will, and Agency« (62–80) die Frage auf, ob denn die beiden Instanzen Charakter und Wille nebeneinander bestehen können oder ob sich nicht vielmehr die eine Instanz bei näherem Hinsehen als Funktion der anderen erweist. Tatsächlich scheinen Charakter und Wille denselben theoretischen Platz zu besetzen, nämlich jenen des Ursprungs einer Handlung. Diese Konkurrenz spiegelt sich darin wider, dass in der (im weiteren Sinn des Wortes) moralpsychologischen Diskussion wahlweise im Charakter, i. e. im jeweiligen vorfindlichen Sosein einer Person, oder im Willen, i. e. im Akt der Validierung oder Invalidierung von durch charakterlichen Dispositionen (wie etwa Wünschen und Neigungen) lediglich vorgeschlagenen Handlungsrichtungen, der eigentliche, letzte Grund für die Entstehung einer Handlung gesehen wurde (68). Eine Versöhnung dieser scheinbar exklusiven Perspektiven ist Altshuler zufolge in der Beobachtung zu finden, dass, um es mit einer Anspielung an eine berühmte Kant’sche Formulierung auszudrücken, Wille ohne Charakter blind ist und Charakter ohne Willen leer. Ohne Charakter gibt es keine Belastbarkeit, keine Vorhersehbarkeit unserer selbst und der anderen, ohne Willen wären wir letztlich nicht verantwortlich für unsere Taten, in denen sich unser Charakter lediglich ausagieren würde. Im Horizont der Perspektiven Wille bzw. Charakter entstehen jeweils Beschreibungen desselben Entscheidungsvorgangs, die jede für sich valide, indes eben gerade in ihrer wechselseitigen Verwiesenheit zu würdigende Erkenntnisse zeitigen. Mehr noch: Bereits die Größen Charakter und Wille selbst sind ihrem Wesen nach aufeinander verwiesen, insofern die Fähigkeit, auch gegen Widerstände an Willensentscheidungen festzuhalten, ihrerseits als Charaktereigenschaft angesehen werden kann, die der Kultivierung bedarf (73).
Mit empirisch-ethischen Forschungserkenntnissen setzen sich Jules Holroyd und Daniel Kelly in ihrem Beitrag »Implicit Bias, Character, and Control« (106–133) auseinander. Implicit biases, also Werthaltungen, die der Person, deren Handeln durch diese Werthaltungen mitgesteuert werden, nicht bewusst sind, scheinen die Verantwortlichkeit dieser Personen grundlegend infrage zu stellen, ja in den relevanten Zusammenhängen des Handelns regelrecht aufzuheben. Das Autorenduo demonstriert, dass dieser An­schein trügt. Zum einen zeigen Studien, dass Personen, die sich ausdrücklich und engagiert zu egalitären Idealen und Zielen bekennen, eher in der Lage sind, gegen die Handlungswirksamkeit ihrer implicit biases zu intervenieren. Weitere Studien zeigen darüber hinaus, dass es möglich ist, eine ›ökologische Kontrolle‹ über die implicit biases selbst auszuüben, indem gezielt soziale Zusammenhänge gesucht werden, in denen Unterstützung im Bestreben, implicit biases zu überwinden, zu finden ist.
Dass der Begriff virtue in den einzelnen Beiträgen nicht so prominent ist, wie der Titel glauben lässt, muss man nicht beklagen. Kohärent ist der Band durch die Fokussierung auf die Grenze von empirisch betrachteter Persönlichkeit auf der einen und moralischem Charakter auf der anderen Seite. Und dass die Arbeit an ebendieser Grenze wenn auch keine revolutionären Erkenntnisse, so doch Beiträge zur Klärung fundamentaler (Denk-)Probleme hervorbringt, steht nach Meinung des Rezensenten außer Frage.