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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1402–1404

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Atten, Mark van

Titel/Untertitel:

Essays on Gödel’s Reception of Leibniz, Husserl, and Brouwer.

Verlag:

Wiesbaden: Springer Verlag 2015. XIV, 327 S. = Logic, Epistemology, and the Unity of Science, 35. Geb. EUR 139,09. ISBN 978-3-319-10030-2.

Rezensent:

Dirk Evers

Bei diesem Band handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen des Philosophen Mark van Atten, der als Directeur de Recherches am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris in der Forschungsgruppe Sciences, Normes, Décision arbeitet. Sein Hauptinteresse gilt der Philosophie der Mathematik in Verbindung mit idealistisch-phänomenologischer Philosophie, und in diesem Band sind seine eigenen, in zwei Fällen aber auch in Zu­sammenarbeit mit anderen Autoren entstandenen Arbeiten zu Kurt Gödel versammelt. Der Titel weist auf die diesen Arbeiten zugrunde liegende These hin: Der Vf. möchte zeigen, dass und wie Gödel – ausgehend von seinen beiden berühmten Unvollständigkeitssätzen zu den Grenzen formaler Systeme – sich der Phänomenologie Husserls zuwandte, um mit ihrer Hilfe die Leibniz’sche Monadologie in eine axiomatische Metaphysik weiterzuentwi-ckeln, die es dann auch ermöglichen sollte, die Mathematik, wie Gödel sie verstand, in einen platonisch grundierten, metaphysisch-phänomenologischen Gesamtrahmen zu stellen. Damit verfolgte Gödel ein Projekt, das einerseits in klarer Abgrenzung, andererseits aber auch in mancherlei Übereinstimmung bezüglich der erkenntnisleitenden In­tentionen zur intuitionistischen Mathematik des zweiten großen, originellen Mathematikers des 20. Jh.s, zu L. E. J. Brouwer stand.
Die These des Vf.s ist, dass Gödel mit seiner Bezugnahme auf die Husserl’sche Phänomenologie zwar in der richtigen Richtung weiterdachte, insofern die Monadologie Leibniz’scher Prägung phänomenologisch rekonstruiert werden muss, dass er dabei aber mehr vom Intuitionismus Brouwers inspiriert war, als ihm selbst be­wusst war, und dass er darüber hinaus die zweite Stufe seines Unternehmens, die platonistische Begründung der Mathematik, verfehlte und sich ein intuitionistisches Verständnis eigentlich nahegelegt hätte. Der Vf. verbindet bei seinen Studien gründliche historische Textarbeit an den Gödel’schen Originalmanuskripten mit mathematikphilosophischen und metaphysischen Studien zu den Philosophien von Leibniz, Husserl und Brouwer. Nicht zuletzt sind seine Arbeiten auch als Vorstudien zu einer intellektuellen Biographie Gödels anzusehen.
Dem Titel entsprechend sind die Aufsätze angeordnet. Nach einer für den Band eigens geschriebenen Einleitung, in der der Vf. Gödels Wendung zur phänomenologischen Philosophie biographisch verortet und einen Überblick über die folgenden Essays bietet, folgen in einem ersten Teil drei Arbeiten zu Gödel und Leibniz. Daran schließen sich vier Aufsätze zu Gödel und Husserl an, denen im dritten Teil drei Arbeiten zu Gödel und Brouwer folgen. Der vierte abschließende Teil besteht aus nur einem Aufsatz, der ein vorläufiges Fazit zieht und das Verhältnis von Konstruktion und Konstitution in der Mathematik beleuchtet und abschließend die These des Vf.s erläutert, dass zwar die intuitionistische Mathematik als ein Teil der transzendentalen Phänomenologie verstanden werden kann, dass mit der Phänomenologie die klassische Mathematik allerdings nicht grundgelegt werden kann. Mehr angedeutet als entfaltet wird die These, dass dies auch damit zu tun hat, dass Husserl – obwohl er sich selbst als religiös gläubigen Menschen verstanden hat und seine Philosophie in der Spätzeit ähnlich wie die Gödels auch religionsphilosophische Bezüge enthielt – den spontanen Charakter der Entstehung mathematischer Gegenstände betonte und mit dem Verzicht auf einen Rekurs auf so etwas wie den Verstand der Zentralmonade sich vielleicht Möglichkeiten verbaute, über das Erreichte hinauszukommen.
Nach Auskunft des Vf.s selbst steht inhaltlich in jedem der drei Hauptteile eine Arbeit im Zentrum. Im ersten Teil ist es ein Aufsatz über »Monads and Sets«, in dem Gödels Begründung des Reflexionsprinzips in der Mengenlehre (es gibt keine Sätze über das Mengenuniversum, die nicht auch schon für eine Menge gültig wären, so dass das Universum aller Mengen nicht durch besondere Eigenschaften gegenüber alle übrigen Mengen ausgezeichnet werden kann) in Analogie mit Leibniz’ Argument gegen die Existenz von unendlichen, zusammengesetzten Ganzheiten gesehen und gegen Russell und andere dafür argumentiert wird, dass Gödels Absicht, die Leibnizsche Monadologie mit der Cantor’schen Mengenlehre zu verbinden, keine intrinsischen Schwierigkeiten entgegenstanden. Zugleich aber wird festgehalten, dass Gödel dadurch über Leibniz hinauszukommen suchte, dass er ab 1959 begann, Husserls Phänomenologie dafür zu nutzen, das Reich des Möglichen differenzierter und anders zu fassen, als dies in Leibniz’ Universum möglicher Welten geschieht. Im zweiten Teil zeichnet der Vf. in einem umfang- und materialreichen Aufsatz »On the philoso-phical development of Kurt Gödel« ebendiese Hinwendung von Leibniz zur Husserl’schen Phänomenologie nach. Dabei bezieht er sich auf reiches Material aus dem Gödel-Archiv in Princeton. Im folgenden Teil entfaltet der Aufsatz zu »Gödel and intuitionism« die These, dass Gödels Hinwendung zur phänomenologischen Methode und seine Versuche, diese auf konkrete mathematische Fragestellungen anzuwenden, ihn eigentlich gerade nicht zur Begründung platonischer Konzepte führten, wie er es eigentlich intendierte, sondern eher in Richtung konstruktivistischer Ideen.
Diese These arbeitet dann der Schlussbeitrag des Buches über »Construction and constitution in mathematics« aus. Hier argumentiert der Vf. noch einmal dafür, dass eine phänomenologisch-transzendentale Analyse eher zur intuitionistisch-konstrukti-vistischen Mathematik führt denn zu einer platonistischen Ma­thematikbegründung und damit eigentlich Gödels Intentionen entgegensteht. Damit stellt er sich gegen andere Interpreten Gö­dels und Husserls wie Føllesdal u. a., gegen die er auf den stark konstruktivistischen Charakter der Husserl’schen Spätphilosophie hinweist, der auch eine Auffassung der klassischen Mathematik als Mathematik eines idealen Verstandes ausschließt. Mathematische Objekte, die unabhängig von ihrer mentalen Konstruktion existieren, kann es in dieser Sicht nicht geben. Offen lässt es der Vf. dann allerdings, ob dies als ein Argument gegen die Phänomenologie oder als eines gegen die klassische und damit für die intuitionis-tische Mathematik angesehen werden sollte. Auf jeden Fall hat Gödels Projekt als gescheitert zu gelten.
Der vorliegende Band dürfte für jeden von Interesse sein, der sich mit der Philosophie der Mathematik im Allgemeinen und mit den Philosophien von Gödel, Leibniz, Husserl und Brouwer be­schäftigt. Die aufgezeigten Querverbindungen und wechselseitigen Interpretationen sind überaus anregend, und die interpreta-torische Analyse der Texte minutiös. Obwohl keine formalisierte Mathematik vorkommt, setzen die Essays doch ein gewisses Verständnis mathematischer Zusammenhänge und der mathematiktheoretischen Debatten im 20. Jh. voraus. Von besonderem Interesse für den Theologen sind einerseits die gelegentlichen Hinweise auf die religiöse Komponente sowohl in Gödels wie auch in Husserls Denken (vgl. 9–14) sowie die Ausführungen zur mystischen Seite der Mathematik bei Gödel und Brouwer (173–188), andererseits aber auch die immer wiederkehrenden Bezüge auf einen metaphysischen Gottesbegriff (vgl. das Stichwort »God« im Re-gister). Den sorgfältig edierten Band schließen eine ausführliche Bibliographie, der Nachweis der Erstpublikationen, ein Autoren- und Zitationsindex sowie ein kombiniertes Namen- und Sachre-gister ab.