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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1395–1402

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst

Titel/Untertitel:

Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. III: Predigten. Bd. 2: Predigten. Fünfte bis Siebente Sammlung (1826–1833). Anhang: Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen (Berlin 1829). Hrsg. v. G. Meckenstock.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. LIII, 1220 S. Lw. EUR 279,00. ISBN 978-3-11-041335-9.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. V: Briefwechsel und biographische Dokumente. Bd. 10: Briefwechsel 1808 (Briefe 2598–3020). Hrsg. v. S. Gerber u. S. Schmidt. Berlin u. a.: De Gruyter 2015. LII, 532 S. Lw. EUR 189,95. ISBN 978-3-11-042692-2.
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. V: Briefwechsel und biographische Dokumente. Bd. 11: Briefwechsel 1809–1810 (Briefe 3021–3560). Hrsg. v. S. Gerber u. S. Schmidt. Berlin u. a.: De Gruyter 2016. LXIV, 545 S. Lw. EUR 189,95. ISBN 978-3-11-043781-2.
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. III: Predigten. Bd. 6: Predigten 1820–1821. Hrsg. v. E. Blumrich. Berlin u. a.: De Gruyter 2015. LXXX, 1085 S. Lw. EUR 279,00. ISBN 978-3-11-026548-4.
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. III: Predigten. Bd. 8: Predigten 1824. Hrsg. v. K. M. Ch. Kunz. Berlin u. a.: De Gruyter 2013. LVI, 787 S. Lw. EUR 249,00. ISBN 978-3-11-031685-8.
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. G. Meckenstock, A. Arndt, U. Barth, L. Käppel u. N. Slenczka. Abtl. III: Predigten. Bd. 12: Predigten 1830–1831. Hrsg. v. D. Schmid. Berlin u. a.: De Gruyter 2013. ca. XX, 860 S. Lw. EUR 249,00. ISBN 978-3-11-031402-1.


Der Erfolg und die Qualität von Langzeiteditionen hängt wesentlich von der Bereitschaft der Geldgeber ab, immer wieder Mittel für die oft mühsame und langwierige editorische Arbeit bereitzustellen. Die Schleiermacher KGA legt dafür beredtes Zeugnis ab. Geldgeber setzen allerdings in der Regel auch Fristen, innerhalb derer die Arbeit zu Ergebnissen führen muss. Das hat nicht immer nur glückliche Folgen. Mit Band 9 (Briefwechsel 1806–1807) war das Projekt »Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe« an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgelaufen. Seit 2012 werden die weiteren Bände im Rahmen des Akademievorhabens »Friedrich Schleiermacher in Berlin 1808–1834. Briefwechsel – Tageskalender – Vorlesungen« erarbeitet, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung des Landes Berlin gefördert werden. Die beschränkten Laufzeiten der zur Verfügung gestellten Mittel machen allerdings problematische editorische Entscheidungen nötig. Die beiden 2015 erschienenen Bände des Briefwechsels von Schleiermacher aus den Jahren 1808 bis 1810 (Briefe 2598–3560) belegen das deutlich. Anders als bisher sind es nur noch reine Textbände, die neben den editorischen Grundsätzen nur einen sehr knappen editorischen Bericht der beiden Herausgeber Simon Gerber und Sarah Schmidt enthalten (XXXV–XXXVI). Soweit man sehen kann, haben sie ihre Arbeit vorzüglich gemacht. Allerdings bieten die beiden Bände nur die kritische Edition der Brieftexte selbst, während die historischen Einführungen, der Sachapparat und die Register in selbständigen Teilbänden veröffentlicht werden sollen. Diese Aufteilung ist problematisch. Sie macht nur Sinn, wenn die Zusatzbände durch andere Geldgeber finanziert werden (müssen) und damit unter Umständen auch nicht zustande kommen könnten. Sachlich kann die Erarbeitung der Apparate kaum von der editorischen Arbeit an den Texten ge­trennt werden, sondern muss zusammen erfolgen. Für die Leser hat das die unerfreuliche Folge, dass wichtige Informationen mit den vorliegenden Bänden (noch) nicht zur Verfügung stehen, und dass sie weitere Bände der ohnehin nicht gerade wohlfeilen Ausgabe erstehen müssen, um diese Briefbände mit Gewinn studieren zu können.
Abgesehen von dieser nicht unerheblichen Veränderung besitzen aber auch diese Bände die ausgezeichnete editorische Qualität der Gesamtausgabe. Inhaltlich ist das in ihnen vorgelegte Material von besonderem Reiz, weil es die Anfänge von Schleiermachers umfangreicher Arbeit in Berlin dokumentiert. Am 11. Juni 1809 wurde Schleiermacher in das reformierte Pfarramt an der Dreifaltigkeitskirche eingeführt, am 13. Juni werden von der kurmärkischen Akzise- und Zolldirektion die mit der Amtsveränderung notwendigen Gehaltsregelungen angekündigt, um deren Inkraftset zung Schleiermacher am 17. Juni den »Allerdurchlauchteste[n] Großmächtigste[n] Allergnädigste[n] König und Herr« Friedrich Wilhelm III. »allerunterthänigst […] bittet« (KGA V, 11, 281). Das neue Amt macht aber nicht nur Freude, sondern auch mehr Arbeit als erwartet. »Von dem schönen Reichthum des neuen Lebens kommen wir doch auch gar zu wenig zum Schreiben«, klagt er am 3. August in einem Schreiben an Charlotte von Kathen. Sein Amt ist »mit mancherlei unangenehmen Kleinigkeiten« angefüllt, »die mir neu sind«, und neben den »reichlichen Geschäften« bleibt kaum »Zeit und Geld«, um »den Sommer soviel wie möglich zu genießen« (KGA V, 11, 298). Aber das tut der insgesamt freudigen Aufbruchsstimmung ebenso wenig Abbruch wie die immer wieder prekäre Gesundheit. Hauptgrund für die positive Stimmung dieser An­fangsjahre trotz der politischen Wirrungen ist die am 18. Mai 1809 geschlossene Ehe mit Henriette von Willich. Biographisch gehören die vielen Briefe an und von Henriette zu den aufschlussreichsten Texten in diesen beiden Bänden. Die Verbindung zwischen dem vierzigjährigen Schleiermacher und der einundzwanzigjährigen Witwe seines Freundes Ehrenfried von Willich hatte sich nach dessen Tod 1807 langsam angebahnt. Schleiermacher fungierte zunächst in der Rolle des »Vaters«, der sich um die junge Witwe und ihre beiden kleinen Kinder kümmerte. Anfangs will diese die Ehe mit dem Verstorbenen im Himmel fortsetzen. Schritt für Schritt verändert sich die Situation und am 18. Juli 1808 kommt es zur Verlobung in Sagard. Henriette schreibt davon in einem Brief vom 5. August (KGA V, 10, 173–176). Noch immer redet sie Schleiermacher als »mein Väterchen« und »mein geliebter Vater« an, und sie betont: »o Gott mir ist oft als könne ich es kaum tragen daß ich es bin der Du Dein Leben Deine heilige Liebe weihen willst […] o Ernst ich weiß es nicht anders zu nennen als es war Anbetung was ich dann fühlte –Wie danke ich Dir noch Du Theurer für die schöne zarte Weise mit der Du Dich mir genähert […]« (174 f.). Konnte, was so anhimmelnd-asymmetrisch begann, eine gute eheliche Beziehung werden? Das in der Verehrung Schleiermachers mitschwingende Unterlegenheitsgefühl Henriettes ist überdeutlich: Nie will sie ihn beschränken »in dem was Du Deinen Freunden oder Freundinnen sein und mit ihnen theilen willst«, nie will sie wie andere klagen, wenn er sich »mit andern Frauen auswechselt über Dinge die sie nicht versteht und daher nicht Theil daran nehmen kann« (175). Schleiermacher ist klug genug, das Problem zu sehen und ernst zu nehmen, und es ist berührend zu sehen, wie sich beide um die Klärung dieser Differenzen bemühen: »du glaubst ich habe Tiefe, und meine Stärke sei immer die wahre schöne Stärke. Glaube mir doch mein Ernst was oft als Stärke erscheint ist nur Mangel an Gefühl […]«, schreibt Henriette am 28.12.1808. Eher könnte das Gegenteil der Fall gewesen sein. Beide umkreisen diesen Punkt immer wieder. Dabei erwecken die Briefe Schleiermachers mehr als die Henriettes nicht selten den Eindruck, nicht nur für sie, sondern auch für andere Leser geschrieben zu sein. Er ist sich der Schwierigkeiten bewusst, nicht nur liebender Ehemann sein zu können, sondern zugleich vernünftiger »Seelenführer« in einer nicht ganz einfachen familiären Situation sein zu müssen. Zwei Jahre später, als Schleiermacher am 30.12.1810 Philipp Wilhelm Wolf von der Geburt der Tochter Marie in der Weihnachtsnacht berichtet, fügt er dem Brief seine »Kurze Darstellung« hinzu, die er freundlich-ironisch als »männlicher Nachkomme« tituliert. Und Henriettes »Mangel an Gefühl« führte nicht nur zu ständigen Erziehungskrisen mit ihren Kindern, die sich nur schwer in die neue Familie einfügen können oder wollen. Er schlug auch immer wieder in heftige Schwärmereien um, für Alexander von der Marwitz etwa, der 1814 im Krieg fiel, oder seit 1816 für die Offizierswitwe Karoline Fischer, deren hellseherischen Kräften Henriette voll vertraute und von deren medialer Fähigkeit, Verstorbene durch sich sprechen zu lassen, sie sich und ihre Töchter Elisabeth, Gertrud und Henriette völlig in Bann schlagen ließ. Schleiermachers Weg in diese komplizierte Ehe wird in den Briefen dieser Ausgabe detailliert dokumentiert und lässt sich in ihren verschiedenen Aspekten aus der durchaus verschiedenen Sicht beider Protagonisten gut nachvollziehen.
Selbstverständlich ist diese Beziehung nicht das einzige Thema, das in diesen Bänden verhandelt wird. Aber mehr als in anderen Bänden dominieren bis ins Jahr 1810 die familiären Themen das übrige Geschehen. Schon das macht es lohnenswert, sich mit diesen Briefen zu beschäftigen. Und es bleibt zu hoffen, dass der dazu gehörende Kommentarband bald erscheinen wird.
Bei Predigten setzte Schleiermacher – auch darin auf den Spuren Platons wandelnd – ganz auf das gesprochene Wort. Nur ungern und oft erst später publizierte er Predigten, in der Regel solche zu besonderen Anlässen. Der 2015 erschienene Band 2 von Schleiermachers Predigten (KGA V/2) wurde von Günter Meckenstock herausgegeben und umfasst die fünfte, sechste und siebte Sammlung der publizierten Predigten Schleiermachers von 1826, 1831 und 1833. Im Anhang wird das »Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für evangelische Gemeinen (Berlin 1829)« geboten (757–1185), das in der Folge der Reformationsfeier von 1817 von der Berliner Kreissynode für die Vereinigung der lutherischen und reformierten zur evangelischen Kirche in Auftrag gegeben war und an dessen Entstehen Schleiermacher maßgeblich beteiligt war. Alle edierten Texte waren schon im Druck verfügbar, alle wurden an den Manuskripten überprüft, neue Texte sind nicht hinzugekommen.
Die fünfte und die siebte Sammlung bieten 42 Festpredigten zu kirchlichen und staatlich verordneten Feiertagen zwischen 1812 und 1833 (Adventspredigten, Weihnachtspredigten, Neujahrspredigten, Passionspredigten, Predigten an Karfreitagen, Ostern, Bußtagen, Himmelfahrtstagen, Pfingstfest, Trinitatisfest, Erntefest und am Gedenktag der Verstorbenen). In der sechsten Sammlung dagegen finden sich zehn Predigten, die Schleiermacher zur Säkularfeier der Augsburger Konfession 1830 gehalten und veröffentlicht hat. Die Themen umfassen die Warnung vor selbstverschuldeter Knechtschaft, die Verantwortung über den Grund der Hoffnung, das Verhältnis des evangelischen Glaubens zum Gesetz, die Gerechtigkeit aus dem Glauben, das vollendete Opfer Christi, die Ermunterung zum Bekenntnis der Sünden, den öffentlichen Dienst am göttlichen Wort, die Verdammung Andersgläubiger im Bekenntnis, die These, »dass wir nichts vom Zorn Gottes zu lehren haben«, und das Ziel der Wirksamkeit der evangelischen Kirche. Diese Augustana-Predigten bieten einen markanten Kommentar Schleiermachers zur Situation des Protestantismus um 1830. Das zeigt schon die ausführliche Vorrede (261–280), in der sich Schleiermacher mit Kritikern seiner theologischen Ansichten auseinandersetzt.
Mit den Breslauer Theologen Daniel von Cölln und David Schulz war es zum Streit über die Bekenntnisverpflichtung von Lehrenden an den evangelischen Universitäten gekommen, im Agendenstreit bezog Schleiermacher deutlich Position gegen die lutherisch-liturgischen Vorgaben des Königs zur Gestaltung des unierten evangelischen Gottesdiensts. Schleiermacher setzt diese Auseinandersetzungen in der Vorrede fort, ohne seine Kritiker überzeugen zu können, wie die Rezensionen zeigen. Aber auch andere Theologen wie Karl Heinrich Sack stellten in ihren Rezensionen der Predigtbände Fragen an den erfahrungsbasierten Ansatz von Schleiermachers Theologie, seine Vorordnung des Gefühls vor Wort und Lehre, sein für unzureichend gehaltenes Verständnis von Sünde und Erlösung, seine Sicht Christi als Menschheitsideal, seine Einschätzung des Alten Testaments, seine Gleichsetzung von Kirche und Christenheit, seine präsentische Eschatologie. Alle Kritiker betonen die theologische Übereinstimmung zwischen Schleiermachers Positionen in der Glaubenslehre und seiner praktischen Predigtarbeit, so dass die Predigten gut auch zum Verständnis seiner Theologie herangezogen werden können. Machen doch die Pre digten besonders deutlich, dass Schleiermachers theologisches Denken von bestimmten Bildern geprägt und geleitet wird. Gotteslehre, Christologie und Soteriologie sind z. B. nicht am Bild des herrschenden und richtenden Gottes orientiert, sondern an dem des heilenden und helfenden Arztes, die Sicht der Sünde nicht am Aufstand gegen Gottes Willen, sondern der Krankheit, der Torheit und des Nichtwissens:
»[W]er weiß von einem Zorne Gottes, der sich in Christo offenbart hätte? Er [= Paulus in 2Kor 5,17–18] sagt auf das bestimmteste, der Sohn sei nicht dazu gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde. Er kennt nur Kranke, die er zu heilen wünscht, solche, die nicht wissen, was sie thun, und denen er Vergebung erbittet, und solche, die nicht glauben, und eben deshalb schon durch sich selbst gerichtet sind ohne ihn.« (392 f.)
Schleiermachers Fest- und Themenpredigten bieten mannigfache Gelegenheit, auf dieser Bild-Spur auch seine Theologie in ihren Stärken und Schwächen besser zu verstehen.
Der 6. Band der Predigten Schleiermachers wurde 2015 von Elisabeth Blumrich herausgegeben. Er umfasst die Predigten der Jahre 1820–1821. Von den – ohne Kasualien – 144 bezeugten Predigtterminen liegen zu 117 Terminen Texte vor, von denen 106 samt 53 dazugehörenden Liedblättern in diesem Band ediert werden, 46 Predigten aus dem Jahr 1820 und 60 Predigten aus dem Jahr 1821. 14 Festtagspredigten aus diesen Jahren wurden von Schleiermacher in Sammelbänden publiziert, die in KGA V/2 ediert sind.
Die historische Einführung der Herausgeberin beschreibt knapp, aber präzis die politische, kirchliche und wissenschaftliche Situation dieser Jahre in Berlin. Drei Themenkomplexe bestimmen diese Jahre mehr als andere. Zum einen publizierte Schleiermacher 1821/22 seine Dogmatik »Der christliche Glaube«, die eine kontroverse theologische und – im Gegenentwurf von Hegels Religionsphilosophie – philosophische Diskussion auslöste. Zum anderen stand an der Dreifaltigkeitskirche die Vorbereitung der Union zwischen der lutherischen und reformierten Gemeinde im Zentrum. Seit Oktober 1820 war Konrad Philipp Marheineke, Schleiermachers lutherischer Fakultätskollege, auf die erste lutherische Pfarrstelle der Dreifaltigkeitskirche ernannt worden. Zusammen erarbeiten sie die rechtlichen, ökonomischen und liturgischen Grundlagen für die erste Gemeindevereinigung in Preußen, die am 31.3.1822 feierlich vollzogen wurde. Zum Dritten geriet im Gefolge der restaurativen Karlsbader Beschlüsse in Reaktion auf die Ermordung von August von Kotzebue durch den Theologiestudenten Carl Ludwig Sand im März 1819 auch Schleiermacher unter den Verdacht der Staatsgefährdung. Seine Predigten und Vorträge wurden bespitzelt und es drohte ihm die Entlassung aus dem Predigtamt an der Dreifaltigkeitskirche und dem Doppelamt an der Theologischen Fakultät, das er seit der Gründung der Berliner Universität 1810 eingenommen hatte. 1820 war er zum letzten Mal Dekan der Theologischen Fakultät und las neben seinen kirchlichen Verpflichtungen drei fünfstündige Vorlesungen, davon zwei an der Theologischen Fakultät und eine an der Philosophischen Fakultät. Aufgrund eines Solidaritätsschreibens der Theologischen Fakultät für seinen entlassenen Kollegen und Freund Wilhelm Martin Leberecht de Wette vom Oktober 1819, das Schleiermacher konzipiert und unterzeichnet hatte, geriet er selbst unter Verdacht und musste um sein Amt bangen. Die Ermittlungen zogen sich bis ins Jahr 1823 hin und die Sorgen darüber schlugen sich in vielen Briefen der Jahre 1820 und 1821, aber auch in seinen Predigten nieder. Aus gutem Grund wird die Edition mit dem Faksimile eines Kupferstichs von de Wette eröffnet (2). Allerdings wurden Schleiermachers Predigten vor diesem politischen Hintergrund oft anders gehört, als er sie intendierte. In einem Brief an Graß notierte er schon im Januar 1819 über eine als Neujahrsgabe gedruckte Predigt: »Ich kann nicht sagen, daß ich besonders damit zufrieden wäre, und erst, als ich sie gedrukkt sah, fiel mir ein, daß eigentlich jede Zeile ein Stich auf unsern allergnädigsten Herrn ist: allein ich habe wirklich vorher nicht besonders an ihn gedacht.« (vgl. KGA III/5, LVIII–LIX) Auch andere Zeugnisse legen nahe, dass Schleiermachers Predigten wohl noch politischer verstanden wurden, als sie gemeint waren.
Schleiermacher predigte im Wechsel in den Frühgottesdiensten um 7 Uhr, den Hauptgottesdiensten um 9 Uhr oder den Nachmittagsgottesdiensten um 14 Uhr (zuweilen auch an zwei Terminen). 1820 konzentrierte er sich von Neujahr bis zur Passionszeit am Vormittag thematisch auf die Seligpreisungen, in der Passionszeit auf »Jesus über seinen Tod«, von Ostern bis Pfingsten auf die einschlägigen Evangelien- und Episteltexte, in der Trinitatiszeit ausführlich auf das Thema »Entwicklung der Kirche«. Am Nachmittag predigte er bis Ostern über den 1. Petrusbrief und bot für den Rest des Kirchenjahres eine fortlaufende Auslegung des Jakobusbriefs. 1821 predigte er in der Frühpredigt bis zur Passionszeit über »Christi Beispiel«, in der Passionszeit über die letzten Worte Christi am Kreuz, und in der Trinitatiszeit vor allem über Texte aus dem 2. Petrusbrief. Im Hauptgottesdienst standen bis zur Passionszeit Texte im Gefolge Weihnachtens im Zentrum, in der Trinitatiszeit bis zum Ende des Kirchenjahres Texte zum Thema Jüngerschaft. Da Schleiermacher frei predigte, sind die Texte auf der Grundlage der Nachschriften von Johann Gottfried Andrae, Friedrich Wilhelm Dunkel, August Friedrich Gemberg, Karl Friedrich Schirmer und ›Demoiselle‹ Woltersdorff erstellt. In einem editorischen Kopftext wird jeweils über Termin, Ort, Bibeltext, Textzeugen und andere Besonderheiten (Liedblätter) informiert. Am Ende des Bandes werden neben dem Literaturverzeichnis Namen- und Bibelstellenre-gister geboten. Insgesamt liegt ein gut und zuverlässig edierter Band vor, dem neben dem genannten Bild de Wettes auch einige Faksimilebeispiele der Predigtnachschriften beigegeben sind, die erahnen lassen, was die Herausgeberin entziffern musste.
Schon 2013 ist Band 8 mit den Predigten 1824 erschienen, die Kirs­ten Maria Christine Kunz herausgegeben hat. Wiederum unter Ausklammerung der zahlreichen Kasualansprachen, von denen es nur gelegentlich Nachschriften gibt (vgl. etwa die Ansprache zur Goldenen Hochzeit Rosenstiel am 28. Oktober: 754–758), dokumentiert dieser Band 56 Predigten (22 davon waren bisher nicht bekannt) samt 28 dazugehörenden Liedblättern, vorwiegend auf der Basis von Nachschriften Johann Gottfried Andraes. Ein Faksimile seiner Nachschrift der Vormittagspredigt vom 1. Januar 1824 ist Seite VIII abgedruckt, weitere Faksimilebeispiele von Nachschriften – zum Teil mit Korrekturen Schleiermachers (LVI) – finden sich durch den Band verstreut.
Kirchenpolitisch waren die Jahre 1824–1825 durch den Agendenstreit geprägt. Schleiermacher hatte sich vehement gegen die liturgischen Vorgaben Friedrich Wilhelms III. ausgesprochen. Für ihn war nicht der König, sondern die Synode für die Gottesdienstgestaltung der evangelischen Kirche zuständig. Sein Kollege Marheineke vertrat eher die Linie des Königs, so dass der Konflikt direkt in die Dreifaltigkeitsgemeinde hineinwirkte. Da Schleiermacher in der Regel theologisch – oder wie die Herausgeberin meint: »dogmatisch-abstrakt« (XX) – predigte, gibt es nur wenige Predigten, in denen er den Agendenstreit direkt anspricht, etwa in einer Vertretungspredigt über Mt 5,23–24 in der alten Friedrichswerderkirche am 25. Juli 1824 (470–497). Diese Direktheit war die Ausnahme, und sie fand bezeichnenderweise nicht in seiner eigenen Gemeinde statt. Dort predigte er in diesem Jahr vor allem über Texte des Johannesevangeliums. Schleiermacher hatte diese Reihe im April 1823 begonnen und setzte sie fünf Jahre lang fort. In der Osterzeit predigte er gemäß der (für ihn auch nach der Union nicht verbindlichen) Perikopenordnung über Lukas-Texte, und im Juli spricht er an fünf Terminen über das Thema Liebe und Furcht anhand verschiedener Evangelientexte. Die Predigten sind in der gewohnten Form der KGA V zuverlässig ediert und gut zu lesen. Der Sachapparat beschränkt sich auf das Wesentliche. Die knappe historische Einführung sowie der ausführliche editorische Bericht (X–LV) sind informativ, im Anhang werden die üblichen Verzeichnisse geboten. Damit liegt auch hier ein gelungener Band vor, der Schleiermachers textnahen und hörerbezogenen Predigtstil gut nachzuvollziehen erlaubt.
Band 12 der Predigten 1830–1831 wurde von Dirk Schmid ediert und ist ebenfalls schon 2013 erschienen. Er enthält 84 Predigten Schleiermachers, 31 davon werden zum ersten Mal veröffentlicht. Dazu gehören die Homilienreihe zum Kolosserbrief vom 13. Juni 1830 bis zum 17. Juli 1831 und die Anfänge der Homilie über das Markusevangelium, die vom 14. August 1831 bis zum 2. Februar 1834 reichte, aber auch Predigten zu besonderen Anlässen wie die Konfirmationsrede bei der Einsegnung des Fürsten Bismarck am 31. März 1831 (467–481). Herausragende Ereignisse dieser Jahre wa­ren einmal das dreihundertjährige Jubiläum der Confessio Augus­tana 1830 sowie die Choleraepidemie in Berlin 1831. Die historische Einführung des Herausgebers bietet dazu die wesentlichen Informationen (X–XXIII). Beide Ereignisse hinterlassen Spuren in den Predigten Schleiermachers. Da Schleiermacher seine Predigtreihe zur Säkularfeier des Augsburger Bekenntnisses zwischen dem 20. Juni und 7. November 1830 selbst in den Druck gab, bietet der vorliegende Band zu den ersten acht dieser Predigten erstmals Nachschriften, die sich aufschlussreich mit den Druckfassungen in KGA V/2 vergleichen lassen.
Auch die Choleraepidemie wird in verschiedenen Predigten ausdrücklich angesprochen (26. Juni, 10. Juli, 7. August, 4. September, 9. Oktober und 16. Oktober 1831). Sie klang im Oktober zwar ab, doch noch am 14. November ist ihr Hegel erlegen. Insgesamt hatten in Berlin 1426 Menschen ihr Leben verloren, und die Stadt wurde erst Anfang Februar 1832 für cholerafrei erklärt. Schimmert in Schleiermachers Predigten im Juni und Juli noch die Hoffnung durch, dass die Seuche die Stadt verschonen könnte, so gab es seit dem 28. August eindeutige Verdachtsfälle auch in Berlin. In seiner Predigt über 1Tim 4,8 am 4. September fragt Schleiermacher daher ausdrücklich, wie man jetzt von Gottseligkeit reden kann, »jetzt, wo das Uebel, welches wir fürchteten, wirklich unter uns aufgetreten ist« (666). Seine Antwort ist, dass die Verheißung der Gottseligkeit nicht nur für das kommende Leben gilt, sondern »die Gottseligkeit hat Verheißungen auch für dieses Leben!« (666) Sie ist aber keine religiöse Sicherheitsgarantie, sondern realisiert sich in einer bestimmten Lebensweise. Weil wir »das Ebenbild Gottes« sind (669), haben wir die Möglichkeit, »immer mehr frei [zu] werden von den Banden des irdischen Lebens, und uns über dasselbe stellen können in jeder Beziehung, in welcher dies für das freie Schalten des Geistes noth thut« (672). Wir können frei werden von Sorge, indem wir ganz auf den alles Irdische transzendierenden Geist setzen, und diese »geräuschlose Freiheit« ist es, »in welcher sich allein die Verheißung der Gottseligkeit offenbart« (671). Niemand kann dies allerdings allein für sich selbst tun, sondern jeder kann es immer nur in Gemeinschaft mit den anderen haben. »Die Gottseligkeit ist nicht das Gut eines Einzelnen, und wir haben sie nicht als Eigenthum Jeder für sich, sondern sie ist ebenfalls ein gemeinsames Gut« (676). Wer in dieser Gottseligkeit lebt, der hat »die wahre Sicherheit des Daseins«, die »nicht bezwungen wird durch die Gewalt des irdischen« (676). Denn Gott ist nicht der Gott nur einiger Menschen, sondern der, der durch Christus »uns Alle aus dem Tode hindurchgeführt hat in das Leben«, wie es in der Predigt über Lk 14,18–19 am 16. Oktober heißt (744). Alle Getauften sind zur »Theilname an dem geistigen Leben« berufen, »welches Christus uns mittheilt« (733). Das vermittelt man nicht, indem man Menschen den Schrecken, die Seelenqual und den Tod vor Augen malt und »ein Vernichtungsgefühl von ihnen« fordert, »aus welchem allein das neue Leben hervorgehen könne« (734). Man muss ihnen begegnen wie ein Arzt einem Kranken, und zwar so, dass man »in eine möglichst nahe Gemeinschaft des Lebens« mit ihnen tritt, »wo wir ihnen an uns selbst die Seligkeit zeigen können, zu der sie berufen sind« (735). Gottes Verheißung gilt allen und nur so auch jedem Einzelnen, und sie kommt zu jedem durch uns. In diesem solidarischen Miteinander und der daraus entspringenden Zuversicht kann man die »Noth solch böser Zeit« (744) ertragen. Alle sind geladen, und wir sind gehalten, allen die Einladung zu vermitteln, auch wenn sie nicht alle annehmen.
So hat Schleiermacher gepredigt. Nicht allen hat es gefallen, in dieser Weise den Blick vom biblischen Wort her so entschieden auf dieses irdische Leben zu richten. Aber weil er dieses Leben im Wirken des Geistes in Gottes Leben eingebettet verstand, waren für Schleiermacher, anders als für nicht wenige seiner kirchlichen Zeitgenossen, Naturalismus bzw. Rationalismus und Supranaturalismus keine Gegensätze, an denen man sich theologisch zu orientieren hätte. Das biblische Zeugnis ist vom Prediger für dieses Leben zur Geltung zu bringen. Schleiermacher zeigte in seiner Zeit, wie das verantwortlich geschehen kann.