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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1393–1395

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Martin, Karl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Dietrich Bonhoeffer.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015. 256 S. = Neue Wege der Forschung. Theologie. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-534-26469-8.

Rezensent:

Ralf K. Wüstenberg

In der Reihe »Neue Wege der Forschung« der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ist der vorliegende Band zu Dietrich Bonhoeffer erschienen. Der Band wird von Vertretern des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins verantwortet (zu unterscheiden von der Internationalen Dietrich Bonhoeffer-Gesellschaft). Ziel des Bandes sei »eine erste Einführung in Bonhoeffers Denken und in die Bonhoeffer-Interpretation« (9). Dazu werden Quellentexte und Sekundärliteratur dokumentiert.
Wer auch nur eine oberflächliche Kenntnis der komplexen Quellenlage und reichen Sekundärliteratur hat, der weiß, vor welcher Herausforderung ein solches Unterfangen steht, besonders hinsichtlich der Auswahl von Quellen, wie sie in der 17-bändigen Dietrich-Bonhoeffer-Werkausgabe dokumentiert sind, und der umfangreichen Sekundärliteratur, wie sie in den Dietrich-Bonhoeffer-Jahrbüchern bibliographiert wird und inzwischen auch über das Dietrich-Bonhoeffer-Portal im Internet abrufbar ist. Auch stellt sich der bonhoefferkundige Leser die (im Band unbeantwortete) Frage, wie ein einbändiges Kompendium sich in andere Kompendien einreiht, etwa in die 6-bändige Einführung in die Quellen und die Theologie Bonhoeffers durch Gremmels und Huber (Dietrich Bonhoeffer Auswahl, Gütersloh 2006), die ihrerseits die vierbändige Dietrich-Bonhoeffer-Auswahl von Otto Dudzus (München 1970) ablöste.
Als Kriterien für die Auswahl an Quellen-Texten und Interpretationen werden zum einen »sog. klassische Texte« genannt (wie Widerstand und Ergebung, Nachfolge sowie einige Ethikfragmente); nicht zu den »klassischen Texten« zählen offenbar die Christologie Bonhoeffers, Sanctorum Communio, Akt und Sein oder Gemeinsames Leben. Was die Auswahl der »Fremdtexte« (10) – wie hier die Sekundärliteratur genannt wird – betrifft, gilt, dass man aus »der Überfülle an Literatur vor allem Texte ausgewählt (habe), die nicht so schnell allgemein zugänglich sind«, nach Auffassung der Herausgeber »aber doch den Grundgedanken Bonhoeffers aufgreifen und nach vorn hin fortschreiben.« (10) Thematisch wird in sieben Themenfelder eingegrenzt: von der Biographie Bonhoeffers (13 f.) zu seiner Theologie (36 f.) und seiner Stellung zu den Juden (81 f.), von biblischen Einzelthemen aus seiner Theologie (117 f.) zur Friedensethik und Widerstandsbewegung (170 f.) sowie Kirchenkritik und Kirchenreform (183 f.) bis zur »Bonhoeffer-Rezeption nach dem Krieg bis in die Gegenwart« (229 f.).
Zur Biographie Bonhoeffers werden Texte kurz nach dem ge­waltsamen Tod von George Bell und Franz Hildebrandt dokumentiert sowie ein längerer Text von Bonhoeffers Freund und erstem Biographen Eberhard Bethge. (Bezuglos zum Kapitel bleiben die im Literaturverzeichnis des Bandes auf S. 256 bloß erwähnten jüngeren Biographien, wie u. a. Schlingensiepen, Tietz, und die zum Teil innerhalb der Bonhoeffer-Forschung kontrovers diskutierten neueren angelsächsischen Bonhoeffer-Biographien, wie u. a. Metaxas). Für den Leser informativ bleibt der im Band abgedruckte Beitrag Bethges, auch wenn er hier um etwa ein Drittel gekürzt er­scheint (und das Kriterium der Kürzungen hier wie andernorts nicht sichtbar ist). Im Zentrum des Themenfeldes »Die Theologie Dietrich Bonhoeffers« (36 f.) steht ein Text von Eberhard Bethge von 1955, in dem Bonhoeffer unter den Stichworten »Mönchisch, orthodox, liberal und politisch« charakterisiert wird; es folgt die Dokumentation des Briefwechsels zwischen Bonhoeffer und Barth Anfang der 1930er Jahre (in Auszügen). Den Anschluss an den Text von Bethge begründen die Herausgeber über das Stichwort orthodox. »Dietrich Bonhoeffer und Karl Barth sind beides ›orthodoxe‹ Theologen.« (36) Als dritter Text wird dokumentiert ein Beitrag des Herausgebers des Bandes, Karl Martin, »Bonhoeffers liberales Erbe«.
Nicht dokumentiert bzw. in die Diskussion eingezeichnet wird das epochale Buch zur Theologie Bonhoeffers von Ernst Feil; auch wird die Stufung bzw. der Erkenntnisfortschritt vom Themenfeld Biographie zur Theologie als neuem Themenfeld nicht deutlich. Der Beitrag von Bethge aus dem Jahr 1955 ist in der Kategorisierung deutlich biographisch orientiert, während z. B. Feils Kategorisierung in »Hermeneutik, Christologie, Weltverständnis« für die Betrachtung der Theologie Bonhoeffers adäquater erscheinen könnte. Die Diskussion um das liberale Erbe Bonhoeffers ist, wenn auch ein Seitengleis, sicher interessant; aber auch hier bleibt der Band hinter dem Anspruch zurück, einen Überblick über die Forschungslage zu geben; Martins Beitrag bezieht sich fast durchgehend auf die Arbeiten des Ost-Berliner Theologen Kaltenborn von 1973, der sich zuerst mit dem Verhältnis von Bonhoeffer und Harnack beschäftigt hat, um dann sehr positionell die These zu vertreten, dass beide Theologen »an den Realitäten der faktisch existierenden ›Kirche‹ gescheitert« seien (75).
Würdigend hervorzuheben ist, dass dem Verhältnis Bonhoeffers zum Judentum ein eigenes Kapitel gewidmet ist und dass Schlüsseltexte zur Judenfrage (in Ausschnitten) dokumentiert werden, sowie ein Aufsatz Bethges von 1979 (88–110). Ein Überblick über die Forschungsliteratur, besonders die neuere, wird allerdings nicht gegeben (punktuell wird im Aufsatz von A. Denneke auf F. W. Marquardt Bezug genommen).
Die wissenschaftliche Reihe soll laut Klappentext »fundierte Beiträge über relevante Forschungsbeiträge« liefern, eine »ideale Orientierungshilfe und Materialsammlung für Forschung und Lehre« bereitstellen sowie »effektive Vorbereitung auf Seminare und Prüfungen« bieten. Die Ziele korrespondieren nach Ansicht des Rezensenten nur lose mit den Inhalten des vom Bonhoeffer-Verein verantworteten Bandes, ja es bleibt nebulös, wo überhaupt »Neue Wege der Forschung« beschritten werden.
»Neu« sind nicht die angeführten Positionen aus der Sekundär-literatur: Es handelt sich durchweg um »alte« Beiträge, zum Teil aus den 1950er Jahren. Neu sind auch nicht die Interpretationen, die im Band geliefert werden. Neu ist der Publikationsort. In einem Kompendium an einem wissenschaftlich exponierten Publikationsort müsste aber deutlich werden, wie sich die Positionen der Vertreter des Bonhoeffer-Vereins einzeichnen in die Fülle an Sekundärliteratur. Eine exemplarische Auseinandersetzung hätte hier bereits hilfreich sein können, gerade auch, um dem hehren Ziel einer »Orientierungshilfe und Materialsammlung für Forschung und Lehre« zumindest in Annäherung zu entsprechen. Inhaltlich fällt auf, dass die für Bonhoeffer so bezeichnende innere Verschränkung von Ekklesiologie und Christologie fast völlig ausgeblendet wird und stattdessen das Thema Kirche bei Bonhoeffer in einer kirchenpolitischen Debatte um die Kirchensteuer (wie sie im Positionspapier des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins – Stichwort »Drei-Säulen-Modell« – auch auf der Homepage nachzulesen ist) ihre eigene Klimax findet (214–224). Ein solcher Diskussionsbeitrag ist im Sinne der Pluralität der Interpretationen der Ekklesiologie Bonhoeffers grundsätzlich willkommen, aber der Ort erscheint hierfür fraglich.
Insgesamt handelt es sich, besonders in den Kapiteln zur Friedensethik und der Kirchenkritik, um einen positionellen Diskussionsbeitrag, ja Reader, innerhalb der Bonhoeffer-Forschung und weniger um eine grundlegende »Einführung in Bonhoeffers Denken und in die Bonhoeffer-Interpretation«.