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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1386–1388

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Goris, Wouter, Meyer, Meinert A., u. Vladimír Urbánek [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gewalt sei ferne den Dingen!Contemporary Perspectives on the Works of John Amos Comenius.

Verlag:

Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2016. XXIV, 492 S. m. Abb. Geb. EUR 34,99. ISBN 978-3-658-08260-4.

Rezensent:

Manfred Richter

Der sorgfältig ausgestaltete Band mit Beiträgen sowohl in deutscher wie in englischer Sprache dokumentiert den Großteil der Beiträge einer Tagung in Naarden, nahe Amsterdam, beim Museum Mausoleum Comenius, das an seiner Begräbnisstätte entstand. Hierzu hatte dieses eingeladen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Comeniusgesellschaft (DCG) und zwei Comenius gewidmeten Museen in Tschechien, dem pädagogischen Nationalmuseum in Prag und dem in Nähe seines Geburtsorts errichteten in Uhersk ý Brod. Hierbei zeigte sich die seit dem ersten großen Comeniuskongress nach der europäischen Wende in Prag 1992 gewachsene internationale Zusammenarbeit der älteren mit neu hinzugekommenen Initiativen der Comeniusforschung und -rezeption, indem nunmehr die im selben Jahr des 400. Geburtsjubiläums entstandene deutsche Comeniusgesellschaft Mitveranstalter war und zugleich Forscher aus Polen, der Slowakei, Japan und Korea sich beteiligten. In der Einleitung konnte so auf die Feststellung des Vorsitzenden der DCG, Uwe Voigt, Philosophieprofessor an der Universität Augsburg, hingewiesen werden, dass es »an der Zeit ist, ein europäisches Comenius-Netzwerk zu etablieren und auch über globale Perspektiven der Kooperation nachzudenken«.
Doch wozu?, mag sich fragen, wer eher vage Erinnerungen an einen braven und frommen Schulmeister alter Zeiten mit diesem Namen verbindet (den sozusagen niedlichen »Orbis pictus« vor Augen, den ja auch Goethe noch lobte). Nein – da ist seither quantitativ wie qualitativ Etliches dazugekommen, was zu bedenken noch kaum begonnen wurde. Etwa das erst Mitte vergangenen Jh.s bekannt gewordene Hauptwerk »De rerum humanarum emendatione consultatio catholica«, das Wissenschaft, Politik und Religion gleichermaßen zur Besinnung, Reorientierung und Reorganisation herausfordert. Nicht nur die Schullehrer also, sondern die Verantwortlichen allerseits. Dies zu vermitteln, sei auch die Comeniologie (deren Kritik eine eigene Sektion im Band gewidmet ist) noch nicht hinreichend parat, stellt für die Herausgeber Meinert A. Meyer selbstkritisch fest: Zwar sei die Absicht der Tagung »die Identifikation des pansophischen Denkens im Werk des Comenius und parallel dazu die Bestimmung gegenwärtigen Denkens angesichts globaler Krisen aus pansophischer Perspektive«, doch »der Zustand der heutigen internationalen Comenius-Forschung entspricht na­türlich dieser Aufgabe nur in engen Grenzen«. – Zumindest darf aber dieser Band als Ausweis gelten, dass diese lebendig ist nicht nur in der Detailforschung und dass hierbei keineswegs der Streit um Interpretationen fehlt. Die Comeniusforschung heute ist über das Stadium allzu unmittelbarer, oft »verkehrender« Inanspruchnahme hinaus. So drückte es Klaus Schaller, der im vergangenen Jahr im Alter von beinahe 90 Jahren verstorbene Nestor der westdeutschen Nachkriegs-Comeniusforschung, aus, dem dieser Band gewidmet ist. Eher umgekehrt wird die Frage nach der Brauchbarkeit einer Analogie gestellt: sei es der Situation in der Comenius lebte, des Zeitalters des konfessionell aufgeheizten Dreißigjährigen Kriegs mit der heutigen Weltlage, sei es der Vereinbarkeit seines philosophisch eben »pan-sophisch« gespeisten Denkens, das universale Kriterien vorgibt, mit der heute verlangten und gebotenen allseitigen »Offenheit«. Dazu vollzieht sich ein unterschwelliger Streit um die sachgemäße Interpretation dieses pansophischen Denkens selbst und um eine angemessene Methodik hierzu zwischen historisch-kritischer Textedition (die Prager Ausgabe der Opera Omnia schreitet Band um Band voran) und Textinterpretation, Biographieforschung, Marxismus (streng oder »light«), Ideengeschichte und Mentalitätsgeschichte, mit Konsequenzen für die Einschätzung der Übertragbarkeit comenianischer Einsichten – nicht nur für heutige Pädagogik, sondern schlechthin.
Die Fülle der »zeitgenössischen Perspektiven« spiegelt sich in der Gliederung der Beiträge in sieben Sektionen. Die Siebenzahl selbst, wie auch beim Prager Kongress 1922, mag eine formale An­spielung auf die Siebenteiligkeit des comenianischen Hauptwerks sein, jedoch ergibt sie sich inhaltlich nun von den zeitgenössischen Fragestellungen her. Zugleich zeigen diese die Vieldimensionalität comenianischen Denkens auf, die zur Kenntnis zu nehmen die heutige Welt in Wissenschaft und Praxis hiermit ein­geladen wird. Das gilt, es sei eigens bemerkt, auch für Kirche und Theologie, die diesen Bischof und Theologen eigener Dignität noch keineswegs erkannt haben. Der Parcours durch die knapp vierzig Beiträge, denen jeweils »Abstracts« in Deutsch und Englisch und Literaturangaben beigegeben sind, kann nur Stichworte geben. Wenn es nun nur für einige Sektionen hier möglich ist, sie vorzustellen, so ergibt dies freilich ein erneut verkürztes Bild der umfassenden Denkleistung des Comenius, was m. E. auch für diese Theologische Literaturzeitung zu bedauern, aber aus Platzgründen nicht vermeidbar ist. Es seien hier also nur die Sektionen Philosophie und Theologie herausgegriffen.
Unter Teil I Philosophie analysiert der Amsterdamer Philosophieprofessor Henk E. S. Woldring die spezifisch comenianische Methodik der (neben Analyse und Synthese) »Synkrise«, ein für Comenius zentrales Verfahren, das ihn auf diese Weise »zwischen Utopie und Realismus« vermitteln lasse.
In anthropologischer Hinsicht stellt die Pädagogikprofessorin an der ostpolnischen Universität Siedlce Barbara Sitarska »Freiheit, Verantwortung und Identität« als »Schlüsselkonzepte« bei Comenius für die pädagogische Tätigkeit heraus. Shinchi Sohma, Professor an der Hiroshima Universität, Japan, erläutert in Anknüpfung an Jan Patočkas Interpretation von Comenius als einem Denker der »offenen Seele« dessen »Offenheits«-Forderung als gegenwartskritische Perspektive: Spontaneität als Gegenbegriff zu Gewalt.
Erwin Schadel, langjähriger Leiter der Bamberger Forschungsstelle für Interkulturelle Philosophie und Comeniusforschung, fragt in seinem Beitrag »Ternarius per omnia sparsus«, »worin die tiefste Wurzel in Comenius’ Denken und Handeln besteht«. Er sieht sie, entsprechend seiner vielfach begründeten »ontodynamischen« Interpretation, in des Comenius »pan-sophischer Konzeption der Gesamtheit der analogisch miteinander verbundenen Wirklichkeitsbereiche (des Göttlichen, des Menschen und der Welt)«, die erst ermögliche, »Ganzheit« (das berühmte comenianische »PAN«) zu denken. Hierbei setzt er sich gegen den Mainstream der von der phänomenologischen Methode bestimmten Comeniusforschung ab.
Dem Verständnis der comenianischen Metaphysik gewidmet ist auch die Untersuchung des Professors für Mittelalterliche Philosophie an der Amsterdamer Freien Universität Wouter Goris, der der Frage nachgeht, warum Comenius in seiner erst postum veröffentlichten »Janua rerum«, im Unterschied zu einer zwischenzeitlichen Fassung von 1643, zu deren ursprünglicher Form zurückgeht, um eine rein transzendentale Einstellung zu gewinnen, die »auf die Integration menschlicher Partikularität in die Universalperspektive der Menschheit und auf die Verbannung des Irrtums« zielt.
Die Sektion II Theologie wird eröffnet durch den Beitrag von Hans van der Linde, Leiter des Naardenmuseums, der unter Bezug auf die Studien seines Vaters, Marinus van der Linde (Autor von »Die Welt hat Zukunft«), die Konzeption des Comenius von der »Verbesserungs-Bedürftigkeit« der »menschlichen Angelegenheiten« in den von ihm so artikulierten drei Hauptbereichen durch die Aufnahme des zumal in der reformierten Theologie bekannten Topos des »dreifachen Amtes Christi« verständlich machen kann: Christus ist Lehrer, Pries­ter und König, und in seiner Nachfolge haben wir es in der Welt von heute zu sein in Wissenschaft und Schule, in Kirche und Politik – zugunsten der »Zukunft« der Welt.
Die in mehreren Sprachen publizierende Komparatistikprofessorin Danuta Szymonik, lehrend an den Universitäten Lublin und Siedlce, analysierte die Briefformen bei Comenius als literarische Gattung und in privater Kommunikation hinsichtlich der stets präsenten Dimension des »Sacrum« in den Argumentationen.
Jiří Beneš, Philosophisches Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, erhellt den Gebrauch des Comenius von Bibelübersetzungen (zumeist Vulgata, dazu diverse andere lateinische Editionen, dazu die Kralitzer Bibel usw.), wobei er interessante Hinweise auf Abweichungen vom Schriftsinn etwa bei Theodore de Bèze gibt, wo er die sprachliche Vorbereitung der Prä-destinationslehre »wittert« – was nicht ausschließt, dass er selbst gelegentlich etwa den Begriff der Emendatio, der ihm so wichtig ist, in einem Psalmvers entdeckt, der allgemein etwas anders übersetzt wurde. Abschließend versucht der Vf. einen Aspekt aus der theologischen Kontroverse mit Pater Valeriano Magni im Vorfeld des Colloquium Charitativum zu Thorn, 1645 (hierzu vgl. Friedrich Schweitzer in ThLZ 140 [2015], 995–997), fruchtbar zu machen für heutige ökumenische Zusammenarbeit. Er interpretiert einen an Magni gerichteten lateinischen Essay zu dem von diesem vorgegebenen Thema De regula catholica fidei (nämlich die Heilige Schrift) als womöglich ersten Ansatz einer ökumenisch konzipierten Fundamentaltheologie.
Unter den Beiträgen zu Teil III Intellectual History/Ideengeschichte finden sich erneut Erwägungen zum Thema der von Comenius geforderten »Ganzheitlichkeit« – bei Vera Schifferová, Tschechische Akademie der Wissenschaften, dargelegt in Fortführung des Ansatzes von Jan Patočka, während Uwe Voigt Comenius’ Kulturbegriff, zuvor von Jiřina Popelová und Josef Nolte ins Licht gerückt, in den Kontext der Debatte um den Clash of civilisations stellt – als dessen einzig erfolgversprechendes Heilmittel: cultura universalis.
Roman Mnich, Institut für interkulturelle Studien an der Universität Siedlce, arbeitet den beachtlichen Tatbestand heraus, dass es – selbstredend neben denen anderer philosophischer Orientierungen – gerade Vertreter der »phänomenologischen« Schule Edmund Husserls waren, die für wesentliche Interpretationen jüngerer Zeit des comenianischen Erbes stehen, während die junge Forscherin an der Universität Pardubice, Kateřina Śolcová, einen erhellenden Vergleich vorstellt der Konzeptionen von Geschichte bei Comenius (samt seinem inhärenten Chiliasmus – den er freilich nicht zur Bedingung der Zusammenarbeit mit anderen machte!) mit der traditionellen des römisch-katholischen Bischofs Jaques-Bénigne Bossuet (mit dem sich auch Leibniz auseinandersetzte) und der der beginnenden »modernen« Geschichtsauffassung bei Voltaire.
Die Sektionen IV–VII befassen sich mit weiteren Aspekten der Comeniusrezeption, seiner Sprachphilosophie, seinem Politikverständnis und ausdrücklich last but not least seiner Pädagogik, deren Verdienst es nicht zuletzt ist, erstmals den Gedanken des lebenslangen Lernens (»(LLL«) systematisch begründet und ausgeführt zu haben: auch hier unübersehbare Gegenwartsrelevanz.