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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1384–1386

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schwager, Johann Moritz

Titel/Untertitel:

Briefe aus Jöllenbeck. Hrsg. v. F. Stü-ckemann.

Verlag:

Bielefeld: Aisthesis Verlag 2016. 587 S. = Veröffent-lichungen der Literaturkommission für Westfalen, 64. Reihe Texte, 30. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-8498-1129-7.

Rezensent:

Albrecht Philipps

Ein Buchtitel mit dem Ortsnamen Jöllenbeck galt bisher im Be­reich der Westfälischen Kirchengeschichte als sicheres Indiz dafür, dass es sich um eine Veröffentlichung zum Pietismus und zur Er­weckungsbewegung im Ravensberger Land handeln müsse. Jöllenbeck, heute ein nördlicher Stadtteil Bielefelds, ist eng verbunden mit dem Wirken des Pastors Johann Hinrich Volkening (1796–1877), der hier zwischen 1838 und 1869 wirkte und eine der Hauptpersonen der Ravensberger Erweckung war. Mit dem nun vorgelegten B and von Frank Stückemann wird man für die Westfälische Kirchengeschichte und damit exemplarisch für die gesamte Ge­schichtsschreibung ein etwas differenzierteres Bild der Dinge zeichnen können. Die Gemeinde Jöllenbeck steht nämlich auch und vielleicht sogar vor allem für eine ländliche Volksaufklärung, die mit dem Jöllenbecker Landpfarrer und Aufklärer Johann Mo-ritz Schwager (1738–1804) eine prominente, bisher freilich vielfach übersehene, Zentralfigur hatte.
Die »Wiederentdeckung« (9) S.s, an der Stückemann durch seine Promotion über Schwager aus dem Jahr 2009 einen wesentlichen Anteil hat, wird nun mit diesem Band von Briefen aus Jöllenbeck aus den Jahren 1770 bis 1804 ergänzt. S., der sich schon während seiner pfarramtlichen Tätigkeit in Jöllenbeck massiver Kritik und Schmähungen einflussreicher Gegenaufklärer ausgesetzt sah, hat einen reichen Schatz an Briefen hinterlassen. Nur ein Teil ist allerdings auffindbar. In seiner Autobiographie erwähnt S. die verlo-renen Briefe etwa an Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Justus Möser, Friedrich Gedike, Erich Biester, Johann Salomo Semler, Johann Joachim Spalding und Johann Ludwig Ewald. S. stand also mit den führenden Denkern der deutschen Aufklärung in Korrespondenz. Briefe an Friedrich Nicolai, Christoph Martin Wieland und Anton Matthias Sprickmann sind hingegen erhalten und in diesem Band veröffentlicht, ebenso die Brautbriefe, Privatkorrespondenz und viele dienstliche Schreiben.
Die Einleitung von Stückemann zeigt, wo die Konfliktlinien zwischen Aufklärung und Pietismus verliefen. S. war ein »Anwalt der lütken Luie« (42) seiner Gemeinde. Diese »kleinen Leute« wurden durch das Großbauerntum ausgebeutet; S. verglich das mit »Sklaverey« (44). Er setzte sich für die Pockenimpfung ein, hatte ein ausgeprägtes pädagogisches Wissen und Interesse und ging massiv gegen landläufige Teufelsvorstellungen vor. Im Pietismus erkannte S. vor allem eines, nämlich den oft erfolgreichen Versuch, die Armen auf dem Land, »Heuerlinge, Hüßen, Kötter« (44), klein zu halten, sie auf einen Ausgleich im Jenseits zu vertrösten, eine Volksgesundheit und -aufklärung zu verhindern, das Großbauerntum zu stützen und so die gegebene Ungerechtigkeit kirchlich zu sanktionieren. Dass »der Pietismus brandmarkte und brandschatzte« (45), war im Urteil von S.s Urenkel Hermann Schauenburg besonders im Ravensberger Land deutlich zu erkennen, »Advocatenkniffe und Quacksalberränke blieben nicht aus« (45). Die evangelische Kirche und die Kirchengemeinde waren weit entfernt von einer auf Gemeinnützigkeit, Ausgleich und Entwicklung persönlicher Begabungen gerichteten Einstellung. Da kam es immer wieder zu massiven Konflikten S.s mit dem Großbauerntum und der herrschenden, einflussreichen Oberschicht. Erst als mit der Auflösung der Klöster und Stifte 1810 das Recht zur Pfarrwahl auf das Jöllenbecker Presbyterium überging, konnte das Bauerntum sich einen ihm genehmen Pfarrer selbst wählen. Statt eines querdenkenden Volksaufklärers wurde in der Person Volkenings nun ein Pfarrstelleninhaber einflussreich und prägend, der den »materiellen und geistigen Pauperismus in Jöllenbeck beförderte« (45) und »als verlängerter Arm der beati possidenti die kleinen Leute noch kleiner« (ebd.) zu machen vermochte. Sie wurden durch geschickte Agitation dazu gebracht, nicht sozialdemokratisch zu wählen, sondern deutschnational. Dass die Erweckung in diesem Licht die preußische In­nenpolitik beförderte und als ihr »verlängerter Arm« (11) erscheint, sieht Stückemann völlig zu Recht. Weberaufstände wie in Schlesien gab es denn auch in der Textilregion Ostwestfalen nicht, die Tuberkuloserate war hier so hoch wie sonst nicht im Deutschen Reich (vgl. ebd.). Man wird daher das Bild von Pietismus und Erweckung, die sich volksnah gaben, den Menschen nachgingen und sich auch für ihre sozialen Anliegen einsetzten, etwas differenzierter interpretieren müssen. S. jedenfalls ist ein Volksaufklärer, der in regionalen, das heimatkundliche Interesse übersteigenden Bezügen hier schon früh einen anderen Aspekt christlicher, kirchlicher Arbeit, Seelsorge und Pädagogik gesetzt hat. Insofern sind die nicht einfach zu lesenden Briefe S.s keine versponnenen Gedanken aus einer schöngeistigen Welt, sondern haben immer einen handfesten so­zialen Hintergrund. Stückemann ist es zu verdanken, dass dieser wichtige Aspekt der Kirchengeschichte deutlich zutage tritt, dass auch westfälische Kirchengeschichte nicht nur Geschichte des Pietismus und der Erweckungsbewegung ist, sondern einen durchaus weiten Geist geatmet hat.