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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1382–1384

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schröder, Christian

Titel/Untertitel:

Armenfürsorge und katholische Identität. Südbaden und die Saarregion im historischen Vergleich (1803–1870).

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2014. 360 S. = Religion – Kultur – Gesellschaft. Studien zur Kultur- und Sozialgeschichte des Christentums in Neuzeit und Moderne, 3. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-12020-5.

Rezensent:

Gerhard Wegner

Diese Arbeit von Christian Schröder entstammt dem Sonderforschungsbereich 600: »Fremdheit und Armut, Wandel von Inklu-sions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart« an der Universität Trier. Sie zeichnet anhand von insgesamt 14 sehr eindrucksvoll durchgeführten Fallstudien in Südbaden und in der Saarregion die Entstehung der Armenfürsorge mit Blick auf die Entwicklung katholischer Identität in der ersten Hälfte des 19. Jh.s bis zur Reichsgründung nach. Wie der Vf. betont, sei man damals noch kaum davon ausgegangen, dass die Caritas eine Grundfunktion der Kirche sei. Beginnend mit den Transformationen im 19. Jh. haben sich jedoch in dieser Hinsicht Veränderungen ergeben, so dass heute entsprechende Identifikationen überall vollzogen werden. Immer deutlicher entwickelt sich eine innerkirchliche Wahr nehmung von caritativen Handlungsformen als integralen Be­standteil der eigenen Identität, die auch mit Zuschreibungen von außen korrespondieren (19).
Das Interesse der Studie richtet sich dementsprechend darauf zu eruieren, unter welchen Bedingungen sich dieses heute so stark formulierte Identitätsmerkmal herausgebildet hat. Der Zeitraum zwischen Säkularisation und der Gründung des Deutschen Reiches sei in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung, da sich damals entscheidende Umbrüche von der ständischen Ordnung des alten Reiches zu dem modernen Sozialstaat vollzogen. Die katholische Hierarchie und das sich immer deutlicher herausbildende katholische Milieu reagierten auf Massenarmut, Pauperismus und die prekären Lebensformen der Industriearbeiterschaft am Beginn der indus­triellen Entwicklung. Gesprochen wird in dieser Hinsicht von einem Wettkampf der Barmherzigkeit, insbesondere zwischen den konfessionellen Initiativen zur Armutsbekämpfung und be­ständigen staatlichen Vorhaben, Interventionen und Eingriffen. Deutlich ist, dass der Kirche aufgrund ihrer Kompetenz in der Armenfürsorge neue gesamtgesellschaftliche Funktionen zu­wuchsen, ob­wohl sie auf der anderen – eher religiösen – Seite erhebliche Funktionsverluste seitens der Säkularisation erlitt. Untersucht werden zwei Teildiskurse: auf der einen Seite der liturgisch paränetische und auf der anderen Seite der kirchenpolitisch publizistische.
Warum nun die Auswahl der Regionen Südbaden und Saarregion? Dies hängt mit unterschiedlichen, ja, vollkommen gegensätzlichen ideologisch mentalen Prägungen der beiden Regionen zusammen. Während Südbaden insbesondere von der katholischen Spätaufklärung um den dortigen Generalvikar Ignatz Heinrich von Wessenberg beeinflusst war, galt die Saarregion als das Mekka der Ultramontanen. Entsprechend unterschiedlich, so ist zu erwarten, entwickelten sich auch die Initiativen in Richtung Armutsbekämpfung und die Herausbildung sozialen Engagements in den Kirchen. Diese Differenzierung selbst wird vom Vf. auch deswegen vorgenommen, um überhaupt auf die Existenz einer katholischen Aufklärung hinzuweisen, die im historischen Rückblick oft gegenüber dem insgesamt vorherrschenden Ultramontanismus vernachlässigt wird. Der Ultramontanismus wurde für viele Katholiken gerade durch die Verurteilung von außen zu einem starken Identitätsmarker, obwohl auch das zentrale Anliegen katholischer Aufklärer in einer größeren Verchristlichung der Gesellschaft gesehen wurde. Im Blick auf den Ultramontanismus ist die Saarregion noch deswegen von großer Bedeutung, da hier eine massentauglich sichtbare Überwindung der aufklärerischen Religionskritik bei der Trierer Heilig Rock Wallfahrt von 1844 und die starke Propagierung von Marien- und Eucharistieverehrung von besonders großer Be­deutung waren.
Die aufgeworfenen Fragestellungen werden in drei analytischen Schritten bearbeitet: Zunächst wird die Armenfürsorge in mehreren Fallstudien auf der Mikroebene vor Ort analysiert. Es folgen dann regionale Typisierung und die Erfassung von Schwerpunkten auf der Mesoebene, bevor schließlich auf der Makroebene der eigentliche Vergleich vollzogen wird. Den Schwerpunkt der Arbeit stellen die 14 Fallstudien dar, die in einer faszinierenden Weise die Vielfalt des lokalen Armenfürsorgewesens in den beiden Regionen entfalten. Das, was hier beschrieben wird, lässt sich kaum wirklich vereinheitlichen und auch in einer Rezension nicht wirklich angemessen würdigen. Wer jedoch Material über die Situation in Freiburg, Konstanz, Breisach, Überlingen, Saarlouis, Rottweiler, Saarbrücken oder andere Orte benötigt, der sei auf dieses Buch dringend hingewiesen.
Was nun die Situation in den beiden untersuchten Regionen selbst anbetrifft, so bieten die beiden hervorragend formulierten und übersichtlichen »Beobachtungen zur katholischen Armenfürsorge« sehr gute Zusammenfassungen. Unterschieden wird jeweils zwischen »Akteuren«, »institutionellen Formen«, »Schwerpunkten«, »Motiven und Begrifflichkeiten«, um schließlich nach der »Armenfürsorge als Merkmal katholischer Identität« zu fragen.
Im Fall der Region Südbaden wird die exponierte Rolle der Pfarrer deutlich, deren Tätigkeiten sich kaum in einen kirchlichen und staatlichen Zuständigkeitsbereich trennen lassen. Das Armenwesen war keine rein kirchliche, sondern eine Gemeindeangelegenheit. Der Pfarrer war hier nicht nur Repräsentant der Kirche, sondern spielte auch eine bürgerliche Rolle als vorbildlicher Christ, und dies wurde ihm auch angesonnen. Was die institutionelle Form anbetrifft, so spielten insbesondere Spitalstiftungen eine große Rolle, zunächst noch als Multifunktionsanstalten und dann später im Sinne von Hospitälern. Um sie zu betreiben, waren katholische Schwestern von größter Bedeutung – wie auch in der Saarregion. Hier flossen Ideale von bürgerlicher, wohltätiger und christlicher Nächs­ tenliebe im Sinne der aufklärerischen Kongruenz von Christlichkeit und Bürgerlichkeit zusammen. Schwerpunkte der Arbeit lagen in der Auseinandersetzung mit dem Problem des Bettels und im Bereich Bildung und Erziehung. Und was »Motive und Begrifflichkeiten« anbetraf, so findet sich hier wie auch in der Saarregion die immer wieder zu beobachtende grundsätzliche Unterscheidung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Faktoren auf erster und unverschuldeten, sowie selbst verschuldeten Faktoren auf zweiter Ebene. Die klassische Unterscheidung zwischen würdigen und unwürdigen Armen war tief prägend. Es ging zudem nicht nur um die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Armen, sondern auch um ihre ganzheitliche menschliche Entwicklung: die Erziehung zur Sittlichkeit durch Religion (185). »Die Formulierung der unveräußerlichen Würde des Menschen wurde rückgebunden an die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Armut wurde wiederum als klare Verletzung dieser Würde bezeichnet, ihre Überwindung als Voraussetzung für ein christliches Leben.« (185) Wert wurde auch auf Inklusion der Armen in den Gottesdienst gelegt. »Der Gottesdienst stellte damit vermutlich den einzigen Raum dar, in dem alle gesellschaftlichen Gruppen einer Stadt repräsentiert waren.« (185) Insbesondere nach den Ereignissen 1848/49 kommt es dann immer mehr zur Ausdifferenzierung der entsprechenden armutsbekämpfenden Aktivitäten in der Auseinandersetzung mit staatlichen Zugriffen und ähnlichen protestantischen Aktivitäten. Dabei lässt sich allerdings in der südbadischen Region eine wesentlich geringere Heftigkeit dieser Auseinandersetzung als an der Saar feststellen.
Was die Situation an der Saar anbetrifft, so galt hier infolge der französischen Besatzungszeit, und dann später der preußischen Zuständigkeit, Armenfürsorge grundsätzlich als staatliche Aufgabe, zu deren Erfüllung sich allerdings der Staat der Pfarrer bediente. Erst nach und nach differenzierten sich hier spezifische Aktivitäten heraus. Schwerpunkte waren auch hier die Bekämpfung des Bettels, dann aber insbesondere die Bereitstellung von Krankenpflege und die Hinwendung zu Bedürftigen, Arbeitern und den mit der Industrialisierung einhergehenden neuen Formen von Armut sowie der Entwicklung erster Ansätze von sozialem Wohnungsbau. Was Motive anbetrifft, so arbeitet der Vf. heraus, dass die traditionelle Verbindung von Religiösem und dem Geben von Almosen zumindest in dieser Region noch weitgehend lebendig war. Der Almosengabe kam dabei die gleiche Funktion zu wie der Lesung der gestifteten Messen: Sie diente klassisch dem Seelenheil des Stifters; die Armen hatten als Gegenleistung für die Betreffenden zu beten. Die Auseinandersetzungen an der Saar mit dem Staat waren sehr viel stärker als in Südbaden und entsprechend waren auch Versuche der Vereinnahmungen von konfessionellen Armenfürsorgeeinrichtungen wesentlich prägnanter. Katholiken bemühten sich – gerade auch in der Auseinandersetzung mit protestantischen Mehrheiten – um die Anfänge lokaler Milieubildung. In diesem Kontext zeichnet sich, so auch der Vf., die Tendenz ab, »dass häufig nicht die lokal vorgefundene Armut den unmittelbaren Ausschlag zur Hilfe gab, sondern die Hinwendung zu einer intensivierten Form der Frömmigkeit, die sich dann auch in Werken der Nächstenliebe äußerte.« (316)
Der Vergleich zwischen den beiden Regionen zeigt folglich eine Reihe von markanten Differenzierungen des Verhältnisses von Armenfürsorge und katholischer Identität auf. Während in der badischen Region der Pfarrer sehr deutlich auch eine bürgerliche Rolle wahrnahm, was mit der Existenz eines professionellen Diskurses einherging, stellten die Pfarrer an der Saar eher externe Experten dar, die in dieser Hinsicht nicht selten mit den staatlichen Kompetenzen konkurrierten. Hier kam es folglich zu einer Art lokaler Selbstverwaltung unter Staatsaufsicht. Während in der aufklärerischen Tradition von einem grundsätzlich optimistischen Menschenbild eine Integration des Christlichen in der Gesellschaft favorisiert wurde, fanden sich an der Saar eher klare Tendenzen zur konfessionellen Abgrenzung.
Fazit: »Am Ende dieses beobachtenden Prozesses der Rollenfindung staatlicher und kirchlicher Akteure steht weder ein in Armutsfragen allmächtiger Staat noch eine marginalisierte Kirche.« »Statt einer Marginalisierung ist also vielmehr die Herausbildung einer spezifischen Aufgabe katholischer Träger und Akteure im Gesamt-system Armenfürsorge zu beobachten.« (320) Schließlich fasst der Vf. seine Ergebnisse prägnant in drei Thesen zusammen:
1. Die unterschiedlichen Konzepte der Armenfürsorge beruhen auf unterschiedlichen Konzepten zur Umsetzung des christlichen Liebesgebots allgemein. Die Auseinandersetzungen über den Charakter von Stiften und Spitälern kreisen immer auch um unterschiedliche Konzepte von Religiosität und Christlichkeit.
2. Teilweise entgegen eigener Überzeugungen wirkte der Katho-lizismus so auch als Modernisierungsfaktor und trug durch Verschärfung gesellschaftlicher Ausdifferenzierung zur Bildung zivil-gesellschaftlicher Strukturen bei. Dahinter stand allerdings keine Bejahung einer pluralen Öffentlichkeit, die die katholische Kirche mittragen würde.
3. Immer deutlicher stellt sich Armenfürsorge als ein Bestandteil der katholischen Identitätskonstruktion heraus. Dies gilt für beide katholische Lager. Gleichwohl ist von einer Trennung von Kirche und Staat und Kirche und Gesellschaft in dieser Zeit noch in keiner Weise zu sprechen. Ein Trend zur Marginalisierung der Kirche war erkennbar, aber: »Diese Entwicklung suchte man durch Erweis der zentralen Funktion der Kirche und ihrer Akteure für die Gesellschaft zu stoppen.« (325)