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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1368–1370

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Witulski, Thomas

Titel/Untertitel:

Die vier »apokalyptischen Reiter« Apk 6,1–8. Ein Versuch ihrer zeitgeschichtlichen (Neu-)Interpretation.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) 2015. 212 S. = Biblisch-Theologische Studien, 154. Kart. EUR 26,99. ISBN 978-3-7887-2900-4.

Rezensent:

Martin Karrer

Thomas Witulski (Bielefeld), der derzeit profilierteste Vertreter einer zeitgeschichtlichen Deutung der Johannesoffenbarung, entwickelt seit etwa zehn Jahren (Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian, FRLANT 221, 2007) eine höchst prägnante These: Die Nah- und Enderwartung der Apk sei vor dem Hintergrund der geschichtlichen Ereignisse zur Zeit Trajans (Kaiser 98–117) und Hadrians (Kaiser 117–138) zu verstehen. Unter diesen Kaisern blühte Rom, doch Judentum und Christentum brachten traumatische Erfahrungen. Unter Trajan brach ein Aufstand der Juden in Nordafrika (in Ägypten und in der Kyrenaika) aus und wurde niedergeschlagen (116–117), unter Hadrian der Bar Kochba-Aufstand in Palästina (132–135), das Ende Jerusalems als jüdischer Stadt (danach war es Aelia Capitolina). Die Apk spiegelt – so W. – beides, den Bar Kochba-Aufstand in Kapitel 11 (Apk 11 und der Bar Kokhba-Aufstand, WUNT II 337, 2012) und den nordafrikanischen Aufstand in den apokalyptischen Reitern 6,1–8 (so unsere Studie).
Hätte W. Recht, wäre die erstmals von Irenäus (haer. V 30,3) vorgeschlagene und von der Mehrheit der jüngeren Forschung bevorzugte Datierung der Apk in die letzten Jahre Domitians (um 95) zu korrigieren. Daher fand W. erhebliche Beachtung, als er die These des vorliegenden Beitrags auf dem Kongress der SNTS 2014 vortrug. Das ist gut verständlich. Denn W.s Argumentation ist sehr klar durchgeführt. Die Deutungen von 6,1–8 sind durch zwei Fragestellungen geprägt:
– die, ob der erste Reiter (weil auf weißem Pferd) kontrastiv zu den Reitern 2–4 eine helle Deutung erfordere, oder ob alle Reiter einen einheitlichen Zusammenhang formten (was W. »integrativ« nennt; 4);
– und die, ob Pferde und Reiter Symbole wären (z. B. für das göttliche Strafgericht) oder ob sie konkrete Figuren meinten (ungeschichtlich Antichrist u. ä., geschichtlich Parther u. ä.; 6[–11]).
Die bisherige Forschung entscheidet diese Fragen höchst unterschiedlich, wie W. im ersten Teil seiner Arbeit breit ausführt (1–105). Er analysiert dort sprachliche Details und Einzelaspekte aus einer Fülle von Forschungsarbeiten (einschließlich der hellen Deutung des ersten Reiters durch Michael Bachmann, Jens Herzer u. a.; 51–63). Im Ergebnis weist er die kontrastiven und die symbolischen Interpretationen als weniger plausibel ab. Umgekehrt, mit W. gesagt, ist die Perikope »grundsätzlich integrativ« – d. h. im Sinne eines einheitlichen Blickwinkels auf die Reiter – »auszulegen« und sind die Reiter »personal« zu denken (105[–106]).
Mehr als alle Einzelheiten dieses Teils beschäftigt den Rezensenten eine Darstellungslücke: W. widmet der Form von Apk 6,1–8 keinen eigenen Abschnitt. Diese Form aber schafft, ob wir sie als Vision vor dem Hintergrund des Himmels von Apk 4–5, als Aktualisierung von Sach 1,8 und 6,1–8 oder (römischer gedacht) als Zeichen entschlüsseln, das die Leserinnen und Leser durch prägnante Bilder warnt, eine Abstraktion gegenüber der unmittelbar zeitgeschichtlichen Lektüre, zu der W. strebt.
In sich ist diese Lektüre – das ist dem zweiten Teil der Studie (107–199) voll zuzugestehen – geschlossen: Der erste Reiter lässt sich »zwanglos« (135) auf Trajan beziehen, wenn wir weiß als Herrschaftsfarbe, den Sieg des Reiters als Verweis auf Trajans Triumphe und den Kranz in Linie der »corona civica« (einer Auszeichnung der Kaiser seit Augustus) verstehen; dass Apk 6,2 keine konkrete Plage nennt, passt insofern zu Trajan, weil er seine Feldzüge weit von der Asia entfernt führte (bes. 134–147).
Der zweite Reiter (147–160) charakterisiert nach W. den Führer des nordafrikanischen jüdischen Aufstandes. Denn »pyrrhos« (»feuerrot«; vgl. Sach 1,6) und das große Schwert bzw. Schlachtmesser verweisen auf eine jüdische Einzelgestalt, wie es dieser Führer war, der in Drittquellen Andreas oder König Lukuas heiße. W. stellt den Bezug zwischen »rot« und Israel über Sach 1,8(–12a) her (149). Empfänger der Apk in der Gegend Trojas könnten m. E. allerdings mindestens so sehr an Pyrrhos (= Neoptolemos) denken, der einst Priamos tötete (vgl. Vergil, Aeneis II 506–558; in der Apk-Forschung bislang nicht berücksichtigt), wie an einen Aufstandsführer jenseits des Meeres.
Der dritte Reiter verweist laut W. auf den (namentlich nicht bekannten) Statthalter der Provinz Asia, der einen durch den afrikanischen Aufstand ausgelösten Getreidemangel bewältigen und zugleich verhindern musste, dass die bedeutenden Öl- und Weinanbaugebiete der Asia Getreidefeldern geopfert wurden (180 f.). Richtig kritisiert W. vorschnelle Anwendungen von Quellen über die Zeit Domitians (Sueton, Dom. 7 u. a.). Indessen fehlt ihm seinerseits eine unmittelbare Quelle für seine These (Rekrutierungen dagegen weist er sehr interessant nach; 181–183).
Die Doppelgestalt des vierten Reiters schließlich meint nach W. die römischen Präfekten M. Rutilius Lupus und Q. Marcius Turbo, die den Aufstand in Nordafrika im Kampf niederschlugen (vgl. das Schwert); Hunger, Todesstrafe und wilde Tiere vergrößerten die Not wie später beim Bar-Kochba-Aufstand (zu diesem vgl. Cassius Dio LIX 14,1 f.; W. bes. 192–198).
Wer W.s Datierung der Apk folgt, wird sie durch seine Beobachtungen unterstützt und bestätigt finden. Wer die herkömmliche, frühere Datierung bevorzugt (wie der Rezensent), dem werden die Argumente nicht genügen; denn sie machen Bezug auf die Ereignisse 116–117 lediglich möglich, nicht zwingend. Doch Gehör verdienen sie auf jeden Fall. Theologisch ergäben sie eine relevante Pointe: Der Aufstand würde ebenso als blutig und schadenbringend gebrandmarkt (2./3. Reiter) wie seine Niederschlagung (4. Reiter). Die Geschichtskritik der Apk wäre weit differenzierter zu betrachten, als wir es gewohnt sind.