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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1360–1362

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Jantsch, Torsten [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Frauen, Männer, Engel. Perspektiven zu 1Kor 11,2–16. M. Beiträgen v. D. S. du Toit, T. Jantsch u. L. T. Stuckenbruck u. e. Bibliographie v. J. Brouwer.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht) 2015. VIII, 247 S. = Biblisch-theologische Studien, 152. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-7887-2867-0.

Rezensent:

Christine Gerber

1Kor 11,2–16 ist selbst für die wohlmeinendsten Paulusausleger ein problematischer Text. Paulus greift zu verschiedensten Argumenten, um dagegen vorzugehen, dass Frauen in Korinth ohne Kopfbedeckung oder mit offenen Haaren im Gottesdienst beten und prophezeien. Nicht nur stört, dass der Abschluss V. 16 etwa so triftig klingt wie das Argument »Das tut man (Frau) nicht«. Auch die Erklärung, dass schon die Natur lehre, dass lange Haare dem Manne zur Unehre gereichen, Frauen hingegen zur Ehre (V. 14 f.), mag Aufschluss geben über den Haarwuchs des Paulus, er­mangelt je­doch mittlerweile (wie schon zu Simsons Zeiten?) der Plausibilität.
Schwierigkeiten bereitet der Text aber bereits deshalb, weil nicht einmal eindeutig ist, welches Verhalten im Gottesdienst den Anstoß des Paulus erregt: dass die Frauen wie die Männer ihr Haupt unbedeckt tragen (darauf deuten V. 5a.6a.13b – so die klassische Auslegung, die noch die liturgische Praxis in etlichen Kirchen bestimmt) oder dass die Frauen ihre langen Haare nicht hochgesteckt, sondern offen tragen (darauf deuten V. 14b–15 und V. 6b). Angefragt wird auch die Konsistenz der Argumentation: Fällt Paulus sich nicht selbst ins Wort, wenn er zunächst aus der Schöpfung eine Hierarchie der Geschlechter erklärt (V. 7–9), um dann zu sagen, »im Herrn« seien Mann und Frau nichts ohne den bzw. die andere (V. 11)? Und spricht Paulus in V. 7 – im Widerspruch zu Gen 1,26 f. – den Frauen die Gottesebenbildlichkeit ab? Am meisten Rätsel gibt V. 10 auf: Meint die Aussage, dass die Frau ἐξουσία »über ihrem Haupt« haben müsse, dass sie einen Schleier braucht, eine männliche Autorität oder Selbstbestimmtheit über ihren eigenen Kopf? Und was machen die Engel in V. 10 bzw. im Gottesdienst?
Über diese und weitere Fragen, die seit der Alten Kirche diskutiert werden, gibt der vorliegende Sammelband, der aus einem Münchner Symposium hervorgegangen ist, einen hervorragenden Überblick, und er schlägt für zentrale Probleme der Auslegung Lösungen vor. Über den Stand der Forschungsdiskussion informiert detailliert und mit einem Schwerpunkt auf den letzten beiden Jahrhunderten (und bereits einigen Lösungsvorschlägen) die Einleitung des Herausgebers T. Jantsch (1–60). Ihr korrespondiert am Schluss eine ausführliche Bibliographie von J. Brouwer, die sowohl chronologisch wie thematisch geordnet ist (187–235). Auswahlregister (zu Stellen und Autorinnen und Autoren, leider aber nicht zur Bibliographie) er­schließen den Band. Das Herzstück bilden drei Beiträge, die mittels einer Argumentationsanalyse sowie semantischer, sozial-, kultur- und religionsgeschichtlicher Untersuchungen Antworten auf zentrale Auslegungsfragen geben. Sie sind auch unabhängig voneinander gut lesbar (die kursorische Lektüre bietet daher einige Redundanzen). Dabei votieren die drei Beiträger, wie die Leute in Korinth, durchaus nicht alle »in einem Sinn und einer Meinung« (s. 1Kor 1,10), sondern entwickeln unterschiedliche Thesen.
D. du Toit (61–96) interpretiert die Verse als eine in sich stringente Argumentation, die rhetorisch gewieft auf ein klares Ziel hinarbeitet und dazu allgemein geteilte Werte abruft. Grundlage der Argumentation sei die in der Antike anerkannte Hierarchie der Geschlechter, weshalb die Frauen Männern als ihrem Haupt untergeordnet seien, während Männer direkt Christus als Haupt unterstünden. Unschickliches Verhalten aber führe zur Beschämung des jeweiligen Hauptes.
Ziel des Paulus sei es, dass die Frauen ihr Haupt verhüllen beim Beten und Prophezeien. Die Hinweise auf die langen Haare der Frau seien ein Argument per analogiam aus der Schöpfungsordnung: Wie die Frauen lange Haare haben, so müssen sie auch ihr Haupt bedecken, während die Männer, die von Natur aus kurze Haare haben, dies nicht müssen (aber können). Diese Anstandsauffassungen begründe Paulus in V. 7 ff. schöpfungstheologisch, während der Exkurs V. 11 f. verdeutliche, dass daraus keine generelle Unterordnung der Frauen abzuleiten sei.
Eine andere Problemkonstellation als du Toit eruiert T. Jantsch in einem weiteren Beitrag (97–114) aufgrund semantischer Studien und vor dem Hintergrund der antiken Sitten: Paulus kritisiere, dass Frauen beim Beten und Prophezeien ihre Haare aufgelöst trugen, wie V. 15 auch auf Haare abziele. Während es in der Antike keine Regeln gab, dass Männer ihren Kopf unbedeckt oder Frauen be­deckt tragen sollten, gab es geschlechterdifferente Frisuren: Als schicklich für Frauen galten die sorgfältig um den Kopf drapierten Haare, während lange Haare für Männer verpönt waren; von Letzterem spreche V. 4. Welches Problem die offenen Haare der Frauen darstellen, lasse V. 10 durchblicken: Prophetisches Auftreten sei in der Antike oft mit Ekstase und Kontrollverlust assoziiert, und diese bei Frauen etwa damit, dass das (auch erotisch besetzte) lange Haar gelöst wurde. Paulus hingegen wolle auch prophetische Äußerungen geordnet (s. 14,32) und fordere daher, dass die Frauen über ihr Haupt Kontrolle behielten, damit sie sich von den ekstatischen Kulten der anderen unterschieden (vgl. 14,23).
Während die Engel in V. 10 nach Jantsch nur ein Nebenargument sind – Paulus erwähne sie als Wächter im Gottesdienst –, stehen sie im Mittelpunkt des Beitrags von L. Stuckenbruck (145–185). Er geht davon aus, dass das Problem nicht die Frisur, sondern die Kopfbedeckung ist, und konstatiert endlich auch zwei schwerwiegende Probleme des Textes: die Spannung zu dem »Schweigegebot« in 1Kor 14,33–36 (145–147, von Jantsch S. 127 nur vordergründig damit entschärft, dass Paulus hier den Topos der schwatzhaften Frau aufnehme) und die Fixierung der Geschlechterdifferenz (160 f.183–185). Die Forderung nach einer Kopfbedeckung »wegen der Engel« (V. 10) interpretiert Stuckenbruck vor der frühjüdischen Angelologie einerseits, ethnologischen Studien über die antike Auffassung vom gefährdeten und gefährlichen Frauenkörper andererseits: Die Engel sind als im Gottesdienst anwesend gedacht; sie sind wie Männer anfällig für sexuelle Reize. Die Kopfbedeckung der Frauen solle prophylaktisch die Frauen wie die Engel schützen und zugleich die Trennung der Geschlechter sichern und damit letztlich für die Aufrechterhaltung der göttlichen Ordnung sorgen. Denn diese sei auch für Paulus – das stellt Stuckenbruck deutlicher heraus als die anderen Beiträge – seiner Kultur entsprechend im Blick auf die Geschlechter zwingend hierarchisch.
Die Beiträge bieten jeweils eine klare Argumentation und entfalten die möglichen kulturellen Hintergründe – von Frisurmoden über Sitten der Kopfbedeckung bis zu den Aufgaben von Engeln – differenziert, und dass sie dabei gegensätzliche Thesen zeitigen, macht den Band gerade reizvoll. Doch zuweilen bleibt das Interesse zu eng bei der Auslegung der 15 Verse bzw. besonders von 11,10, und gelegentlich scheint die Rekonstruktion doch zu unkritisch. So wird gefordert, die Bezugnahme auf die Gottesebenbildlichkeit in V. 7 nicht »überzustrapazieren« (du Toit, 86; vgl. auch Jantsch, 30–33). Muss man aber nicht V. 7 entnehmen, dass Paulus den Frauen die Gottesebenbildlichkeit abspricht? Wie ist die hier vorausgesetzte Schrifthermeneutik (vermutlich eine vorurteilsgesteuerte Interpretation, die Gen 1,26 f. auf Basis von Gen 2,18 ff. nur auf den Mann bezieht) einzuordnen? Und inwiefern kann Paulus gegenüber Menschen der »neuen Schöpfung« (vgl. 2Kor 5,17; Gal 3,28; 6,15) überhaupt noch mit der »Natur«, der Schöpfung bzw. dem allgemeinen Anstand als Norm argumentieren? Zumindest für die Frauen, die Paulus’ Vorbild entsprechend ehefrei als Jungfrauen oder Witwen leben (vgl. 7,7.34.40), stellt sich doch die Frage, ob sie nicht wie die Männer unter Christus und nicht mehr unter einem Mann als »Haupt« stehen.
Zu wenig bespricht der Band also die Einordnung der Interpretation von 1Kor 11,2–16 in den weiteren Kontext des Briefes sowie die paulinische Theologie und auch die damit gestellte hermeneutische Frage nach der Bewertung dieses Textes, in dem Paulus – so viel ist bei allen offenen Fragen eindeutig – auf einer prinzipiell »natur-« bzw. schöpfungsgegebenen Geschlechterdifferenz und ih­rer Sichtbarkeit im Gottesdienst beharrt. So bietet er nicht die Antwort aller Fragen, aber hervorragende Diskussionsbeiträge für die weitere Arbeit an Texten wie 1Kor 11,2–16.