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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1354–1357

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Stökl, Jonathan, and Caroline Waerzeggers [Eds.]

Titel/Untertitel:

Exile and Return. The Babylonian Context.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. VI, 371 S. m. 1 Abb. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 478. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-041700-5.

Rezensent:

Rainer Albertz

Der Sammelband dokumentiert eine Tagung, die im November 2011 am University College London im Rahmen des von Waerzeggers geleiteten Forschungsprojekts »By the Rivers of Babylon: New Perspectives on Second Temple Judaism from Cuneiform Texts« – gefördert vom European Research Council – veranstaltet wurde. Der Band enthält 13 englischsprachige Beiträge von jungen und älteren Altorientalisten und Alttestamentlern aus Europa, Israel und den USA zum Leben fremdländischer Volksgruppen im Babylonien des 6. bis 4. Jh.s v. Chr. und zu den möglichen babylonischen Einflüssen auf die Konstitutierung des Judentums des Zweiten Tempels. Hervorzuheben ist der hohe Anteil der beteiligten Wissenschaftler. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Beiträge:
Laurie E. Pearce (University of California), Identifying Judeans and Judean Identity in the Babylonian Evidence, 7–32. Die eine Editorin der āl-yāḫūdu-Texte zählt unter den 400 darin vorkommenden Individuen inzwischen 140 sicher identifizierbare Judäer, die Jahwe-haltige Namen tragen. Allerdings können sich Judäer auch unter babylonischen Namen verbergen, wie der Fall des Bēl-šar-uṣur zeigt, der sich im Jahr 550 v. Chr. plötzlich Yahû-šar-uṣur nannte. Pearce bringt gute Gründe dafür bei, dass sich der Ortsname āl-yāḫūdu aus einer Fremdbezeichnung der dort wohnenden Bevölkerungsgruppe herleitet, da er in zwei der ältesten Texte noch ālu ša yāḫūdaya »Stadt der Judäer« lautet. Es handelt sich also nicht um eine Eigenbezeichnung im Sinne von »Stadt Judas« oder »Neu-Jerusalem«.
Kathleen Abraham (Katholische Universität Leuven), Negotiat­ing Marriage in Multicultural Babylonia: An Example from Judean Community in Āl-Yāhūdu, 33–57. Die Vfn. versucht erneut zu er­weisen, dass der von ihr aus der Moussaieff-Sammlung edierte Ehevertrag (AfO 51, 198–219) zwischen einer Judäerin und einem Babylonier in rechtlicher Hinsicht westsemitische Besonderheiten aufweist. Doch bleibt dies angesichts der Variabilität babylonischer Eheverträge, die mit dem sozialen Status der beteiligten Familien zusammenhängen, fraglich.
Gauthier Tolini (Université Paris Ouest), From Syria to Babylon and Back: The Neirab Archive, 59–93. Tolini gibt eine vorzügliche Übersicht über diese 1927/28 relativ schlecht edierte, aber nun z. T. kollatonierte Textgruppe (26 Tafeln). Sie lässt sich als Archiv einer wichtigen Familie der aus dem syrischen Neirab nach Babylonien deportierten Volksgruppe deuten, das zur Reklamation ihrer früheren Führungsposition bei der Rückkehr in die Heimat mitgenommen wurde. Für eine Deportation spricht u. a. die Bezeichnung des babylonischen Wohnorts der Gruppe ālu ša Nērebaya »Stadt der Neirebäer«, die meiner Meinung nach genau wie die für die Judäer als Fremdbezeichnung zu werten ist.
Ran Zadok (Tel Aviv University), West Semitic Groups in the Nippur Region between c. 750 and 330 B. C. E., 94–156. Der Altmeis­ter der westsemitischen Namenskunde breitet sein Korpus von 464 aramäischen Personennamen aus, das er für die Nippur-Region von der sargonidischen bis in die persische Zeit gesammelt hat. Die Aramäer stellten schon seit dem 8. Jh. v. Chr einen beträchtlichen Anteil der babylonischen Bevölkerung dar, gelangten aber – abgesehen von der chaldäischen Dynastie – nicht in höhere Ränge.
Johannes Hackl/Michael Jursa (Universität Wien), Egyptians in Babylonia in the Neo-Babylonian and Achaemenids Periods, 157–180. Jursa stellt hier mit seinem Mitarbeiter materialreich Teilergebnisse eines eigenen altorientalischen Forschungsprojekts vor. Es lassen sich zwei Phasen, in denen Ägypter nach Babylonien ka­men, unterscheiden, eine unter Nabopolassar und in der Frühzeit Nebukadnezars und eine seit der Spätzeit des Kambyses. Auffällig ist dabei die relativ große Zahl von Ägyptern, die in der babylonischen und persischen Administration hohe Positionen erlangten. Einige nahmen dabei babylonische oder iranische Namen an, konnten aber ihren Kindern wieder ägyptische Namen geben.
Caroline Waerzeggers (Leiden University), Babylonian Kingship in the Persian Period: Performance and Reception, 181–222. Die Vfn. beschreibt die persische Herrschaft in Babylonien sowohl aus his­torischer als auch aus wirkungsgeschichtlicher Perspektive. His­torisch haben sich die Hoffnungen der Besiegten auf Kontinuität, die sich im Kyros-Zylinder ausdrücken, nicht erfüllt. Die Perser haben Babylonien schon bald politisch, kultisch und baulich vernachlässigt, die Priester und städtischen Eliten teilweise ihrer Privilegien beraubt und die Tempel strengerer königlicher Kontrolle unterworfen. Die Enttäuschungen der Babylonier machten sich in zwei Rebellionen gegen die Perser Luft (522 und 484 v. Chr.). Wirkungs geschichtlich ist das Bild uneinheitlich. Zum einen wird in der Spätzeit die Kontinuität der Herrschaft von den Babyloniern über die Perser bis hin zu den Seleukiden betont. Doch meint Waerzeggers, in der historischen Literatur aus dem Tempelarchiv von Esangila (400–60 v. Chr.) eine bewusste Rückbesinnung auf die baby-lonischen Könige vor der Perserherrschaft erkennen zu können. Allerdings ist deren generelle Spätdatierung nicht so sicher.
Jonathan Stökl (King’s College London), »A Youth Without Blemish, Handsome, Proficient in all Wisdom, Knowledgeable and Intelligent«: Ezekiel’s Access zu Babylonian Culture, 223–252. Können sich die Daniellegenden aus dem Rückblick vorstellen, dass jüdische Deportierte am babylonischen Hof – wie das Zitat aus Dan 1,3–4 zeigt – eine wissenschaftliche Ausbildung genossen haben, so möchte Stökl aufgrund der babylonischen Lehnworte, ikono-graphischen Anspielungen, magischen Fachkenntnisse und spezifischen Auslegungstechniken, die sich im Buch Ezechiel finden, kumulativ erweisen, dass dessen Protagonist eine professionelle Keilschriftausbildung genossen hat. Allerdings ist bisher nicht er­wiesen, dass Nicht-Babylonier dazu Zugang hatten.
Hugh G. M. Williamson (University of Oxford), The Setting of Deutero-Isaiah: Some Linguistic Considerations, 253–267. Anhand dreier Verse, die der Auslegung erhebliche Probleme machten (Jes 40,20; 44,4; 45,2), zeigt der Vf. auf, dass der Prophet hier babylonische Begriffe entlehnt hat. Dies spreche dafür, dass zumindest Jes 40–48 noch in Babylonien verfasst worden sind.
Madhavi Nevader (University of St. Andrews), Picking Up the Places of the Little Prince: Refractions of the Neo-Babylonian Kingship Ideology in Ezekiel 40–48?, 268–291. Die Vfn. entwickelt die These, dass sich die Verfasser von Ez 40–48 bei ihrer Zeichnung des zukünftigen »Fürsten« (nāśîʾ) an der neubabylonischen Königstheologie orientiert haben. Dabei verweist sie vor allem auf die Hervorkehrung der kultischen Verpflichtungen. Noch wichtiger scheint mir zu sein, was die Vfn. mehr nebenbei erwähnt, dass die babylonische Form der Königstheologie im Unterschied zu deren assyrischer und judäischer Ausprägung, nach welcher der König selbst oberster Priester war, eine Priesterschaft als Mittler zwischen Gott und König vorsieht. Hier könnte das babylonische Modell in der Tat inspirierend gewirkt haben. Allerdings hätten die Prophetenschüler die Desakralisierung des Monarchen weit über dieses hinaus vorangetrieben.
Lester L. Grabbe (University of Hull), The Reality of the Return: The Biblical Picture Versus Historical Reconstruction, 292–307. Grabbe macht noch einmal deutlich, wie weit die Darstellung von Esr 1–6 von der historisch rekonstruierbaren Realität der frühnachexilischen Zeit abweicht. Doch hält er daran fest, dass es im Jahr 520 v. Chr. unter Leitung von Serubbabel und Josua eine kleinere Rückwandergruppe von bis zu 1000 Personen gegeben hat, die den Tempelbau initiierte. Er meint aber, dass sich der Wiederaufbau über das Jahr 515 hinaus bis zum Ende des 6. Jhs. hinzog.
Jason M. Silverman (Leiden/Helsinki University), Sheshbazzar, a Judean or a Babylonian? A Note on his Identity, 308–321. Der Vf. bringt viele gute Argumente für die These bei, dass Scheschbazar der letzte babylonische Statthalter von Juda war, der von den Persern übernommen wurde. Es ist somit mit einer wie auch im­mer gearteten babylonischen Provinzverwaltung zu rechnen. Falls Scheschbazar wirklich mit der Rückführung von Tempelgeräten betraut war, hat es wahrscheinlich auch einen babylonischen Einfluss auf den neuen Jerusalemer Tempel gegeben.
Katherine Southwood (University of Oxford), The Impact of the Second and Third-Generation Retournees as a Model for Understanding the Post-Exilic Context, 322–335. Wie schon in ihrer Dissertation sucht die Vfn. Einsichten aus der modernen Soziologie und Migrationsforschung für ein besseres Verständnis der späteren Rückwanderungen nutzbar zu machen. Dabei werden zur Illustration einige biblische Texte kursorisch ausgelegt (Gen 47,29–31; Ps 137; Ruth, Esr 2; 9–10).
Peter R. Bedford (Union College, New York), Temple Funding and Priestly Authority in Achaemenid Judah, 336–351. Gegenüber anderslautenden Thesen stellt Bedford klar, dass der Zweite Jerusalemer Tempel im Unterschied zu den babylonischen Heiligtümern über keinen nennenswerten Landbesitz verfügte und wahrscheinlich auch nicht regelmäßig von den Persern unterstützt wurde. Der Tempel war somit auf freiwillige Zuwendungen angewiesen, zu­mal die politische Macht der Priester begrenzt war. Bedford arbei tet in diesem Zusammenhang das Phänomen der »informellen Besteuerung« durch Selbstverpflichtung lokaler Gemeinschaften heraus, das auch in Neh 10 greifbar wird. Hierzu würde auch die religiöse Propagierung einer Tempelsteuer in Ex 30,11–16 gehören, auf die Bedford aber nicht mehr eingeht.
Dem Buch ist ein ausführliches Register zu biblischen und altorientalischen Texten beigegeben. Es handelt sich um einen außergewöhnlich materialreichen und interessanten Tagungsband, für den man den Herausgebern nur danken kann. Er enthält viele innovative Thesen und neue Einsichten, von denen nur einige in dieser Besprechung gestreift werden konnten. Auch wenn vielleicht nicht alle Thesen gleichermaßen überzeugen, wird doch in diesem Buch das Material zur multi-ethnischen Situation im Zweistromland der neubabylonischen und persischen Zeit in einer Breite und Dichte entfaltet, dass es substantiell zu einem besseren Verständnis des judäischen Schicksals, das in diesen weiteren Horizont hineingehört, beiträgt. Es sei darum jedem, der über das »Babylonische Exil« arbeitet, wärmstens zur Lektüre empfohlen.