Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1351–1354

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Prokhorov, Alexander V.

Titel/Untertitel:

The IsaianicDenkschrift and a Socio-Cultural Crisis in Yehud. A Rereading of Isaiah 6:1–9:6[7].

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 272 S. = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 261. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-54044-2.

Rezensent:

Torsten Uhlig

Zu den am häufigsten kommentierten Textbereichen im Jesajabuch gehört der Abschnitt Jesaja 6,1–9,6, der die Ausleger und Auslegerinnen vor eine Reihe von exegetischen, theologischen und methodischen Herausforderungen stellt. Die lange Zeit vertretene These von einer »Denkschrift« des Propheten Jesaja an seine Jünger (Jes 8,16), die inzwischen von ganz verschiedenen Ansätzen aus hinterfragt, modifiziert oder ganz abgelehnt wird, erfährt mit der vorliegenden Arbeit eine pointierte Neuformulierung.
In seiner von Joachim Schaper (University of Aberdeen) betreuten Dissertation macht sich Alexander V. Prokhorov an eine erneute Untersuchung dieses Abschnittes und stellt darin die These auf, dass die »Denkschrift« in dem gesamten Umfang von Jes 6,1–9,6 in frühnachexilischer Zeit verfasst wurde, um ein konsistentes und kohärentes ideologisches Programm angesichts der Herausforderungen in der persischen Provinz Jehud zu entwerfen. »Ideologie« bestimmt er dabei als einen Weg, um die Funktion von Ideen innerhalb des sozialen Lebens zu beschreiben (26; T. Eagleton zitierend).
Diese These entfaltet P. in fünf Teilen, die von einem Anhang abgeschlossen werden. Darin findet man:
1. Einführung mit kurzen Forschungsüberblicken zu Jes 1–39 und zur »Denkschrifthypothese« (die sehr kurz und in ihrer Thesenbildung zweifelhaft sind sowie zentrale Arbeiten nicht erwähnen) sowie Ausführungen zur Anlage der Arbeit.
2. Abgrenzung der zu untersuchenden literarischen Einheit, Abgrenzung gegen das Genre eines »prophetischen Textes« und Darstellung des methodischen Ansatzes.
3. Interpretation von Jes 6,1–9,6 in den Unterabschnitten Jes 6,1–13 (3.1), Jes 7,1–25 (3.2) und Jes 8,1–9,6 (3.3).
4. Darstellung des ideologischen Programms der »Denkschrift« und ihr Verhältnis zu anderen biblischen Texten.
5. Zusammenfassung.
6. Anhang mit sieben Abhandlungen zu wichtigen philologischen Fragen in der »Denkschrift«.
In Kapitel 2 führt P. aus, was für seine Interpretation grundlegend ist: Er votiert für die ursprüngliche Einheitlichkeit von Jes 6,1–9,6 (28–33, mit Jes 6,12–13 und Jes 7,18–25), die er gegen einige der redaktionsgeschichtlichen Differenzierungen zu etablieren versucht (38–44). Sein Fokus liegt auf dem fortlaufenden Diskurs und dessen »story line« (38), wobei die geläufige Bestimmung als »prophetischer« Text nicht leitend sein kann, da es sich bei »Prophetentexten« um ein literarisches Konstrukt handelt (37; mit anderen). Für die Erhellung des »ideologischen Programms« der »Denkschrift« betrachtet er sie aus den drei sozio-anthropologischen Perspektiven der »kulturellen Identität«, der »verhaltenstheoretischen Perspektive« und der »kognitiven Perspektive«, mit denen er erhellen will, wodurch die Gemeinschaftsidentität geformt wird, wie die »Denkschrift« zur Formation der sozialen Ordnung beiträgt und wie sie einen integrativen Sinn für die gesamte Gesellschaft bereitstellt (Symbolwelt) sowie »Rollen« anbietet, die diesen Sinn aktualisieren, indem sie verschiedene Institutionen repräsentieren.
Nach einer 84-seitigen Interpretation der Teile Jes 6,1–13; 7,1–25 und 8,1–9,6 in Kapitel 3 betrachtet P. im vierten Kapitel die Ergebnisse hinsichtlich seiner Fragestellung nach der Ideologie der »Denkschrift«, stellt sechs Komponenten zusammen, die in ihrem Zusammenspiel das kohärente, ideologische Programm formen und setzt dies mit den anfangs erwähnten sozio-anthropologischen Perspektiven in Beziehung.
Diese sechs Komponenten umfassen: 1. die Präsentation JHWHs als König und 2. den Boten Jesaja, die jeweils den irdischen König ablösen, wobei Jesaja in starkem Kontrast zu Ahas (Jes 7), den Mantikern (Jes 8,19–21) und zum Volk (»dieses Volk« in Jes 6; 8) dargestellt ist (147) und über dessen »Kinder« eine besondere Gruppe von Vermittlern zwischen JHWH und Gemeinschaft etabliert werden soll (148); 3. das Stichwort der »Theokratie« vertieft die These der Ablösung des irdischen Königtums; 4. vier Felder »kultureller Polemik« (Ritual der Mundöffnung bzw. -waschung; Sühne; neo-assyrisches Vokabular; in 2Kön 16 enthaltene Tradition) verdeutlichen Aufnahme und Abwandlung von Symbolen; 5. die Gruppe der Rückkehrer aus dem Exil ( Gola-Gruppe) wird als die der besonderen Gegenwart JHWHs gewisse Gruppe herausgehoben; (6.) an sechs Punkten wird die anti-samaritanische Polemik in der »Denkschrift« aufgezeigt.
Nach P. weisen alle sechs beschriebenen Komponenten auf die Entstehung der »Denkschrift« in früher achämenidischer Zeit hin und er kommt zu dem Schluss, dass mit der »Denkschrift« JHWH und seine »Propheten« als zweigleisige Herrschaftsordnung die Institution des menschlichen Königtums ersetzen, dass die Aufnahme und Abwandlung zahlreicher Motive aus der Welt des Alten Vorderen Orients – besonders der (assyrischen!) Königspropaganda – die Annahme des enthaltenen symbolischen Universums befördern und dass neben JHWH »auf dem Thron« die »Erben des Propheten« als privilegierte Gruppe von Rückkehrern etabliert werden soll. Schließlich spielt die enthaltene antisamaritanische Polemik eine zentrale Rolle in der Neuschaffung der Gruppenidentität.
Zur Untermauerung der Datierung wird schließlich das Verhältnis zur Hiskia-Geschichte (Jes 36–39; unter Einbeziehung von Mi 4 und 2Sam 7) und zu Dtn 18 diskutiert, womit die spätere Abfassung der Denkschrift gegenüber Jes 36–39 und Dtn 18 begründet werden soll. Daran schließt sich auf zwei Seiten (182–183) ein eigener Vorschlag eines Wachstumsmodells des Jesajabuches an, wobei ein Bezug zur Sekundärliteratur sowie eine wenigstens ansatzweise Wahrnehmung der Bezüge innerhalb des Jesajabuches komplett fehlen.
Das abschließende Kapitel fasst These, Hauptargumente und Ergebnisse der Arbeit zusammen, bevor ein Anhang einzelne exe­getische Fragen (zum Teil sehr kurz) abhandelt.
Man wird die Arbeit mit Gewinn lesen hinsichtlich der (auch andernorts beobachteten) Beziehungen innerhalb von Jes 6,1–9,6, die die Arbeit herausstellt (so der Kontrast zwischen Jesaja und »diesem Volk« oder die Beziehung zwischen den Kindern Jesajas und den angekündigten Kindern). Sie bietet zudem einen Beitrag dafür, Jes 6,1–9,6 (und Prophetentexte insgesamt) auch unter der Fragestellung des enthaltenen »ideologischen Programms« und der damit verbundenen Wirkabsicht zu lesen – hier der Identitätsbildung der nachexilischen Gemeinde, der Symbolwelt und den Vorstellungen von der Ordnung des gesellschaftlichen Lebens. Schließlich lässt sich die Arbeit als Einführung oder weitere Veranschaulichung eines Zweiges der alttestamentlichen Prophetenforschung lesen, demzufolge das Prophetentum des Alten Israel ausschließlich eine (literarische) Konstruktion der wenigen literati in nachexilischer Zeit darstellt.
Ob jedoch die Hauptthese einer ursprünglich einheitlichen Entstehung von Jes 6,1–9,6 als »Denkschrift« in frühnachexilischer Zeit und zahlreiche dazu hinführende Einzelinterpretationen breitere Zustimmung erfahren werden, bleibt allein schon angesichts der Schwächen in der Argumentation, der exegetischen Erarbeitung und im Umgang mit der Sekundärliteratur abzuwarten.
Dazu einige paradigmatische Beobachtungen zu Jesaja 6: Die Herleitung der Vorstellung von JHWHs Königtum aus dem Verlust der Monarchie kommt in der exegetischen Erarbeitung ohne jede Diskussion anderer Texte der Hebräischen Bibel aus, in denen JHWHs Königtum angesprochen ist (z. B. Ex 15; JHWH-Königspsalmen, wie Ps 29; 47; 93–99; Jes 40–55). Traditionsgeschichtliche Fragen werden permanent ignoriert.
Gerade an für die These der Arbeit entscheidenden Stellen sucht man zentrale Titel der Sekundärliteratur oder gar ihre Diskussion vergebens (so im Blick auf Jes 6 und P.s These die Arbeiten von J. Jeremias, B. Janowski, F.-L. Hossfeld und E. Zenger und besonders schwerwiegend die Ausblendung der wegweisenden traditions- und religionsgeschichtlichen Arbeit von Friedhelm Hartenstein [Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum, Neukirchen-Vluyn 1997; vgl. auch ders., Das Archiv des verborgenen Gottes, 2011, zu weiteren Texten der »Denkschrift« auf assyrischem Hintergrund!]). P. jedoch schreibt, »prophetic literature in general and the Denkschrift in particular have not previously been subject to detailed comparison of their literary features with those of the Akkadian sources, and it is time to do so« (68), und bietet dann auf ganzen zwei (!) Seiten den Versuch, Jes 6 mit dem Kyroszylinder zu vergleichen. Auch die Argumentation ist letztlich nicht schlüssig, wenn die erheblichen assyrischen (und ägyptischen) Parallelen, die im 8. und 7. Jh. v. Chr. am verständlichsten sind, als ferne Anklänge in persischer Zeit verkauft werden. Ebenso bleibt die sehr fragliche Inanspruchnahme des Verstockungsauftrages als Legitimation einer autorisierten Position, einer JHWH vergleichbaren Handlungsautorität des Boten Jesaja (74.79) – und sogar Autonomie (73) – schwer nachvollziehbar, da hier jegliche exegetische Diskussion der hochkomplexen Verse fehlt und keine Diskussion der erheblichen Sekundärliteratur stattfindet (abermals verbunden mit der Behauptung der eigenen Innovationskraft: »has been hitherto underestimated« [73]). Die damit verbundene These der sich über die Identifikation mit den »Propheten« legitimierenden Machtposition der wenigen literati ist angesichts der betonten Unverfügbarkeit von Gottes Wort auch in ihrer verschriftlichten Form (Jes 8,16–18) und angesichts der eingeschriebenen ungesicherten Position des Propheten in der Gesellschaft, der ganz von JHWH abhängig ist (Jes 8,18!), ebenso fraglich.
Noch grundsätzlicher ist das methodische Vorgehen zu hinterfragen, bei dem die Vorordnung der sozio-anthropologischen Perspektiven vor allen anderen Fragestellungen der Textinterpretation weder dem (wichtigen!) Anliegen der Erhebung des ideologischen Programms noch der angemessenen Wahrnehmung des Textes dient, sondern den Blick eher verstellt:
So bleibt z. B. unberücksichtigt, welche Bedeutung die (Identifikation der) Seraphim, die Interpretation der wankenden Türschwellen, das Füllen des Tempels mit Rauch, die kontrastive Gegenüberstellung des »Fülle«- mit dem »Leer«-Motiv etc. für das Verständnis von Jes 6 haben, wodurch sich eine durchaus andere Sicht auf die Rolle JHWHs als König (der sich verbirgt!) auf den Propheten und dessen Verhältnis zu »diesem Volk« ergeben würde und nicht zuletzt die symbolische Welt als gänzlich anders geordnet erscheint, als dies P. aufzeigt. Beschränkt man sich freilich auf sozio-anthropologische Blickwinkel – statt gegen den eigenen Anspruch auf den ganzen »continous discourse« und dessen »story line« zu achten –, müssen geradezu folgerichtig alle anderen Züge des Textes aus dem Blick geraten; ausgerechnet bei Jes 6,1–9,6 wirkt sich das aber besonders bei der Interpretation der Rollen und der symbolischen Welt (schon die Vision selbst vermittelt den zum Gericht gegenwärtigen Zions-König JHWH) entscheidend aus. Gar nicht diskutiert wird das Verhältnis zwischen Jes 6 und Jes 40 (entsprechende Sekundärliteratur wird einmal mehr einfach übergangen) und deren Bedeutung für das Verständnis des Propheten (bzw. »Boten«).
Die ohne Frage engagiert, gut verständlich und mit viel Fleiß geschriebene Arbeit wird von einem Literaturverzeichnis und einem sehr knappen Register mit ausgewählten Sach- und Quellenverweisen beschlossen.