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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1348–1351

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Lester, G. Brooke

Titel/Untertitel:

Daniel Evokes Isaiah. Allusive Characteriza-tion of Foreign Rule in the Hebrew-Aramaic Book of Daniel.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2015. 240 S. = The Library of Hebrew Bible/Old Testament Studies, 606. Geb. US$ 114,00. ISBN 978-0-567-65857-9.

Rezensent:

Bertram Herr

Intertextuelle Beziehungen erfreuen sich steigender Aufmerksamkeit. Eine Spielart dieser Herangehensweise ist die kanonische Exegese, in der es vornehmlich um die Beobachtung von Querbezügen innerhalb der Bibel geht. Sie kann unter zweierlei Rücksicht betrieben werden: vorwiegend synchron, dann ist die Bibel als Dokument des Glaubens Ausgangspunkt der Untersuchung; oder aber diachron, dann ist sie vor allen Dingen als historisches Zeugnis auszuwerten, und es stellt sich die Aufgabe zu prüfen, wie eine biblische Schrift ältere Bibeltexte aufgreift. Genau dies ist das Anliegen von G. Brooke Lester, dem akademischen Lehrer am me­thodistischen Garrett-Evangelical Theological Seminary in Illinois, der sich in seiner Princetoner Doktorarbeit mit der Rezeption alttestamentlicher Texte im Danielbuch befasst, genauer mit den Anspielungen auf Jesaja. Damit nimmt die von dem Daniel-Spezialisten C. L. Seow betreute und philologisch sowie moderat historisch-kritisch vorgehende Dissertation ein Thema auf, das zu behandeln an der Zeit war. Denn insbesondere späte alttestamentliche Schriften, wie das Danielbuch, rufen förmlich danach, dass ihr Bezug auf frühere Texte transparent gemacht wird.
In einem ersten Schritt klopft L. die inhaltlichen und methodischen Felder ab, die sich mit seiner Aufgabenstellung berühren. Zunächst sichtet er die Einspielungen von Jesajastellen in das Danielbuch, wie sie bisher in der Forschung beobachtet wurden (1–4). Sodann grenzt L. sein Verständnis von Anspielung (Allusion) von anderen intertextuellen Bezugnahmen ab (4–9): die Allusion lässt, ähnlich wie die Metapher, eine Bedeutungslücke offen, welche die Rezipienten durch Gedankenarbeit schließen müssen.
Methodisch wäre m. E. näher abzuklären, inwiefern man von literarischen Anspielungen ausgehen kann, auch wenn keine oder nur geringfügige wörtliche Übereinstimmungen vorliegen (so 53 f.110–112). Die Untersuchung wirft auch die Frage auf, wie sämtliche literarischen Bezugnahmen innerhalb eines Textes zu erheben und gegeneinander zu gewichten sind. Wie ist es etwa zu werten, wenn L. vorwiegend auf Jesaja rekurriert, R. G. Kratz (Translatio imperii = WMANT 63, Neukirchen-Vluyn 1991) aber insbesondere auf das Chronistische Geschichtswerk abhebt?
Ein Anhang präsentiert die diskutierten Jesaja- und Danielstellen in unpunktiertem Hebräisch, einer englischen Arbeitsübersetzung und mit einem textkritischen Apparat (172–205). Gegebenenfalls schließt sich ein fundierter philologisch-textkritischer Kommentar an. Ich hätte mir nur gewünscht, dass auch Jes 41,12.15 f. (vgl. 110); 51,1 f. (vgl. 109); Dan 2,34 f. (vgl. 109–112); 12,2 (vgl. 99 f.156) in dieser Weise aufbereitet eorden wären.
Laut Literaturregister (206–214) hat L. die einschlägige Untersuchung von R. Albertz (Der Gott des Daniel = SBS 131, Stuttgart 1988) nicht berücksichtigt, ebenso wenig die Kommentierung von K. Koch (Daniel = BK 22, Neukirchen-Vluyn 1986 ff., was insbesondere für L.s Analyse von Dan 1 [35 f.] bedauerlich ist!). Das augenscheinlich computergenerierte Stellenregister (215–226) überschreibt die Danielstellen auf den Seiten 220–224 mit »Ezekiel« und führt auch ein nichtkanonisches 16. Kapitel auf – weil auf S. 107 bei der Stellenangabe Dan 1–6 der Bindestrich ausgefallen war, was den Sinn von digitalen Geräten für Humor beweist.
Bei den Einleitungsfragen bewegt sich L. innerhalb der Bahnen der aktuellen Danielforschung: Dan 7 und Dan 9 hält er für einheitlich (14–17.20–25); Dan 1 ist möglicherweise aus dem Aramäischen ins Hebräische übersetzt, der Rest des Buches aber in seinen Originalsprachen überliefert (17–19); als übergeordnetes Thema des Gesamtbuchs macht L. vor allem die Herrschaft der Völker über Israel aus (9–13); Dan 1–6; 7; 8–12 markieren die hauptsächlichen Wachstumsstufen des Buches, eventuell bildete Dan 4–6 einen ersten Buchnukleus, noch früher ist mit einzeln umlaufenden Hoferzählungen aus der Sammlung Dan 1–6 zu rechnen (25 f.). Abschließend stellt L. knapp die masoretischen und griechischen Versionen und die Qumranexemplare von Daniel und Jesaja vor (27–29); die Bezeugung der hebräischen und griechischen Versionen ist nochmals Thema im Anhang (164–171).
In einem zweiten großen Kapitel steckt L. die intertextuellen Bezüge des Danielbuches ab, wie sie in der Forschung bislang zutage traten: literarische Einflüsse, die nicht darauf abzielen, von der Leserschaft als solche erkannt zu werden (31–34); innerbiblische Exegese, die den Ausgangstext vereindeutigt (34–41, im Unterschied zu der produktiven Lücke, die die Allusion gezielt schafft); motivgeschichtliche Verwandtschaftsbeziehungen (41–47); An­spielungen auf nicht-jesajanische Texte (47–56); und schließlich Querbezüge innerhalb des Danielbuchs (56–58).
Nachdem so das Umfeld der Untersuchung methodisch und thematisch abgeschritten ist, kann sich L. seinem eigentlichen Forschungsgebiet zuwenden, nämlich den Anspielungen auf das Jesajabuch, die sich in Daniel finden. Auch hier sichtet L. zunächst die infrage kommenden Stellen, um die Beobachtungen in einem zweiten Schritt zu vertiefen.
Ein Zweifaches ist für ihn von Bedeutung: einmal eine grundlegende Übereinstimmung zwischen Daniel und Jesaja und zweitens eine Diskrepanz innerhalb des Danielbuchs. Die Spannung innerhalb von Daniel bezieht sich auf die Ursache der Fremdherrschaft über Israel (60–93.133–137). In Dan 1–6 und dem »deuteronomistischen« Gebet von Dan 9 hat sie ihren Grund im Abfall des Volkes von Gott; im apokalyptischen Rest des Buches (Dan 7–12) ist es die boshafte Kompetenzüberschreitung der Fremdmächte, die Israel das Unglück bringen. Dieses letzte Erklärungsmuster teilt Daniel mit Jesaja: Ursprünglich sind die Fremdherrscher ein Strafwerkzeug Gottes. Weil sie aber aus Selbstüberschätzung ihre Aggression gegenüber Israel maßlos übertreiben, kehrt sich der Zorn Gottes schließlich gegen sein Strafinstrument. Jede der apokalyptischen Visionen von Dan 7–12 rezipiert auf ihre Weise (und dem bibelkundigen Leser erkennbar) dieses Geschehensmuster von Jes 10. Dem Leiden der »Maskilim« (gleichermaßen »Gelehrte« wie auch »Lehrer«, 97) von Dan 12,2 f. kommt nach dem Vorbild des Gottesknechtes von Jes 52,13; 53,11 eine soteriologische (vgl. Jes 26,19; 66,24) Rolle zu (93–101). Der Rückgriff von Dan 9,20–23 auf Jes 65,25 bekräftigt ebenfalls die Wende von der Zeit der Strafe zum Gewaltexzess der letzten Geschichtsphase vor der Heilszeit (101–106). Auch die Jesaja-Bezüge in Dan 1–3 unterstreichen das Anliegen der drei Kapitel, das Vertrauen in Gottes Schutz und Fürsorge zu stärken (107–127). Sie stehen aber untereinander in keinem erkennbaren Bezug.
Ihrer Natur nach sind Anspielungen nicht als solche gekennzeichnet, zuweilen leitet aber die Konjunktion ki eine Allusion ein (128–130). Wie schon sein Vorbild Jesaja entwickelt auch Daniel seine Anspielungen von einer relativ verdeckten zu einer eher offenen Form und sorgt so für eine zunehmende Transparenz und Nachvollziehbarkeit seiner Aussageabsicht. Gerne bringt Daniel auch verschiedene Referenztexte miteinander ins Gespräch (129). Es ist gut denkbar, dass Anspielungen auf Stellen, die ihrerseits wieder auf andere Bibelstellen rekurrieren und dadurch eine Verstärkung erfahren, »are more easily noticed and thus felt by the alluding text to be authoritative« (131). Buchinterne Anspielungen verstärken den Zusammenhalt des Gesamtbuchs und ergeben das Bild von individuellen Autorenpersönlichkeiten »authoring cooperatively in the working dialogue of a single reading community« (133). Aufschluss über die Verfasserkreise von Daniel gibt auch ein Vergleich mit der Septuagintaversion von Jesaja, denn beide verbindet eine »contemporizing exegesis« (130), und wenn Dan 5,28 in seiner Septuagintafassung ebenfalls den Bezug auf Jes 10,22 f. durchblicken lässt, spricht das für »a tradition of exegeting Daniel that is oriented toward a particularly significant Isaian text« (131).
Nach dieser auch schon ergebnisreichen Bestandsaufnahme wendet sich L. der Bedeutung zu, die die Jesaja-Anspielungen für das Danielbuch haben, und verdeutlicht dies beispielhaft an der Thematik der Fremdvölkerherrschaft über das Gottesvolk (134), die er eingangs schon als zentral bestimmt hatte (9–13). Auch dieses exemplarische Thema ist geprägt von dem Schema: Fehlverhalten Israels und daraus resultierendes Gerichtshandeln, überzogene Strafausführung durch die Fremdmacht und schließlich Verwerfung des Strafwerkzeugs. Aufgrund der inhaltlichen Überschneidung mit den vorangehenden Kapiteln lassen sich in dem Hauptteil Redundanzen nicht vermeiden.
In Dan 8–12 zeigt sich nach L. »a dense web of allusion to Isaiah. This web is woven around a chain of allusion to Isa 10« (163). Von dort her wird auch Dan 7,8 transparent auf Jes 10,12–15.22–25 hin. Anspielungen auf Jesaja unterstützen die Aussageabsicht der Hoferzählungen Dan 1–6, nämlich das Vertrauen in Gottes Heilswillen zu stärken (159). Durch die starke Präsenz von Jesaja in Daniel entdeckt der »returning reader« (162) flächendeckend Jesaja-Bezüge, auch wo sie ursprünglich nicht intendiert waren (163).
Wie Daniel im Kleinen mit dem Mittel zunehmender Vereindeutigung arbeitet, so auch ähnlich in der Makrostruktur: Dan 10–12 wiederholen nochmals die Jesaja-Allusionen der vorangehenden Kapitel, ohne sich lediglich in Wiederholungen zu erschöpfen (147). Ganz allgemein verstärken die Jesaja-Anspielungen die Dialektik von (a) Bestrafung Israels durch die Völker, (b) selbstüberschätzender und maßloser Unterdrückung und (c) Strafumkehr durch Gott und sein rettendes Eingreifen. Die notleidenden Gottesfürchtigen werden so ermutigt, »to understand their afflictions, not as an indefe-nitely elongated punitive ›exile‹, but as the gratuitous and prideful predations oft the mutinous Assyrian Arrogator« (163, vgl. schon 93).
So konkretisieren sich in L.s Auswertung, was die Eingangsüberlegungen bereits umrisshaft vorgezeichnet hatten: die gegensätzlichen heilsgeschichtlichen Konzeptionen von Dan 1–6 samt dem Gebet von Dan 9 einerseits und von Dan 6–12 andererseits. »One is of sin, punishment, repentence, and forgiveness; the other is of righteousness in victimization and of vindicatory exaltation« (155). Für L. lassen die Danielautoren beide widerstreitenden theologischen Anschauungen nebeneinander bestehen (136). »The apocalyptic redaction is deliberately and sensitively tolerant of the court legends that are its source, permitting them their distinct outlook while articulating its own preferred, rival claims« (164), so der vorletzte Satz der Untersuchung.
Damit hat L. eine produktive Spannung im Danielbuch gut beschrieben. Die beiden Pole sind aber unlöslich aufeinander bezogen, mehr als L. vielleicht sieht. Denn die Interpretation der Verfolgungssituation unter Antiochus IV. als Wendepunkt der Heilsgeschichte setzt das Verständnis des »Exils« als Strafperiode voraus (was auch L. nicht bezweifelt) und begreift es mit ein! Die apokalyptische Hoferzählung Dan 2 spart L. in seiner Auswertung bezeichnenderweise weitgehend aus. – Das Kapitel will sich nicht recht in das Gegensatzschema Exilserzählungen versus Apokalypsen fügen. Sodann teilen Apokalypsen und Hoferzählungen miteinander wichtige Sichtweisen: Ähnlich wie die apokalyptischen Kapitel Dan 7–12 werden die Erzählungen von Dan 3–6 durch Auflehnungen gegen Gott in Gang gesetzt, was L. für Dan 4–5 durchaus konstatiert (85). Um den so entstandenen Konflikt zu lösen, wählen Dan 2–6 eine Dan 7–12 analoge Strategie, nämlich die des (auch den Tod nicht scheuenden) Glaubenszeugnisses: »the court legends share with the apocalypses the motiv of ›humiliation and vindication of the righteous‹« (157), wie L. richtig bemerkt. Ja, man kann sogar sagen, dass die Glaubenszeugen in Dan 1–6 Heilsrelevanz haben, ähnlich den apokalyptischen »Maskilim«. Denn sie werden nicht nur selbst aus Notlagen errettet, sondern tragen – am deutlichsten im Falle von Dan 2 – zur Rettung ganzer Personengruppen bei. Sowohl Unheilsproblematik als auch der durch und durch theozentrische Heilsweg konvergieren in beiden Buchteilen frappant – trotz all ihres unterschiedlichen Kolorits.
Gerade diese weitergehenden Perspektiven zeigen, wie anregend die Arbeit L.s ist. Sie bereichert die Danielforschung.