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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1061–1063

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Ratzmann, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Der kleine Gottesdienst im Alltag. Theorie und Praxis evangelischer Andacht.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1999. 184 S. 8 = Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, 3. Kart. DM 29,80. ISBN 3-374-01711-8.

Rezensent:

Thomas Klie

Wolfgang Ratzmann legt ein unprätentiöses, solide gearbeitetes und darum gutes und nützliches Andachtsbuch für den Dienst in der Gemeinde vor. "Der kleine Gottesdienst im Alltag" versteht sich dabei nicht als eine Ansammlung "praktizistischer homiletischer Versatzstücke, sondern als eine elementare praktisch-theologische Einführung in eine der häufigsten gemeindlichen Begegnungs(kurz)-formen". Dem Weg zu einer eigenen reflektierten Andachtspraxis (2. Teil) sind konsequenterweise historische Überlegungen (1.3) und eine homiletische Besinnung auf das Bedingungsgefüge von Andachten (1.4) vorangestellt. R. setzt ein mit einer grundsätzlichen Reflexion auf die "Erfahrungen mit einer Form christlicher Glaubenspraxis heute" (1.1) und einer semantischen Verortung (1.2).

Andachtsgeschichte ist Frömmigkeitsgeschichte. Der Drang des modernen (religiösen) Subjekts zu authentischer Selbstkonstitution bedarf einer vorlaufenden Vergegenwärtigung derjenigen theologischen Schraffuren, in die sein Leben als Gemeindeglied, Ehrenamtlicher bzw. Pastor immer schon eingezeichnet ist: "Wir sind nicht die ersten christlichen Liturginnen und Liturgen, sondern wir können auf den Schatz der Erfahrungen der Generationen vor uns zurückgreifen" (24). Der exemplarische Blick in die "Stationen der Andachtsgeschichte" (vom Osterereignis bis ins 19./20. Jh.) ist hier nicht Selbstzweck, sondern zeichnet diejenigen Entwicklungslinien, Aufbrüche und Irrtümer nach, um die eine theologisch verantwortbare praxis pietatis wissen muß, will sie nicht in Kreativitätsnötigungen ersticken. Daß in diesem Abschnitt viele wichtige Facetten nur knapp angerissen werden können, mindert nicht unbedingt den Nutzen, der daraus gezogen kann, zumal jeweils auf ausführlichere Monographien verwiesen wird.

Im darauf folgenden Abschnitt wird das Phänomen ,Andacht’ in die seit den 80er Jahren wahrnehmbare "neue Offenheit für Spiritualität" eingezeichnet. Die Suche nach geistlicher Erfahrung äußert sich sowohl in Ritualisierungen (Sport, Medien), in einer gesteigerten Aufmerksamkeit für Räume und Atmosphären und für Zeichen- und Symbolhandlungen (Politik, charismatische Bewegung). Hier nimmt eine Lebenserfahrung Gestalt an - so die These -, die von einer durchgreifenden Erlebnisrationalität (G. Schulze) geprägt ist. Dem kann und darf sich "ganzheitliche" protestantische Andachtspraxis nicht entziehen.

Schwer nachzuvollziehen ist an dieser Stelle allerdings der Begriff "Spiritualität", der in seiner semantischen Ambiguität zuvor reflektiert wurde (93-97). Der inflationäre Gebrauch dieses wenig signifikanten Füllsels in Teilen der praktisch-theologischen Literatur verunklart mehr, als daß er zur sachlichen Unterscheidung beiträgt. So bemerkt Manfred Josuttis im Vorwort seiner Pastoraltheologie zu Recht, "Spiritualität" suggeriere, geistliches Leben bestehe in jeder Zeit herstellbaren geistigen Akten. Die Rede von der Spiritualität ist insofern eine unnötige religionstheoretische Referenz an den Zeitgeist. Diese ist um so unverständlicher, als es R. gerade darauf ankommt, "den Reichtum christlicher Frömmigkeit evangelischer Prägung besser zur Kenntnis zu nehmen und von dem angestrengten Zwang freizukommen, überzeugende Spiritualität nur im konfessionell Fremden oder kulturell ganz Anderen zu vermuten" (11). "Frömmigkeit" und "Spiritualität" wie hier synonym zu verwenden, verspielt terminologisch und theologisch notwendige Differenzierungsgewinne.

Ungeachtet dieser begrifflichen Unschärfe wird jedoch die hier zu verhandelnde Frage präzise formuliert und expliziert. Andacht "als Problem und als Gestaltungsaufgabe" zu betrachten ist nicht nur eine historische oder methodische, sondern auch eine theologische Option. "Was dürfen wir - unter evangelischer Perspektive - heute theologisch von einer Andacht erwarten? Was unterscheidet eine solche Veranstaltung von einem bloßen kulturellen Erlebnis oder von einer Bildungsunternehmung? Worauf kommt es inhaltlich an, wenn wir uns auf den Grund des Glaubens besinnen?" (97) Diese Fragen rücken die Untersuchung in den Horizont normativer Markierungen. R. diskutiert im Anschluß fünf zentrale Begriffe: Wort, Rechtfertigung, Amt, Form, Lebensgestaltung.

Andacht heißt: denken an Gott im Medium der Heiligen Schrift. Auch bei anderen Zentralmedien gilt das Kriterium ihrer Schriftgemäßheit. In deren Auslegung sollen die lebensweltlich bestimmenden Fragen und Ängste aufgenommen und auf das Evangelium der Freiheit bezogen werden. Andachten sind insofern auch und gerade "Räume der Erprobung" für "evangelische Laien". Die stark individuell geprägte Lebens- und Glaubenspraxis des Protestantismus wirkt hierbei als produktive Spannung; die vielgestaltigen Formen sind eine Folge des Priestertums aller Glaubenden. Die Aufhebung der Grenze zwischen Alltagsleben und geistlichem Leben kann sich darin auf Luther berufen. Im Alltagsgottesdienst geht es also um nichts anderes als im agendarischem Sonntagsgottesdienst: "um die Kommunikation mit Gott, um die Erneuerung des Vertrauens unter Gottes Zuwendung" (110). Drei Formelemente unterscheiden ihn jedoch davon: Der kleine Gottesdienst findet im Alltag statt (säkulare Räume, umgeben von alltäglichen Verpflichtungen), er kennt keine feste Liturgie (von Mette, Vesper und Komplet abzuweichen, legen oft Anlaß und Situation nahe) und in ihm erhalten einzelne liturgische Elemente in je spezifischer Weise unterschiedliches Gewicht (Lied, Gebet bzw. Segen).

Im zweiten Teil des Buches werden auf 50 Seiten praktische Gestaltungshinweise für die Andacht in Gruppen gegeben: "Andacht halten - wie ,macht’ man das? Hervorzuheben sind hier die (insgesamt etwas knappen) Anmerkungen zur Raum- und Zeitdimension eines "Nebengottesdienstes" (Niebergall). Damit wird die lange Zeit dominierende Inhaltsorientierung heilsam durchbrochen und das Augenmerk auf die Relevanz des inszenatorischen Rahmens gelenkt. Die Andacht braucht "ein Gespür für die Atmosphäre und die jeweiligen kommunikativen Chancen eines Raumes" ebenso wie eine Ahnung von geistlicher Zeitökonomie.

Die in diesen Abschnitten besprochenen Regeln und Verhaltensmuster sind erfahrungsgesättigt. Hier werden vor allem interessierte Laien, Theologiestudierende und Vikare ein hilfreiches Zeremoniale der religiösen Kunstform ,AnDenken’ finden. Denn: "Wo ... die spezifischen Bedingungen eines engeren zeitlichen Rahmens und die Atmosphäre geistlicher Konzentration mißachtet werden, wird Andacht zu etwas anderem umfunktioniert, im schlimmsten Falle zu einem Klamauk, in dem sich die Methoden verselbständigen" (163).

Dem Charakter eines Arbeitsbuches entsprechen die Fülle der Praxisbeispiele, die liturgischen Reflexionen und die methodischen Hinweise zur konkreten Abfassung von Texten und Abläufen. Dabei ist auch der liturgische Wechselgesang nicht ausgespart. Das 12-seitige Literaturverzeichnis ermöglicht in jeder Weise vertiefende Nach- und Weiterarbeit.