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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1335–1337

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Böttigheimer, Christoph

Titel/Untertitel:

Die eine Bibel und die vielen Kirchen. Die Heilige Schrift im ökumenischen Verständnis.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2016. 389 S. Geb. EUR 29,99. ISBN 978-3-451-34166-3.

Rezensent:

Martin Hailer

Mit diesem Band legt Christoph Böttigheimer, Fundamentaltheologe an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, eine Be­trachtung großer Themen der biblischen Hermeneutik vor, deren Stoff teils historisch und teils systematisch-theologisch angeordnet und in der jedes Kapitel mit einem Abschnitt »Ökumenische Perspektiven« abgeschlossen wird.
Hauptkapitel I »Gotteswort und Menschenwort« nähert sich dem Phänomen Bibel, indem prinzipiell gefragt wird, wie Gott überhaupt in menschlichem Sprechen und – abgeleitet – in verschriftlichten Worten vorkommt. Den Beginn macht eine transzendentalphilosophische und -theologische Erwägung: Weil die Welt für den Menschen wesentlich kommunikativ verfasst ist, kann Gott keinen anderen als den kommunikativen und also sprachlichen Weg wählen, um mit Menschen in Kontakt zu treten (24). Gleichwohl bleiben menschliche Sätze eben menschliche Sätze. Für eine Inspirationslehre folgt mehrerlei daraus: Extrinsezistische Begründungsstrategien, auf katholischer Seite bis zum Vorabend des Zweiten Vatikanums en vogue, sind bündig ausgeschlossen: Soll ein Satz oder ein Satzgefüge letztlich Gott zum Urheber haben, so muss seine Inhaltlichkeit den Beleg dafür antreten (29.69). Offenbarung ist wesentlich Selbst offenbarung Gottes, nicht Mitteilung übernatürlichen Wissens. Ausführlich kommen anschließend die Wege und Abwege der Inspirationslehre zur Sprache. An sie schließt das Plädoyer für einen weit gefassten Inspirationsbegriff an, die Realinspiration (Texte), Personalinspiration (Autoren, Ausleger/innen) und Ekklesialinspiration (Kirche) umfasst (80 f.). Die Schrift ist demnach ein Element innerhalb des umfassenden Vorgangs der Selbstkundgabe Gottes.
Hauptkapitel II »Bibelkanon und Kirche« behandelt die Fragen, die sich aus dem behaupteten Neben- und Miteinander von inspiriertem Bibelwort und inspirierender Gegenwart Gottes bei Menschen und bei der Kirche ergeben. Schon im Rahmen der Informationen zur Entstehung des biblischen Kanons wird das deutlich: Die katholische Position ist klassischerweise, dass der Kanon nur durch ein autoritativ entscheidendes Lehramt zustande kommen konnte, wogegen evangelisch gelehrt wird, dass der Sinngehalt des Kanons sich als Gegenüber zur Kirche selbst durchgesetzt habe. Hier erfolgt zu Recht der Hinweis, dass nach evangelischem Verständnis die » Rezeption dieses Kanons« unabgeschlossen ist und bleibt; »dass die Kanonabgrenzung letztlich offen ist« (115, Herv. M. H.), wie der Vf. vermutet, ist damit aber genau nicht gesetzt. Der Vf. sieht hier keinen prinzipiellen Gegensatz mehr: Die katholische Seite folgt weitgehend dem Denkmodell der Selbstdurchsetzung, u. a. weil sie dem vorkonziliaren Extrinsezismus den Abschied gab, die evangelische kann eine maßgebliche Rolle der Kirche bei der Kanonbildung zugestehen. Evangelisch: Die Kirche setzt den Ka­non nicht fest, sie entdeckt ihn; katholisch: Das Lehramt ist auch nach der Kanonbildung noch am Werk, ist aber von ebendiesem Kanon abhängig (118 f.). Der Vf. belässt es bei der Herausarbeitung dieser Konvergenz. Man darf vermuten, dass er mit dieser und ähnlichen Konklusionen eine wechselseitige Anerkennung bleibend Verschiedener anzielt. Die Erwägungen zum Verhältnis Altes/Neues Testament bieten keinen Raum für Kontroverstheologie, allenfalls die Thesen Notger Slenczkas, die kurz erwähnt werden, freilich nicht die Widerworte darauf (168).
Sehr kritisch geht der Vf. mit Ernst Käsemanns Satz um, der neutestamentliche Kanon begründe eher die Vielzahl der Konfessionen als die Einheit der Kirche (186). Jedoch: Im Rahmen seines Anliegens, versöhnte Verschiedenheit zu suchen, wäre aus Käsemanns Beobachtung und ihren Weiterschreibungen in der Exe-gese – vgl. etwa den Aufbau der zweibändigen Theologie des Neuen Testaments von Ferdinand Hahn – aber doch viel Material für eine differenzsensible und zugleich nichtexklusive Ekklesiologie zu gewinnen!
Teil III bearbeitet mit »Schrift und Tradition« den kontroverstheologischen und ökumenischen Klassiker der Bibelhermeneutik. Fortschritt wird hier vor allem auf dem Wege der Differenzierung gesucht: Der Vf. kritisiert die zu Zeiten übliche Gleichsetzung von Tradition und kirchlicher Autorität, auch betont er die Unterscheidung von Tradition als lebendigem Überlieferungsgeschehen des Evangeliums und einzelnen Traditionen, denen kein eigener Wahrheitswert zukommt (208, vgl. 244). Entscheidend ist ferner, dass die katholische Theologie sich das creatura-verbi-Motiv zu eigen machte und deswegen von der Kirche unter dem Wort Gottes sprechen kann (225). Freilich – und das ist wohl die steilste Positionierung des Bandes – hat das Zweite Vatikanum die Vorrangstellung der Schrift nicht in wünschenswerter Klarheit ausgearbeitet. Das »verhängnisvolle Nebeneinander von Schrift und Tradition« wurde nicht gänzlich überwunden (249 f.). Dass das ein Mangel sei, der u. a. die Kritik an entstellender Tradition unnötig erschwere, erhärtet der Vf. unter Berufung auf just einen Konzilskommentar Joseph Ratzingers (250). Der eindeutige normative Vorrang der Schrift darf deshalb als gemeinsame ökumenische Einsicht formuliert werden (255).
Im abschließenden Teil IV »Schrift und Interpretation« kommen ähnliche Probleme in spezifischerer Hinsicht zur Sprache. Der Vf. geht in zwei Kapiteln der Frage nach Autorität in der Schriftauslegung nach. Hierzu referiert er u. a. evangelische Diskussionen zum Schriftprinzip, die die Frage nach der Auslegungsinstanz stellen, aber recht verschieden beantworten (265–279). Deutlich werden die konfessionellen Gegensätze bei der Frage autoritativer Auslegung. Das Referat zum kirchlichen Lehramt betont zwar seine Bezogenheit auf den Glaubenssinn der Gläubigen (296), bleibende Unterschiede in der Frage, wer die authentische Schriftauslegung vollziehe, sind aber zu konstatieren (299). Die Konvergenz geht allenfalls dahin, dass Schriftauslegung letztlich ein kirchlicher Akt ist und dass die Auslegungsinstanz sich nicht über die Schrift erheben darf (301). Anders ist die Lage in Sachen methodischer Einzelfragen der Exegese. Die beiden Schlusskapitel sind ihnen gewidmet und zeigen, dass auf diesem Feld die Kontroverstheologie keinen Platz mehr beanspruchen kann. Die Vision des Buches lautet:
»Die einzelnen Kirchen könnten zu einer Gemeinschaft vereinigt werden, in der die jeweiligen Denominationen überwunden sind, ohne ihre Katholizität und Apostolizität in ein und derselben Tradition ausprägen zu müssen. Anstatt die konfessionellen Traditionsbildungen preiszugeben, sollen sie als legitime Interpretationen der einen, von ihnen allen anerkannten Heiligen Schrift miteinander versöhnt werden.« (185)
Das auf breiter konfessionsübergreifender Literaturbasis erarbeitete Buch ist ein mutiges katholisches Plädoyer für eine solche Vision der Kirche: Es scheut sich nicht, die typisch evangelischen Probleme der Bibelhermeneutik zu benennen, erinnert aber vor allem die eigene Tradition daran, sich in den Zirkeln des Verstehens von dem unterbrechen zu lassen, was verstanden werden soll.