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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1333–1335

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Preuschaft, Menno

Titel/Untertitel:

Religion, Nation und Identität. Eine Untersuchung des zeitgenössischen saudischen Diskurses zum Umgang mit religiöser Pluralität.

Verlag:

Würzburg: Ergon Verlag 2014. 427 S. = Kultur, Recht und Politik in muslimischen Gesellschaften, 31. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-95650-071-8.

Rezensent:

Christine Schirrmacher

Lange Zeit war die Zahl der Fachpublikationen zum Thema Saudi-Arabien recht begrenzt, was unter anderem in der Abschottungspolitik des Königreichs begründet liegt: Eine Forschungsreise ist nur mit einer persönlichen Einladung möglich, und auch dann kann der Zugang zu Quellenmaterial noch schwierig sein. Menno Preuschaft konnte durch seinen Kontakt zum »King Faisal Center of Research and Islamic Studies« in Riad und dem »King Abdulaziz Center for National Dialog« diese Hürde überwinden und umfangreiches Quellenmaterial nutzen. Zusätzlich erhielt er die Gelegenheit zu persönlichen Interviews.
P. untersucht in seiner Studie die Frage der Definition saudischer Identität, die er mit Hilfe von Gelehrtendiskursen zu Religion und Nation analysiert. Diese Definition saudischer Identität hat aufgrund der Entstehungsgeschichte Saudi-Arabiens mit der Verbindung wahhabitischer Theologie und saudischer Stammesmacht ein Narrativ formuliert, das einen Exklusivitätsanspruch beinhaltet. Wie aber geht ein Staat mit diesem Exklusivitäts- und absoluten Wahrheitsanspruch im 21. Jh. angesichts der immer deutlicher hervortretenden gesellschaftlichen und religiösen Pluralität um, wenn fallende Ölpreise, ein starkes Bevölkerungswachstum, globale soziale Netzwerke, jihadistische Gruppierungen und sozialer Wandel die Stabilität des Königreiches herausfordern? P. möchte mit Hilfe einer Analyse der saudischen Ge­lehrtendiskurse den Umgang mit weltanschaulicher und konfessioneller Pluralität, insbesondere der schiitischen Minderheit, herausarbeiten.
P.s Studie ist in fünf Teile gegliedert. Im ersten Teil widmet sich P. theoretischen Vorüberlegungen, wie kollektive Identitäten konstruiert werden und inwieweit Religion das Fundament einer kollektiven und nationalen Identität sein kann. Für das Königreich Saudi-Arabien ist diese Frage deshalb von besonderem Interesse, weil die religiös dominierte Selbstdefinition des Landes als Bewahrerin eines puristisch-wahhabitischen Islam immer stärker auf eine gesellschaftliche Realität prallt, in der Pluralität, Diversität und Divergenz deutlich sichtbar werden.
Im zweiten Teil behandelt P. das Wesen und Werden des saudischen Staates: Saudi-Arabien verdankt seine Entstehung dem Machtbündnis, das der Gelehrte Muhammad Ibn Abd al-Wahhab Mitte des 18. Jh.s mit dem Herrscher des Stammes der al-Sa‘ud eingehen konnte. Durch den Schutz der Person und Lehre al-Wahhabs durch Muhammad Ibn Sa‘ud und die Rekrutierung der Beduinenstämme als Kämpfer für das neu entstehende Gemeinwesen konnten al-Wahhabs Vorstellungen eines streng monotheistisch ge­prägten Islam unter Anwendung des von ihm legitimierten Jihad auf der ganzen arabischen Halbinsel verbreitet werden. Kern des Wahhabismus war nicht nur der Glaube an den einen Gott, sondern auch die Aufforderung, gegen jegliche Abweichung von diesem Monotheismus notfalls mit Gewalt vorzugehen, weshalb nach der Machtergreifung der Wahhabiten eine Welle der Zerstörung von Sufi-Heiligtümern, Grabüberbauten und religiösen Gedenkstätten einsetzte. Diese Säuberungen richteten sich auch gegen Schiiten, deren Gräber- und Imamverehrung al-Wahhab kategorisch als Götzendienst verurteilte. Die zeitweise gewalttätigen Versuche, die 10- bis 15-prozentige schiitische Minderheit im Osten des Landes zum Wahhabismus zu bekehren, scheiterten, und so stellt diese Minderheit bis heute eine Anfrage an die einheitlich ausgerichtete Definition von Geschichte und Identität Saudi-Arabiens dar.
Im dritten Teil erläutert P. Stellungnahmen einflussreicher wahhabitischer Gelehrter zum innerislamischen Dialog und dem Verhältnis zu Nicht-Wahhabiten sowie zum arabischen Nationalismus und der Definition islamischer Solidarität. Im vierten Teil werden Diskurse von sunnitischen und schiitischen Akteuren zu Pluralität, Identität, Religion und Dialog dargestellt. Es wird deutlich, dass einige der berühmtesten und einflussreichsten Theologen in der Geschichte des Königreiches wie Abd al-Aziz Ibn Baz (1910–1999), die bis in die jüngste Vergangenheit den öffentlichen Diskurs prägten, dem Gedanken der Annäherung zwischen Sunniten und Schiiten vollständig ablehnend gegenüberstanden. Ibn Baz war zunächst stellvertretender Direktor der Islamischen Universität von Medina, gehörte ab 1994 als Minister für Religiöse Studien dem Kabinett an und war 1994–1999 Großmufti.
Seit den Tagen von Ibn Baz ist allerdings bei etlichen Gelehrten ein Perspektivwechsel hin zu einer Bejahung des Dialogs mit der schiitischen Minderheit erkennbar. Gleichzeitig schuf das Königshaus in einem behutsamen Reformprozess durch die Einberufung eines Konsultativrates und eines nationalen Dialogforums Plattformen des Austauschs zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften. Institutionalisiert wurden diese Dialogforen seitens des Königshauses durch die Einrichtung des »King Abd al-Aziz Center for National Dialog« (KACND) im Jahr 2003. Die bisher abgehaltenen Dialogforen beschäftigten sich mit zentralen Themen wie der Rolle der Frau, Perspektiven für die saudische Jugend, Bildungsreformen, Arbeitslosigkeit und Korruption, pädagogischer Methodik, Arbeitsbeschaffung und dem Gesundheitswesen. Verlautbarungen des Dialogforums betonten den Zusammenhang zwischen nationaler Einheit und religiöser Ausrichtung des Staates und definierten die Religion als zentrales Merkmal der saudischen Identität, hoben aber auch die Bedeutung von Dialog und Meinungsaustausch, Pluralität und Toleranz hervor. Dennoch blieb die Religion als Code kollektiver Identität unbestritten.
Im fünften Teil von P.s Studie werden die Ergebnisse noch einmal zusammengefasst. Es wird deutlich, dass Saudi-Arabien im Unterschied zu westlichen Gesellschaften keineswegs eine Trennung von Religion und Staat als idealen Weg des Ausgleichs zwischen den verschiedenen religiösen und gesellschaftlichen Gruppen erkennt. Das schließt nicht ein Bekenntnis zu Mäßigung und Toleranz sowie eine behutsame Öffnung zu Ausgleich und Verständigung mit den unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Gruppierungen im Königreich aus. So konnte die In­sti­tutionalisierung des Dialogs interne Spannungen abfedern, auch wenn manche Gelehrtenstimmen nach wie vor den exklusivis­tisch-wahhabitischen Wahrheitsanspruch dem Pluralitätsgedanken eindeutig vorordnen und auf diese Weise eine Anerkennung schiitischer Muslime nicht wirklich begründen können.
Es bleibt die Frage, ob Dialog und Öffnung weit genug reichen und rasch genug voranschreiten, um mit den gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten, den Frieden zu wahren und die sich stets weiter öffnende Schere an religiöser und weltanschaulicher Pluralität durch institutionalisiertes Brückenbauen so zu verbinden, dass es bei Teilen der Gesellschaft nicht zu einer Aufkündigung der Solidarität kommt. Diese »Schere« nämlich beinhaltet heute sehr kontroverse Positionen zwischen Bewahrung des Status quo, massiven Reformforderungen mit freien Wahlen bis zur Abschaffung des Königshauses, von Islamismus und Religionskritik bis zu Atheismus und Religionswechsel, was in den Dialogforen bisher nicht Thema war und damit die Gefahr der Entstehung gesellschaftlicher Parallelwelten bedingt.