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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1331–1333

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Neuwirth, Angelika

Titel/Untertitel:

Koranforschung – eine politische Philologie? Bibel, Koran und Islamentstehung im Spiegel spätantiker Textpolitik und moderner Philologie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XX, 117 S. m. Abb. = Litterae et Theologia, 4. Kart. EUR 24,95. ISBN 978-3-11-033491-3.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Die gefällig aufgemachte, mit einem Dutzend Abbildungen durchsetzte Publikation von Angelika Neuwirth, der Leiterin des renommierten Corpus Coranicum-Projekts, ist die Ausarbeitung einer Basler Gastvorlesung, versehen mit einem historisch inhaltsreichen Vorwort des Reihenherausgebers vorne (Basler Koranstreit, Biblianders Koranausgabe) und einem Stellenregister hinten. Dass Koranphilologie spannend ist und Spannung(en) erzeugt, zeigt sich in N.s Arbeiten seit Jahrzehnten. (Es kommt nicht oft vor, dass eine wissenschaftliche Qualifikationsschrift nach fast 30 Jahren in erweiterter Form neu aufgelegt wird – wie N.s Dissertation zur Komposition der Koransuren.) Der besondere Reiz des vorliegenden Essays liegt darin, auf knappem Raum den Blick auf die in der Koranentstehung selbst sichtbar werdende spätantike »Textpolitik« mit dem Blick auf die Textpolitik zu verbinden, die in der modernen Koranforschung und -interpretation zum Ausdruck kommt. Auf je eigene Weise sind es jeweils Strategien der Privilegierung und Ausgrenzung, einmal bestimmter biblischer Traditionen, einmal bestimmter (Vor-)Annahmen hinsichtlich der Ak­teure und der möglichen Umstände der Koranentstehung.
Das erste von sieben Kapiteln führt in diese »doppelte ideologische Dimension« (5) der Koranforschung vor allem unter dem Gesichtspunkt hermeneutischer Vorentscheidungen von Wissenschaftlern bezüglich Koran, Muslimen und Arabern ein und gibt eine knappe Exposition der weiteren Kapitel. Sie sind systematisch chronologisch angeordnet. Kapitel 2 setzt mit der frühen anti-paganen Zurückweisung einer (bloßen) Dichter-Inspiration Mu­hammads ein, auf der später die koranische »Logos-Theologie« auf baut (Herabsendung – tanzil – des Gotteswortes, Offenbarung durch einen Engel – nicht durch Dämonen oder Geister –, An­schluss an die Weihnachtsüberlieferung Sure 97). Noch bevor sich die koranische Verkündigung in ein Verhältnis zur jüdischen und christlichen Tradition als »Schrift« setzt, sind Verknüpfungen und Kontrastierungen mit der (vor allem Bilder-)Sprache der Psalmen und der Evangelien zu beobachten, die an die Stelle der Erlösungsverheißung (Christologie) ein Erkenntnisversprechen, die epistemische Durchdringung der Schöpfung treten lassen (koranische Logos-Rezeption). Folgerichtig beleuchtet Kapitel 3 die »neue Autorität der Schrift« als einen Wendepunkt der koranischen Entwicklung, der den Übergang von einer »rituellen Kohärenz« der frühen Gemeinde zu ihrer »textuellen Kohärenz« (J. Assmann) markiert. Die Reinterpretation altarabisch-poetischer Begrifflichkeit ( wahy) im Sinne prophetischer Inspiration sichert die Offenbarung als göttliche Kommunikation, die dann (erst) über die Bezugnahme auf die monotheistischen Schrifttraditionen zum »Koran« (qur’an) als »Lesung aus einer himmlischen Vorlage« wird (Sure 87; 85,21 f.). Die Schrift als Bezugsgröße und Garant von Autorität wird also nicht einfach übernommen; der Koran nimmt nach und nach in einer erkennbaren Entwicklung den Status einer Manifestation des präexistenten memra/logos an (Sure 55,1–4).
In Mekka sind es christlich geprägte Bibeltexte, die gleichsam fortgeschrieben werden und liturgische, vor allem aber auch typologische Elemente einführen. Letztere allerdings nicht funktional im Interesse einer Christologie, diese wird konsequent eliminiert (Kapitel 4). In der mittelmekkanischen Zeit wird eine rituelle Neuorientierung durch die Einführung der (ersten) Gebetsrichtung (qibla) nach Jerusalem vollzogen. Das Heilige Land tritt mit den biblischen Gestalten und deren typologisch interpretierter Ge­schichte sowie Jerusalem als Kristallisationspunkt ins Zentrum der koranischen Verkündigung (Kapitel 5). Das sechste Kapitel zeichnet die wesentlichen Veränderungen nach, die die Emigration nach Medina mit sich bringt. Hier sind es nicht mehr (nur) »Traditionen«, sondern deren reale Erben, vor allem die Juden, die zur Auseinandersetzung herausfordern. Die gesamte topographia sacra wird jetzt nach Arabien transferiert, eine neue Vergangenheit wird konstruiert. Ältere Texte werden durch einen polemisch-apologetischen Metatext aus dem Konflikt mit Juden und Christen einer rigorosen Relektüre unterzogen (»medinische Zusätze«) und erhalten eine neue theologische Stoßrichtung. Die notwendig werden-de Anerkennung von Ambiguitäten der göttlichen Botschaft (Sure 3,7 f.) macht neue Öffnungen des Schriftdiskurses möglich. Dabei ist jedoch eine Verschärfung und Politisierung der Verkündigung festzustellen. Die mosaische Autorität geht auf den Propheten über, das »ehrgeizige Projekt der neuen kollektiven Selbstkonstruktion« (90) in Konkurrenz und im Konflikt mit den »Schriftbesitzern« zeichnet sich ab. Religionspolitisch einschneidend ist die Änderung der Gebetsrichtung nach Mekka (Sure 2,142ff.). Die symbolische Bedeutung des »Heiligen Landes« und die Prärogativen Jerusalems werden auf Mekka und seine Umgebung übertragen. Die entscheidende Figur dieser Sezession des jungen Islam ist Abraham als Begründer der ursprünglichen »Religion bei Gott«, gerade unter Absehung von Juden und Christen, als universales Vorbild (ohne genealogische Privilegien), vor allem als Stifter des islamischen Kults. Ihm ist der größte Teil des siebten Kapitels gewidmet, dem abschließend ein kurzes Resümee folgt.
Die neue, abrahamitische Identität ist die theologische und re-ligionspolitische Antwort des frühen Islam auf die Konkurrenz-situation in Medina. Die mosaische Identität, in einer früheren Phase für sich selbst reklamiert, wurde den jüdischen Rivalen überlassen und die Zuweisung zu den »Völkern der Welt« über die Abra­hamidentifikation (Abraham war »weder Jude noch Christ«) positiv universalistisch gewendet. So stehen am Ende der Verkündigung Muhammads die neue Religionsgemeinde und die Schrift, der Koran, als ihr genuines Glaubenszeugnis.
Mit ihrem Ansatz wendet N. sich gegen essenzialistische und reduktionistische Entwürfe, die den Koran als diffuses Surrogat bib­lischer Überlieferungen oder als anonyme Kompilation be­trachten und die Historizität der Verkündigung Muhammads in Abrede stellen. Eine »flache«, selektive Lektüre des Korans, die den Koran etwa auf gelegentliche biblische Subtexte hin untersucht, oder in ihm die Materialquelle für eine arabische Rezeption christlicher Tradition sieht, sei »nicht nur methodisch mangelhaft, sondern auch ideologisch verhängnisvoll« (16). Denn die Abtrennung des Korans von seiner Gemeinde und deren Entfaltung der Theologie erinnere an die »Schrift-Enteignung« der Juden durch die Chris­ten, die im Blick auf den Koran nicht wiederholt werden dürfe. N. fordert daher eine streng chronologische Koranlektüre, die seine sukzessive Genese aus dem Prozess der Verkündigung voraussetzt. Das islamische Narrativ stellt sie im Grundsatz nicht infrage.
In diesem Sinne ist der schmale Band selbst ein starkes Stück Textpolitik. Vertieft und weiter erläutert werden die vielen feinen Linien, Textverwebungen, Andeutungen und inhaltlichen Anregungen in N.s Monographie »Der Koran als Text der Spätantike« von 2010 (ein »Jahrhundertwerk«, so das Vorwort), auf das sich N. im Ganzen stark stützt.