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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1328–1331

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Im Auftrag der Eugen-Biser-Stiftung hrsg. v. M. Rohe, H. Engin, M. Khorchide, Ö. Özsoy u. H. Schmid. 2 Bde.

Titel/Untertitel:

Handbuch Christentum und Islam in Deutschland. Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2014 (2. Aufl. 2015). 1298 S. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-451-31188-8.

Rezensent:

Martin H. Jung

Ein »Handbuch« herauszugeben zum Thema »Christentum und Islam in Deutschland« ist sicherlich ein mutiges Unterfangen, vielleicht war es auch nötig – aber war es zum gegenwärtigen Zeitpunkt (schon) möglich?
Was ist und was will ein Handbuch? Von einem Handbuch wird erwartet, dass es einer bestimmten Zielgruppe, in unserem Fall also wohl in Deutschland lebenden Christen und Moslems sowie, allgemeiner, in Deutschland lebenden Menschen, die an den beiden Religionen und ihrem Zusammenleben Interesse haben, die beiden Religionen umfassend und differenziert vorstellt und ihre Ge­meinsamkeiten und Unterschiede, auch mögliche Konfliktfelder in Bezug auf konkrete Fragen herausarbeitet.
In 51 gehaltvollen Aufsätzen auf 1295 Seiten versuchen dies 56 durchweg sachkundige Autoren unter der kompetenten Herausgeberschaft eines Religionswissenschaftlers und Juristen, zweier islamischer Theologen, einer Erziehungswissenschaftlerin und eines katholischen Theologen. Das Ergebnis beweist die Schwierigkeit des Unterfangens. Die Grobgliederung des Handbuchs in sechs Bereiche zeigt ein vorwiegendes Interesse an soziologischen, juris­tischen und politischen Perspektiven, während geschichtliche sich auf die jüngste Geschichte beschränken und theologische in die genannten drei anderen eingeordnet werden. Das Handbuch be­ginnt mit einer »religionssoziologische[n] Darstellung der ge­gen wärtigen Situation in Deutschland« (19), in die aber, und das ist überraschend, gleich schon »Perspektiven für die Zukunft« integriert werden (19). Auf den soziologischen Block folgt ein juristischer: »Christen und Muslime im deutschen Rechtsstaat« (187) und danach ein erneut soziologisch, aber auch politisch akzentuierter: »Christen und Muslime in der säkularen Gesellschaft« (455). Dann wird viertens der Dialog thematisiert: »Das Gespräch zwischen Christen und Muslimen« (1009). Zuletzt werden in zwei Blöcken »Initiativen« (9) vorgestellt, wobei die Überschriften im Inhaltsverzeichnis anders lauten als die eigentlichen Überschriften an Ort und Stelle.
Der erste, religionssoziologische Hauptteil erörtert zunächst, und das ist durchaus passend, die »Religionszugehörigkeiten in Deutschland« (21), wobei fundiert und umfassend über »Religionszugehörigkeiten« und ihr Zustandekommen informiert wird. Die nächsten beiden Kapitel, und auch das ist schlüssig, wenden sich dezidiert den Christen und den Moslems zu, allerdings aus dem Leser unerfindlichen Gründen unter verschieden gestalteten Überschriften. Während im ersten Fall von »Christen« gesprochen wird (47), spricht der zweite Aufsatz vom »muslimische[n] Leben« (72), und während im ersten Fall der provokative Untertitel »zunehmend marginalisierte Randgruppe oder ›systemrelevanter Ak­teur‹?« hinzugefügt wurde (47), spricht der zweite Aufsatz im Untertitel neutral von der »Zahl der Muslime«, der »Arbeitsmarktintegration« und der »soziale[n] Integration« (72). Die beiden an sich parallel angelegten Aufsätze wenden sich also höchst unterschiedlichen Fragestellungen zu. Der katholische Theologe Karl Gabriel stellt das Christentum in Deutschland dar, diskutiert die Säkularisierungstheorie, schlägt das Alternativkonzept der »multiplen Modernen« vor (62) und plädiert dafür, »den deutschen religionspolitischen Pfad der kooperativen Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften auch in Zukunft nicht in Richtung eines laizistischen Trennungsmodells zu verlassen«, sondern ihn zu öffnen und die »volle Integration der Muslime in das deutsche Religionsrecht« anzustreben (66). Während Gabriel das Christentum aus der Binnenperspektive beleuchtete, wird das »muslimische […] Leben in Deutschland« von den Soziologinnen Sonja Haug und Anja Stichs in einer soziologischen Außenperspektive dargestellt. Die faktenorientierte, sehr materialreiche und auch sehr interessante Darstellung verzichtet weitgehend auf Wertungen, Bewertungen, Interpretationen und Empfehlungen. Bezogen auf die festgestellten Defizite bei der Geschlechtergerechtigkeit werden allerdings »Förderungsmaßnahmen« angeregt, »die Frauen motivieren und befähigen stärker […] am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben« (115). Noch mehr überrascht, dass dann als dritte und vierte Einheit im religionssoziologischen Teil in eigenen, mehr religionskundlich ausgerichteten Kapiteln die Aleviten und die Ahmadiyya-Bewegung vorgestellt werden.
Vergleichbare Unausgeglichenheiten durchziehen das ganze Handbuch, und der Leser fragt sich, ob die beiden Gegenstände, die beiden Religionen, die verglichen werden, vielleicht einfach zu ungleich sind, als dass man sie ausgeglichen vergleichend darstellen könnte. Aber es liegt wohl doch auch an den Herausgebern und den Autoren, denn ein Thema wie »Religion und Medien« hätte sich sehr wohl parallel gestalten lassen. Doch während die evangelische Theologin Johanna Haberer das Thema unter der Überschrift »Christentum und Medien« angeht (911) und grundsätzlich und praktisch entfaltet, behandelt Kai Hafez den »Islam in [!] den Medien« (929) und thematisiert, wie die Medien mit dieser Religion umgehen – das hätte man aber, bezogen auf das Christentum, auch thematisieren können.
Ausführlich und mehrfach behandelt wird das Thema Staat und Religion, ferner, damit zusammenhängend, die Themen Religion und Recht sowie Religion und Bildung. Der katholische Theologe Jürgen Werbick stellt christliche »Theologien« (Plural!) an den deutschen Universitäten vor (392), während anschließend moslemische Autoren von »der islamischen Theologie in Deutschland« (Singular!) sprechen (422). Auch der »Islamismus« wird thematisiert, aber gleich schon in der Überschrift mit dem »Verfassungsschutz« verknüpft (435), als ob er als religiöses Phänomen nicht ernst zu nehmen wäre. Weitere Stichworte sind Menschenbild (hierzu zwei sehr gehaltvolle Abhandlungen von Martin Thurner und Harry Harun Behr), Wertepluralismus, Religion und Öffentlichkeit, Familie, Militärdienst, Integration. Zu vermissen sind in den Kapitelformulierungen neben den ohnehin ausgeklammerten eigentlichen theologischen Themen die Stichworte Umwelt, Arbeit, Tiere, Gentechnik und vieles mehr – durchweg Themen, die ebenfalls gegenwartsrelevant sind und auch in theologischen und religiösen Kontexten bedacht werden. Weitere Kapitel widmen sich, theoretisch und praktisch, dem Dialog zwischen den beiden Religionen und stellen exemplarisch sowohl politische als auch zivilgesellschaftliche Initiativen vor. Dieser Teil wäre natürlich ausbaufähig gewesen. So fragt man sich, warum die 2010 gegründete »Akademie der Weltreligionen« (AWR), Hamburg, nicht vorkommt. Könnte es (auch) daran liegen, dass hier Schiiten maßgebliche Dialogpartner sind? Katajun Amipur, Professorin an der AWR und Schiitin, ist aber mit einem Beitrag im Handbuch vertreten.
Das Handbuch erhebt den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und es will, wie schon in der Einführung betont wird, den Dialog fördern (13). Für die Theologie heißt Wissenschaftlichkeit die Bereitschaft zu historisch-kritischer Arbeit, wozu auch die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Gegenwart, ja sogar mit den Grundlagen des eigenen Glaubens gehört. So zu arbeiten, ist im Protestantismus seit 200 Jahren und im Katholizismus seit 50 Jahren üblich. Nur auf dieser Basis ist auch ein Dialog mit anderen Religionen möglich, der wissenschaftliche wie religiös-existentielle Dimensionen gleichermaßen umfasst. Deutlicher als bei vielen anderen islamischen Theologen verspürt man die Bereitschaft und Fähigkeit hierzu bei Mouhanad Khorchide, wenn er bei der Koranauslegung die Berücksichtigung »des historischen Kontextes« einfordert (1127) und verlangt, »zwischen theologischen, also kontextunabhängigen und somit universalen koranischen Aussagen […] und solchen koranischen Aussagen […], die auf einen bestimmten historischen Sachverhalt eingehen«, zu unterscheiden (1124). In einem klaren Statement hält er fest: » […] exklusivistischen Positionen lässt der Koran keinen Raum.« (1124) Leider stellt sich das in der Geschichte und Gegenwart des Christentums anders dar, und deshalb liegt auch vor christlichen Theologen noch ein langer Weg, ihre Religion wirklich dialogfähig zu machen.
Dennoch: Andere gehen weiter als Khorchide und die übrigen Handbuch-Autoren. Abdel-Hakim Ourghi, der in Freiburg Islamische Theologie lehrt, schrieb am 5./6.12.2015 in der Süddeutschen Zeitung: »Der interreligiöse Dialog […] wird scheitern, wenn die Muslime nicht bereit sind, auch kanonische Quellen ihres Glaubens infrage zu stellen« (281, 5). Und der allseits bekannte Bassam Tibi, der sich selbst als »islamischer Aufklärer« bezeichnet, forderte am 9.8.2015, ebenfalls in der Süddeutschen, die islamische Theologie dazu auf, bei Averroes in die Lehre zu gehen und den »Primat der Vernunft« wiederzubeleben (183, 12).
Das Handbuch ist im katholischen Herder-Verlag erschienen und wurde von der katholischen »Eugen-Biser-Stiftung« gefördert. Einige Beiträge stammen von evangelischen Theologen (Martin Affolderbach, Ulrich Dehn, Johanna Haberer, Hartmut Kreß; ihnen stehen neun katholische Theologen gegenüber), aber insgesamt stehen im Handbuch die katholische Kirche und die katholische Theologie im Vordergrund, und das Christentum wird nicht in seiner ganzen Breite, wie es in Deutschland existiert, erfasst und repräsentiert. Ausgerechnet die Form des Christentums, die dem Islam strukturell und fundamentaltheologisch/hermeneutisch am nächsten steht – die Freikirchen und freien Gemeinden sowie evangelikale Strömungen in den Landeskirchen –, die aber gleichzeitig dem Islam theologisch besonders distanziert gegenübersteht, wird weitgehend ausgeblendet. Auf der anderen Seite wird, trotz oder gerade wegen der gesonderten Aleviten- und Ahmadiyya-Kapitel, auch der Islam nicht in seiner in Deutschland präsenten Fülle und Vielfalt behandelt, sondern mit einem deutlich sunnitischen Akzent unter Ausklammerung extremer Positionen. Ausgesprochen islamkritischen Stimmen islamischer Theologen wird ebenso wenig das Wort erteilt wie den ja leider auch zum Islam in Deutschland gehörenden fundamentalistischen Strömungen. Für Religionswissenschaftler – und für kritisch arbeitende Theologen – ist es doch keine Frage: Der Evangelikalismus ist ein ernst zu nehmender Teil des Christentums wie der ihm wesensverwandte Salafismus ein ernst zu nehmender Teil des Islam, und Gewaltexzesse hat der Evangelikalismus – zum Glück nicht in Deutschland, aber in den USA – auch schon hervorgebracht.
Bei der redaktionellen Gestaltung des Handbuchs fallen außer dem schon geschilderten Fehler im Inhaltsverzeichnis die nicht optimal gestalteten Kopfzeilen auf. Statt links und rechts dieselbe Kapitelüberschrift präsentiert zu bekommen, wäre der Benutzer dankbar dafür, wenn auf einer der beiden Seiten der jeweilige Autorenname erschiene, denn beim Blättern und Querlesen, nicht zuletzt bei der Suche nach bestimmten, in den Kapitelüberschriften nicht vorkommenden Stichworten, würde man eigentlich doch gerne immer gleich wissen, wer das, was man liest, geschrieben hat. Dass auf Personen- und Sachregister verzichtet wurde, ist angesichts des mit ihrer Erstellung verbundenen immensen Aufwands verständlich. Hilfreich wären sie aber gewesen, denn es ist nicht immer einfach, in den verschiedenen Kapiteln versteckte Unterthemen zu finden; zum Beispiel wird Nostra aetate ausführlich in einem Beitrag zum Thema Bildung thematisiert (344). Das Handbuch wäre handlicher geworden, wenn man sich auch noch die Mühe, Register zu erstellen, gemacht hätte.
Es war sicher ein mutiges Unterfangen, 2014 dieses Handbuch, nach sicher jahrelanger Vorarbeit, zu wagen. Dass es zugleich notwendig war, bezeugt die Tatsache, dass bereits 2015 eine zweite Auflage gebraucht wurde. Es gibt einen großen Bedarf an Informationen, sicherlich mehr unter Christen über den Islam als umgekehrt, aber zunehmend auch umgekehrt. Das Ergebnis jedoch zeigt die Grenzen des heute schon Möglichen. Wirklich befriedigen kann das vorgelegte Werk nicht. Es erfüllt nicht alle Wünsche. Dennoch leistet es allen, die sich theoretisch oder praktisch mit dem Islam befassen, wichtige Dienste. Vieles stellt sich jedoch nach der unerwarteten Einwanderungswelle aus islamischen Ländern, nach den ersten islamistisch motivierten tödlichen Attentaten in Deutschland und nach den jüngsten Ereignissen in der Türkei und den dadurch neu entfachten alten sowie neuen Diskussionen um den I slam in Deutschland schon wieder anders dar. Die Situation ist wieder schwieriger geworden, als sie zum Zeitpunkt der Hand-bucherstellung war.