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Ausgabe:

Dezember/2016

Spalte:

1325–1328

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Erdö, Péter, Schweitzer, Jószef, u. E. Sylvester Vizi

Titel/Untertitel:

Glaube – Ethik – Wissenschaft. Essays und Gespräche zu Grundfragen des menschlichen Daseins.

Verlag:

Berlin: Frank & Timme Verlag 2015. 264 S. = Religion und Recht, 19. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-7329-0145-6.

Rezensent:

Johannes Soukup

Das Buch lädt uns ein, einem Gespräch zwischen drei namhaften ungarischen Persönlichkeiten des Jahres 2005 zu lauschen: dem Kardinal von Esztergom, Primas, Erzbischof und Vorsitzender der ungarischen Bischofskonferenz; dem Landes-Oberrabbiner a. D. und dem Vorsitzenden der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. »Dieser Band befasst sich mit Fragen, die uns immer wieder beschäftigen, die jedoch im Hinblick auf die geistige, seelische Gesundheit Ungarns gerade besonders aktuell sind.« (9) »Für viele Ungarn bedeutete das Lesen dieses Buches eine Befreiung.« (7)
Ich glaube das! Das Buch ist in einem sehr menschlichen Ton und in einer gut verständlichen Sprache geschrieben. Es lässt sich leicht und gewinnbringend lesen und erhebt keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit; »Erbauungsliteratur« wäre aber ebenso falsch. Wir befinden uns irgendwo dazwischen, bei den »Fragen, die uns immer wieder beschäftigen« oder der »geistigen, seelischen Gesundheit« – sachlich und nicht frömmelnd. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass das Buch in kirchlichen Diskussionsrunden als Gesprächsgrundlage dient, weil es viele Probleme der Verkündigung und Schwierigkeiten des Glaubens in der heutigen Zeit anspricht und mit Lösungsvorschlägen aufwartet.
»Jetzt können auch die deutschsprachigen Leser die Atmosphäre dieser besonderen Begegnung, jene schöpferische Kraft, nachempfinden, die in der Symbiose von Glaube, Ethik und Wissenschaft liegt, und ohne die gegenseitige Akzeptanz, die Versöhnung und ein friedliches Zusammenleben undenkbar wären.« (7 f.)
Hier beginnen meine Bedenken: Ich fürchte, dass der Mentalitäts-Unterschied hinsichtlich des Glaubens zwischen Ungarn und Deutschland doch sehr beträchtlich ist und vom Herausgeber einfach unterschätzt wird. Feststellungen wie die beiden nachfolgenden würden bei uns – glücklicherweise – wohl kaum unwidersprochen bleiben:
»[…] sondern dass er die ganze Welt erschaffen hat. Die Antwort hierauf ist, dass dies richtig ist, es aber gleichwohl schwer ist, dies zu verstehen und zu akzeptieren. […] und wir müssen sagen, […] dass auch das simpelste Mädchen, das abstrakte Gedanken wie die Schöpfung der Welt nicht zu verstehen vermag, die Tatsache, dass das jüdische Volk mit der Hilfe von Mose auf Befehl Gottes aus Ägypten auszog und frei wurde, aber leicht verstehen wird« (18).
»[…] aber in drei Fällen gibt es keine Entschuldigung. Diese drei Fälle sind Götzendienst, geschlechtliche Unsittlichkeit, oder wenn man dazu gezwungen wird, einen anderen Menschen zu töten. In diesen drei Fällen muss man den Tod in Kauf nehmen« (20).
Nun mag »Götzendienst« ein sehr interpretationsoffener Begriff sein; aber dass »geschlechtliche Unsittlichkeit« damit gleichgesetzt wird, »einen anderen Menschen zu töten«, halte ich gelinde gesagt für pervers.
Unsere drei Diskutanten »gehören zu den besten Kennern des geistigen und seelischen Zustands unseres Landes« (9) und »sind zweifellos europaweit anerkannte Wissenschaftler und Denker« (9). Es liegt mir völlig fern und wäre unverschämt anmaßend von mir, dies in Zweifel ziehen zu wollen. Aber wenn die Gesprächsteilnehmer an verschiedenen Stellen ihres Buches von sich aus den Anspruch erheben, auf einem wissenschaftlichen Niveau Fragen der Philosophie beantworten und die Grenzen dieses Fachs aufzeigen zu wollen, dann darf ich als Leser erwarten, dass sie dies entweder auf einem angemessenen Stand des gegenwärtigen philosophischen Denkens tun oder anmerken, weshalb sie – vielleicht dem Leser zuliebe – darauf verzichten. Leider geschieht beides nicht, wenn beispielsweise über die traditionelle Abbildtheorie und ihr Wahrheitsverständnis gesprochen wird:
»Was den Objektivitätsanspruch der Wissenschaft anbelangt, bin ich völlig damit einverstanden, dass eine echte wissenschaftliche Frage immer auf die Erfahrung einer objektiven Wahrheit abzielt. Um auch den Begriff der Wahrheit ein bisschen dahinter zu stellen, natürlich ist das ein scholas-tischer Begriff: die Übereinstimmung des Verstandes mit der Sache. Also wir möchten einen geistigen Inhalt erwerben, der mit der objektiven Realität übereinstimmt oder ihr entspricht […] Der Mensch strebt danach, sich diese Übereinstimmung anzueignen, daraus folgt, dass wir annehmen, dass es eine objektive Realität gibt, wozu im Vergleich unser Bewusstsein richtig oder falsch sein kann […] und wir nehmen an, dass wir über eine Fähigkeit verfügen, mit der wir über die objektive Realität adäquate Kenntnisse erwerben können. Das ist der Optimismus, und dass die Welt erkennbar ist, dass sie von der Urliebe und dem Hauptverstand geschaffen wurde, diese Annahme ist denke ich eine für unseren Kulturkreis charakteristische, typische Annahme.« (120)
Dass das keine »typische Annahme« mehr ist, wissen die Philosophen in »unserem Kulturkreis« mindestens seit Kant, also seit über 200 Jahren. Und das ist für die Theologie – gerade in der Überzeugung unserer drei Persönlichkeiten – alles andere als eine unwichtige Voraussetzung:
»Die Erkenntnis, die objektive Möglichkeit der historischen Erkenntnis, ist nach unserer Meinung also die eine Voraussetzung des Glaubens: Wenn der Mensch unfähig wäre die objektive historische Wahrheit zu erkennen, dann gäbe es die Brücke nicht, die uns mit der Offenbarung und mit den Quellen der Offenbarung verbindet. Kurz und bündig bedeutet der relativistische Verzicht auf die Möglichkeit der objektiven historischen Kenntnisse ein ernstes Problem für unseren Glauben. […] Schon aufgrund unseres religiösen Glaubens müssen wir den heutigen verunsicherten Menschen zu Hilfe eilen, und ihnen sagen, dass sie sich auf ihre Erkenntnisfähigkeit verlassen sollten, auf die Möglichkeit, dass man z. B. mit Hilfe der historisch-kritischen Methode auch objektiv wahre Kenntnisse über die Vergangenheit gewinnen kann. Ich glaube also, dass die Möglichkeit der objektiv historischen Kenntnisse eine Art anthropologische Voraussetzung des Glaubens ist […].« (17)
Als theologischer Laie würde ich gerne rückfragen wollen, wie die objektive historische Wahrheit – gesetzt es gäbe sie – zur Offenbarung bzw. deren Quellen führen kann. Besteht die Offenbarung in Schriftrollen oder Tonscherben? Ist das Wort Fleisch geworden oder Buch?
Summa summarum hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Vielleicht ist es mein Fehler, es zu sehr aus einem wissenschaftlichen Blickwinkel zu lesen. Wer das nicht tut, profitiert vielleicht sogar sehr von diesem Buch – einfach, indem er sich von der Vielfalt und Buntheit, in der es unser Leben darstellt, berühren und von seiner Zuversicht oder Gewissheit tragen lässt.