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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1058–1060

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hildebrandt, Judith

Titel/Untertitel:

Pietistischer Gemeindeaufbau zwischen Gemeinschaft und Gemeinde. Das Gemeindeverständnis der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland im Vergleich zum Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband.

Verlag:

Neuhausen-Stuttgart: Hänssler 1998. 278 S. 8. Kart. DM 27,95. ISBN 3-7751-3257-0.

Rezensent:

Jörg Ohlemacher

Um es gleich vorweg zu sagen, der Rez. hat gezögert, diese Arbeit für eine Besprechung anzunehmen; denn erstens handelt es sich um eine Examensarbeit (Theologische Akademie Gießen), zweitens wird so eklektisch und drittens so unhistorisch verfahren, daß von einem wissenschaftlichen Ertrag kaum die Rede sein kann.

Der Gattung nach handelt es sich um eine polemische Streitschrift. Sie ist in einem evangelikalen Verlag erschienen und bezieht Position in einem Konflikt, der den Neupietismus seit dem Aufkommen der innerkirchlichen Gemeinschaftsbewegung im letzten Viertel des 19. Jh.s. begleitet: Soll man innerhalb der Landeskirchen arbeiten oder den Weg in die Freikirche gehen? Und da dies - wenn auch mit nicht ausreichenden Mitteln dargestellt - ein Konflikt ist, der neben den historischen durchaus auch aktuelle Aspekte für Christen und Kirchen in modernen Gesellschaften hat, sei trotz vieler Bedenken eine Würdigung versucht.

Es empfiehlt sich, den Band von seinem Schlußkapitel her zu lesen, um die Absicht der Autorin zu erfassen. Sie neigt den Kräften in der Gemeinschaftsbewegung zu, die seit den 80er Jahren eine stärkere Unabhängigkeit von "der Kirche" (pauschale Redeweisen machen die Lektüre manchmal schwierig) anstreben, die nicht nur im Sinne der ekklesiola in ekklesia Gemeinschaftsformen zur Ergänzung kirchlicher Arbeit anbieten, sondern selbst "Gemeinde Jesu bauen" wollen und dies auf dem Hintergrund einer Kritik an volkskirchlichen Verhältnissen, "neoliberalen" Tendenzen in der theologischen Wissenschaft und im Rahmen endzeitlicher Bewertungsmuster.

Die Vfn. will in einen aktuellen Konflikt Klärung bringen, der "zwischen der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland (EG) und dem Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband (GV) über das Thema der Innerkirchlichkeit" bestehe (21). Die Evangelische Gesellschaft ist Mitglied im Gnadauer Gemeinschaftsverband. Klärung soll auf drei Wegen versucht werden - einmal in Form einer historischen Analyse beider Bewegungen, dann in der Überprüfung ihrer ekklesiologischen Grundbegriffe, als die die Vfn. Ekklesia - Kirche - Gemeinschaft ausweist und zuletzt in der Beschreibung des Konflikts, wie er sich in den letzten Jahren vollzogen habe. Eine der Hauptthesen eröffnet den Band (Kap. 2). Der GV habe "auf eine im einzelnen vom Neuen Testament her entfaltete Ekklesiologie" grundsätzlich verzichtet. Diese "Feststellung" bildet so etwas wie den cantus firmus für die Beurteilung des GV.

Nun hat in der Tat eine solche Notwendigkeit in einer Bewegung, die prinzipiell im Rahmen der bestehenden Landeskirchen arbeitet, nicht bestanden. Das heißt aber nicht, daß es nicht sehr ausführliche Auseinandersetzungen dazu im GV gegeben hätte. Vielleicht kennt die Vfn. diese Titel nicht (müßte sie auch nicht im Rahmen einer Examensarbeit), aber sie übergeht auch die beiden Anlässe, die zu den grundsätzlichen Klärungen geführt haben - einmal die Gründung der Gnadauer Konferenz mit ihrer Vorgeschichte und dann die Auseinandersetzungen mit der aufkommenden Pfingstbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Ohne die Berücksichtigung dieser Kontexte und Grundsatzentscheidungen erscheinen die Stellungnahmen der Vorsitzenden des GVs (Haarbeck, Michaelis, Heimbucher, Morgner) in einem anderen Begründungszusammenhang, als er angemessen wäre.

Nun sollte man annehmen, daß bei der Darstellung der EG, der die Vfn. verbunden ist (Vorwort), sorgfältiger gearbeitet wird und auch die immer wieder eingeforderte neutestamentlich begründete Ekklesiologie zum Tragen käme - aber diese Erwartung wird enttäuscht, muß wohl enttäuscht werden, weil es auch dort eine solche umfassende Arbeit nicht gibt, sondern immer nur Studien zu einzelnen Elementen wie Gemeindezucht, Gläubigsein als Bedingung der Zugehörigkeit, selbständige Sakramentsverwaltung und Verkündigung der "Gemeinschaften" - letztlich das Bild einer Auswahlgemeinde.

In welche Sackgasse das führt, wird bei der Darstellung der Gründungsgeschichte an F. W. P. Ludwig Feldner deutlich, der im Kontext der Unions-Streitigkeiten 1858 sowohl die Landeskirche als auch die von ihm 1848 mitbegründete EG verließ und sich den Altlutheranern anschloß. Seine aus ganz anderem Kontext erwachsenen Entscheidungen werden von der Vfn. für die Vorgänge im 20. Jh. paradigmatisch und im Analogieverfahren immer wieder herangezogen. Dabei wird ein methodisches Vorgehen deutlich, das die ganze Arbeit durchzieht: Die Belegtexte werden funktional unter dem systematischen Zugriff der Autorin verwendet, gleich ob sie aus dem 19. Jh., der Kirchendiskussion 1918/19, dem Kirchenkampf in der Zeit des Nationalsozialismus, den Auseinandersetzungen um Bultmanns Theologie in den 50er und 60er Jahren oder dem Programm des ÖRK in den 70er und 80er Jahren entstammen.

Als erstes Ergebnis stellt die Vfn. fest, daß auch die EG bis in die 80er Jahre am Kurs der Innerkirchlichkeit festgehalten habe- trotz kritischer Äußerungen (die es übrigens so im GV auch immer gegeben hat) bei Jochums und Thurmanns.

Für die 80er und 90er Jahre sind dann die Inspektoren Becker und Heckl (und nicht die Präsides der Zeit!) ihre Kronzeugen für eine auf Außerkirchlichkeit drängende Entwicklung.

Bei Becker diagnostiziert sie ein Programm "biblischen Gemeindebaus" im Anschluß an die an amerikanischen Vorbildern orientierte Arbeit von Alfred Kues (217 f.), die an scharfen Gegensätzen zwischen Bekehrten und Unbekehrten profiliert ist. Die Vfn. konzediert zwar, daß "diese Entwicklung innerhalb der EG sicher nicht überall Anklang gefunden" habe (221), bleibt aber die Gegenargumente (z. B. von U. Affeld) schuldig. So wird insgesamt ein einseitiges Bild gezeichnet von einer Entwicklung, die notwendigerweise in einen Konflikt zwischen EG und GV einmünden müsse (4.3.3-4.3.4.3). Tatsächlich hat dieser Konflikt beide Organisationen schon immer begleitet, und daß er in dieser Weise von der Vfn. unter recht eigenwilliger Benutzung von einem geringen Teil der zur Verfügung stehenden Literatur dargestellt wird, hängt wohl doch mit einer gewissen Positionalität zusammen. Wer die "Väter" verstehen und in ihrem Sinne nach Orientierungen suchen will, darf sie nicht nur benutzen.

Das Literaturverzeichnis erklärt dann auf seine Weise die gewisse Dürftigkeit in der theoretischen Durchdringung. Trotz des Stichwortes "Gemeindeaufbau" im Titel fehlt alle einschlägige kritische Literatur, genauso verhält es sich mit dem Thema "Ekklesiologie". Ein in sich nützliches Personen- und Sachregister in begründeter Auswahl (245-260) ist ebenso angefügt, wie eine Chronologie der Präsides und Inspektoren mit Überblick über die Publikationsorgane der EG (241-244). Das Geleitwort des Rektors der Theologischen Akademie Gießen, Helge Stadelmann, unterstreicht die Positionalität der Autorin, wenn er den Verfall der beiden Großkirchen prognostiziert und zur EKD schreibt: "Die Evangelische Kirche ist von Liberalismus und Pluralismus geprägt und hinsichtlich der Glaubenssubstanz in einem galoppierenden Auflösungsprozeß begriffen." (17) Wer könnte bei solcher Analyse noch "innerkirchlich" arbeiten wollen?! To whom it may concern: never publish Examensarbeiten!