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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

89–91

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rager, Günter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Beginn, Personalität und Würde des Menschen.

Verlag:

Freiburg-München: Alber 1997. 448 S. 8 = Grenzfragen, 23. ISBN 3-495-47833-7.

Rezensent:

Hartmut Kreß

In akademischen Diskursen sowie in der breiten Öffentlichkeit wird der Umgang der modernen Medizin mit dem Beginn und dem Ende des menschlichen Lebens derzeit sehr kontrovers diskutiert. Neue Handlungsoptionen, die theoretisch sogar bis zu Keimbahneingriffen am Menschen oder zum Klonieren reichen können, berühren Grundfragen der Anthropologie, der Menschenwürde und der persönlichen Existenz und Lebensführung. Der vorliegende, interdisziplinär angelegte Band erörtert schwerpunktmäßig den moralischen Status von Embryonen sowie Fragen der Reproduktionsmedizin und Humangenetik, die damit zusammenhängen. Die drei Hauptteile des Buches wurden jeweils von mehreren Autoren gemeinsam verfaßt.

Teil A behandelt den Beginn und die Entwicklung des Menschen vor der Geburt bzw. im Umfeld der Geburt in medizinischer, biologischer und genetischer Hinsicht (Autoren: R. Bodden-Heidrich/Th. Cremer/K. Decker/ H. Hepp/W. Jäger/G. Rager/W. Wickler). In Teil B werden die Menschenwürde und der Lebensschutz unter philosophischen Aspekten (Autoren: H. M. Baumgartner/L. Honnefelder/W. Wickler/A. G. Wildfeuer), in Teil C in theologischer Betrachtung (Autoren: St. N. Bosshard/G. Höver/R. Schulte/H. Waldenfels) bedacht. Ein Ergänzungskapitel (K. J. Narr) legt ferner den Wissensstand zur Phylogenese der Menschheit bzw. zum Werden des Menschen in der Prähistorie dar.

Was den moralischen Status von Embryonen anbetrifft, so besteht das Fazit des Buches darin, daß der Schutz der Personwürde für das menschliche Individuum von der Fertilisation, der Vereinigung von Samen- und Eizelle an gelten soll. Damit erfolgt eine Abgrenzung von Positionen, die einen vollgültigen Schutz des Embryos bzw. des Fetus erst nach der Einnistung oder nach dem Ende der Möglichkeit der Zwillingsbildung oder nach Beginn der Ausprägung von Hirnstrukturen vertreten. Statt dessen votiert das vorliegende Buch - in der Konvergenz geistes- und naturwissenschaftlicher Argumente - für eine von vornherein bestehende Schutzwürdigkeit von Embryonen.

Der erste, biologisch-medizinische Teil des Buches hebt hervor, daß sofort nach der Befruchtung vom Dasein eines individuellen Menschen zu sprechen ist, weil jetzt ein neues, einzigartiges Genom vorhanden ist (77, 151 f.). Das neu entstandene Individuum entwickele sich, innerhalb der mütterlichen Umgebung, dann aus sich selbst heraus dynamisch, in einem kontinuierlichen Prozeß und ohne eindeutig benennbare Zäsuren. Von der Befruchtung an besitze der Embryo die "aktive Potenz zur vollständigen menschlichen Entwicklung" (93). Systemtheoretisch und biologisch sei er als autonomes, autopoietisches, sich selbst organisierendes System und als funktionelle, sich selbst ausdifferenzierende Einheit zu verstehen (22 ff., 77 ff.). Die Autoren geben näherhin den heutigen Erkenntnisstand zur embryonalen und fetalen Entwicklung wieder, u. a. über die Entstehung des Nervensystems und des Gehirns. Ein Schmerzempfinden des Fetus sei von der 24. Schwangerschaftswoche an möglich (96). Daß der Embryo bereits vor der Entwicklung von Hirnstrukturen, und zwar von der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle an, eine eigene aktive Einheit darstellt, zeige sich u. a. an den Signalen, die er an die Mutter sendet, um Immuntoleranz zu bewirken und eine Abstoßung zu verhindern (70 f.). Eingehend befassen sich die Autoren mit dem Sachverhalt, daß - wenngleich sehr selten - noch bis ca. 14 Tage nach der Befruchtung eineiige Zwillinge entstehen. Aus der Möglichkeit einer solchen Bifurkation ist ihnen zufolge aber keineswegs ableitbar, daß das menschliche Leben zuvor noch kein "Individuum" sei und ihm als "Prä"embryo zunächst ein geringerer Schutz gebühre. Menschliches Leben besitze von vornherein eine eigene genetische Identität. Eine Phase der Nichtindividualität zu postulieren sei sinnwidrig. Ohnehin bedeute der Terminus "Individuum" nicht "unteilbar", sondern "ungeteilt" (23f., 88 ff., 153 f.).

Als ethische Konsequenz werden im ersten Buchteil die Würde und die Schutzrechte von Embryonen nachdrücklich betont. Es verdient Beachtung, daß es Fachvertreter der Medizin und Naturwissenschaften sind, die einfordern, daß in Bezug auf Embryonenforschung (136 ff.), pränatale Diagnostik (119 ff.) und andere Handlungsoptionen ethische Grenzziehungen permanent zu reflektieren sind.

Der zweite Teil des Buches untermauert die Position, den Embryo als "Person" und deshalb als schutzwürdig zu betrachten, philosophisch. Im Anschluß an Kant wird die Unverfügbarkeit jedes Menschen in seiner geistigen und leiblichen Existenz bzw. wird die Personwürde damit begründet, daß der Mensch ein Vernunft- und Freiheitswesen und deswegen ein Selbstzweck ist (239 f.). Den Umbruch vom klassischen, substanzhaften zum modernen, am handelnden Subjekt orientierten Personbegriff zeigen die Autoren des zweiten Buchteils bei John Locke auf (174 ff.). Prägnant kritisieren sie Engführungen, die in der heutigen philosophischen Debatte zum Personbegriff z. T. anzutreffen sind. Diese machen das menschliche Personsein von einschränkenden Bedingungen abhängig, so daß der Mensch erst aufgrund seines Selbstbewußtseins (so z. B. P. Singer, H. T. Engelhardt jr.), seines Gedächtnisses (D. Parfit) oder anderer Eigenschaften zur vollwertigen "Person" wird. Daß diese Sicht unschlüssig ist, wird in mehrfacher Hinsicht - ethisch-intuitiv, logisch, begrifflich, ontologisch - aufgewiesen (201-219, 225 ff.). Statt dessen sei jeder Mensch eine Person; und auch der Embryo sei in seiner Entität von vornherein "wie eine Person zu behandeln" (239). Die Autoren werten vor allem den biologischen Sachverhalt, daß die Entwicklung des Embryos nach der Befruchtung ohne qualitative Sprünge, kontinuierlich und eigendynamisch erfolgt, philosophisch aus: Im Sinne Aristoteles’ gelte, daß die Entwicklung des Embryos zur Person nicht bloß möglich und widerspruchsfrei denkbar sei (potentia obiectiva). Vielmehr besitze der Embryo eine potentia subiectiva, d. h. eine reale, in seinem eigenen Sein tatsächlich verankerte Potentialität zur Menschwerdung, aufgrund derer ihm ein eigener Lebensanspruch zukommt (230).

Damit legt der zweite Buchteil, unter Einbeziehung aristotelischer und thomanischer Tradition (194 ff., 200), eine philosophisch-rationale Begründung für den Personstatus und die Schutzwürdigkeit von Embryonen dar. Er trägt dem säkular-rationalen Plausibilitätshorizont in der Gegenwartsgesellschaft Rechnung. Der dritte Buchteil fügt theologische, im Schwerpunkt katholische Aspekte hinzu. Die Autoren dieses Teils greifen dabei u. a. auf die Enzyklika "Evangelium vitae" (1995) zurück, deren erhebliche Problematik, zumal in den Aussagen zur Abtreibung, freilich eigens zu diskutieren wäre.

Insgesamt bietet das Buch embryologisch, medizinisch, theologie- und philosophiegeschichtlich zahlreiche erhellende Informationen. Meines Erachtens ist es plausibel, daß die Verfasser dem Embryo von vornherein personale Schutzrechte zuerkennen. Sie korrigieren damit zugleich herkömmliche kirchliche, theologische und philosophische Auffassungen (Z. B. erachtete die antike und scholastische, bis ins 20. Jh. rezipierte Lehre von der Sukzessivbeseelung den Embryo erst Wochen bzw. Monate nach der Zeugung als wirklichen Menschen [vgl. 220 ff.]). Das Buch belegt, daß naturwissenschaftlicher - hier: embryologischer und pränatalmedizinischer - Wissenszuwachs ethisch-normative Aussagen zu präzisieren vermag. So sehr der naturwissenschaftlich-medizinische Fortschritt moralische Probleme aufwirft und erzeugt, bringt er andererseits doch auch Erkenntnisgewinne mit sich, die für ethische Urteilsbildungen unhintergehbar sind.