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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1052–1054

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schröder, Caroline

Titel/Untertitel:

Glaubenswahrnehmung und Selbsterkenntnis. Jonathan Edwards’ theologia experimentalis.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 219 S. gr.8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 81. Kart. DM 68,-. ISBN 3-525-56288-8.

Rezensent:

Michael Plathow

In dem Werk des amerikanischen Erweckungspredigers, Seelsorgers und akademischen Lehrers Jonathan Edwards (1703-1758) begegnet dem deutschsprachigen Leser eine angelsächsische Theologie calvinistisch-puritanischer Prägung des "Protestantismus ohne Reformation" (D. Bonhoeffer), die zunächst fremder erscheint. Zugleich kommt der an der theologie- und philosophiegeschichtlichen Situation in den USA Interessierte an J. Edwards nicht vorbei: erinnert sei nicht nur an die Neuherausgabe seines pluriformen uvres (seit 1957 sind es 13 Bände), sondern auch an die vielschichtige und breite Rezeption und Interpretation in der Wirkungsgeschichte in den zurückliegenden Jahren.

Kenntnisreich führt die Vfn. im 2. Teil ihrer 1995 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Bonn angenommenen Dissertation durch die verschiedenen theologischen und philosophischen Interpretationsentwürfe J. Edwards’ (D. Laurence; J. A. Conforti; C. Cherry; H. R. Niebuhr; J. E. Smith; R. W. Jenson; J. Carse; J. Gerstner; P. Miller; N. S. Fiering; A. V. G. Allen; P. Ramsey u. a.), nachdem sie im 1. Teil einen informativen biographischen Überblick über das Leben und das Werk J. Edwards vermittelt hat, aus dem deutschsprachigen Raum ist eigentlich nur auf G. Hoffmans Dissertation "Seinsharmonie und Heilsgeschichte bei Jonathan Edwards" (Göttingen 1956) zu verweisen.

Eine "Werksanalyse" (6) der komplexen Veröffentlichungen J. Edwards’ möchte die Vfn. liefern; verschiedene Predigten, Aufsätze und Bücher wie "Freedom of the Will", "Nature of the True Virtue", "End for which God created the World", "Original Sin", "Religious Affections", "Divine and Supernatural Light", "Treatise on Grace", "Charity and its Fruits", "Conversion", "Justification by Faith Alone" u. a. werden einbezogen. Dem Leser sind die z. T. auch längeren originalsprachigen Zitate in den Fußnoten als Belege aus den Schriften J. Edwards’ eine große Hilfe. So vermag er gut die Zielsetzung der Vfn. zu verifizieren: "Darum möchte ich diese Untersuchung mit einigen Grundgedanken der Theologie von Jonathan Edwards, mit ihrer Spiegelung in der nordamerikanischen Kulturgeschichte, mit ihren methodischen Problemen und ihren Einsichten, vor allem auch mit der Denkform und sprachlichen Gestaltung einer Wahrnehmung des Menschen jenseits von Empirismus und Dogmatismus bekannt machen" (6).

Auf dem Hintergrund der "gegebenen Verbindung von Wirklichkeit und Erscheinung" als "Herzstück der Erweckungstheologie Edwards’" (86) beschreibt J. Edwards seine theologisch-anthropologischen und religionspsychologischen Urteilsbildungen hinsichtlich religiöser Erfahrung und der Erscheinung von Erweckungen; das Verhältnis des Glaubens zu Vernunft, Willen und Gewissen (176 ff.), von Notwendigkeit und Freiheit, von Glaubenswahrnehmung und Selbsterkenntnis, von Gottes Willen und Willensakt des Wiedergeborenen; die Bedeutung der Affekte, die der Mensch nicht nur hat, sondern die er "ist" (209), für das Rechtfertigungsgeschehen; die Verknüpfung von Gottesliebe und Selbstliebe im Zusammenhang der auch ästhetischen Schönheit der Ordnung des souveränen Gottes, der die Gotteserkenntnis zur eigentlichen Selbsterkenntnis werden läßt. Der Glaubende coram deo wird somit untrennbar in seiner Relation coram mundo gesehen. Die Vfn. zeichnet in ihre "Werkanalyse" ein die historischen Spannungsfelder der kongregationalistischen Strömungen zur Zeit J. Edwards’ (u. a. S. Stoddard) mit ihren arminianischen und antimonistischen Tendenzen innerhalb der calvinistischen Tradition (auch mit Bezug auf Fr. Turrettini).

Im 3. Teil behandelt die Vfn. "J. Edwards’ Religionskritik", verstanden als "Kritik menschlichen Verhaltens im Namen der Religion - und als theologische Kritik religiöser Bewegungen" (88, Anm. 3). Teil 4 zeichnet dann in erhellender Weise die philosophischen Einflüsse von John Lockes "Versuch über den menschlichen Verstand" auf J. Edwards’ religiöse Erkenntnistheorie auf. Teil 5 beschreibt gegen eine thomistisch-intellektualistische Psychologie J. Edwards’ Willenspsychologie als Einheit von Gottes Willen und Willen des Glaubenden durch den heiligen Geist. Im 6. Teil entfaltet die Vfn. J. Edwards’ durch die Gottesbeziehung bestimmtes holistisches Menschenbild mit einer Akzentsetzung auf die Affektenlehre. Der Teil 7 schließlich skizziert J. Edwards’ Rechtfertigungsverständnis, das die paulinische Rechtfertigungslehre "relativiert", indem J. Edwards "zwischen der Rechtfertigung als dem Urteil des Richters und dessen Manifestation unterscheidet, um beides sogleich wieder aufeinander zu beziehen" (203), so daß also von den Erscheinungen auf die Wirklichkeit zurückgeschlossen werden kann (202 ff.).

In der Conclusio (Teil 8) wirft die Vfn. im Blick auf die komplexen Aussagen J. Edwards zur religiösen Erfahrung und zum Bekehrungsereignis Fragen auf, die sie auch als Fragen aus der "Werkanalyse" stehen läßt. Die Fragen zielen auf die zusammenfassende Feststellung: "Gottes Geistesgegenwart eröffnet einen Lernprozeß, in dem die voluntative Zuwendung zu einem bestimmten Gegenstand zum Habitus, zum Lebensprinzip, zur Natur des Menschen wird, in der sich die Möglichkeit eines bestimmten Verhaltens zur Wahrscheinlichkeit bzw. zur moralischen Notwendigkeit verfestigt, so daß der geschehenen Veränderung Kontinuität, perseverantia gewährt wird. Hier wird deutlich, warum Edwards den anthropologischen Kern der Wirklichkeit im Bewußtsein, und die Essenz des Bewußtseins im Willen findet" (210). Die Fragen regen ebenfalls zum Weiterdenken über die Bedeutung der Affekte in einer theologischen Anthropologie an.

In dieser Dissertation führt die Vfn. nicht nur in die "theologia experimentalis" von J. Edwards ein; die "Werkanalyse" vermittelt durch die filigranartige Textinterpretation mit theologischer und religionspsychologischer Tiefenschärfe Erkenntnisgewinne und lenkt den Sachkundigen zum eigenen Weiterdenken.