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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1051 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Neuenschwander, Ulrich

Titel/Untertitel:

Christologie - verantwortet vor den Fragen der Moderne. Mit Beiträgen zu Person und Werk Albert Schweitzers, hrsg. und eingeleitet von W. Zager.

Verlag:

Berlin-Stuttgart-Wien: Haupt 1997. 343 S. 8 = Albert-Schweitzer-Studien, 5.

Rezensent:

Bernd Hildebrandt

Aus Anlaß des 75. Geburtstages von U. Neuenschwander (1922-1977) erscheint erstmals seine im Wintersemester 1974/ 1975 gehaltene Christologie-Vorlesung mit einer instruktiven Einführung von W. Zager. In den beigefügten Schweitzer-Studien begegnen wir der geistigen Welt, in der N.s Christologie beheimatet ist. Wie bei Schweitzer steht auch für N. die konkrete Gestalt des Menschen Jesus von Nazareth bleibend im Mittelpunkt; und von ihr her wird, entgegen aller "metaphysischen Ideologisierung der Autorität Jesu" einerseits und moralistischer Verkürzung andererseits das Wesentliche am Christsein bestimmt (284). In der Nähe zu Schweitzers Gedanken vom Scheitern Jesu am Kreuz spricht N. von der Befangenheit des Menschen Jesus in einem sich als Irrtum erweisenden apokalyptischen Geschichtsbild (65). Und wie Schweitzer folgert er, daß nicht die Vorstellungswelt Jesu, aber die Richtung, in die er unser Leben reißt, sich bewährt (240).

Christologie beginnt damit, daß der Mensch Jesus in bereits vorgegebene Heilserwartungen, die N. die vorchristliche Christologie nennt, eingezeichnet wird. Die Wahrheit dieser Deutungen hängt daran, daß am Primat des Menschen Jesus festgehalten wird, da sonst die Gefahr des Abgleitens ins Unwirkliche droht. Die Aussage, daß Jesus der Christus sei, ist aber ein synthetisches Urteil. Das "ist" in diesem Urteil drückt mithin keine Identität aus. Für N. bedeutet dies die Kritik an einer Christologie, welche den historischen Jesus in seiner Eigenständigkeit zugunsten des kerygmatischen Christus hinter sich lassen will.

Mit der Deutung des Menschen Jesus als "Christus" wird der Messiasbegriff der Realität des Menschen Jesus einschließlich seines Leidens und Sterbens anverwandelt. Hingegen geschieht mit der Inanspruchnahme des Begriffs "Sohn Gottes" auf hellenistischem Boden das Umgekehrte: "Das Konkrete am irdischen Jesus von Nazareth verliert an christologischer Relevanz. Es wird nunmehr das Konkret-Irdische dem postulierten Himmelswesen angepaßt" (134). Mag die Substanzenchristologie im hellenistischen Raum Notwendigkeit besessen haben (141), für die Neuzeit ist sie ein wesentlicher Faktor für das Unglaubwürdigwerden des Christentums.

N. fordert darum eine konsequent funktionale Christologie. "Nicht ein metaphysisches Wesen des Erlösers ist zu konstruieren, sondern die Bedeutung Jesu von Nazareth als Heilsgestalt ist zu beschreiben" (146).

N. entfaltet dies mit den Kategorien "hermeneutischer Schlüssel" und "Vermittlung von Leben". Jesus ist Lehrer der Wahrheit unseres Menschseins. Aber hier ist mehr als Sokrates. Und dieses Mehr ist die Vermittlung von Leben durch die von Jesus ausgehende und uns an ihn bindende Kraft. Ein neues Verhältnis des Menschen zu Gott gewinnt lebendige Gestalt. Darin eingeschlossen ist ein neues Verhältnis des Menschen zu sich selbst (als entkrampfte Selbstannahme) und zum Mitmenschen (als versöhnte Mitmenschlichkeit). Woher hat Jesus diese Vermittlungsmacht. "Das ist sein Geheimnis der Kontingenz ... Warum verfügt er gerade darüber? Wir wissen es nicht, wir sind einfach dankbar, daß es das gibt, und nehmen es als Gnade Gottes" (232).

In dieses Verständnis der Heilsbedeutung Jesu wird auch sein Kreuzestod integriert. Der Tod Jesu am Kreuz sei nicht als Realgrund für die Annahme des Menschen durch Gott auszulegen, sondern könne "nur als Konsequenz der annehmenden Liebe Christi und insofern als von Gott sanktionierte Vollendung des Werkes Christi betrachtet werden" (170). Für den Menschen bewirkt dies eine "Umschaltung des Leidensverständnisses" (200). Die Angst vor dem Tod wird vernichtet, weil wir nämlich auch im Tode im Gott geborgen sind, der Tod "gleichsam in das Ewigkeitsverhältnis integriert" ist (222). N. zieht bewußt nicht die Auferstehung Jesu für diese Entmächtigung des Todes heran, indem er dazu auffordert, "den Halt gerade innerhalb der undurchdringlichen Dunkelheit des Todes selbst" zu suchen (222).

So befreiend die Kritik an einer mißverständlichen Verwendung des Begriffs der Auferstehung auch ist, es bleibt das Unbehagen, daß N. den theologischen Gehalt der Glaubensaussage "Auferstehung Jesu Christi" nicht recht zur Geltung bringt. Ebenso wird man fragen, ob die Heilswirkung des Todes Jesu schon damit ausgeschöpft ist, daß er eine veränderte innere Einstellung zum Tod gewährt. So berechtigt wiederum die Kritik an der tradierten Sühne- und Genugtuungstheorie ist, der Gedanke des Opfertodes Jesu darf nicht verlorengehen. Dieser Gedanke verweist auf das personale Opfer, das ins Zukünftige weist (vgl. Joh. 12,24), und zwar auch als Impuls des Kampfes gegen alle Formen des unnatürlichen Todes und seiner Ursachen.

Wenn N. auch immer wieder die Frontstellungen seiner Thesen benennt und dadurch auch in didaktischer Hinsicht pointiert und klar redet, so liegt gleichwohl der Ton nicht auf der Polemik. Steilen rhetorischen Formulierungen und bloßen Behauptungen abhold, dringt N. auf Verstehen. Diesem Anliegen wird N. gerecht. Intellektuelle Redlichkeit zeichnet ihn aus. Es ist gut, daß dieser den besten Traditionen der liberalen Theologie verpflichteten Stimme im theologischen Diskurs der Gegenwart Raum gegeben wird.