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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1044–1047

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fetz, Reto Luzius, Hagenbüchle, Roland, u. Peter Schulz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, 1 u. 2.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. XIV, 739 S. m. Abb., 4 Farbtaf. u. XII, S. 740-1372 gr.8 = European Cultures, 11. Geb. DM 390,-. ISBN 3-11-014938-9.

Rezensent:

Martin Thurner

Intention der folgenden Buchbesprechung ist es, die theologische Leserschaft auf eine Publikation aus dem Bereich der Philosophie aufmerksam zu machen, in der die geschichtliche Bedeutung wie die gegenwärtigen Aufgaben der Theologie gleichermaßen deutlich werden. Der vorliegende Doppelband versammelt die überarbeiteten Vorträge eines Symposions, das 1995 von der Katholischen Universität Eichstätt zu einer Thematik veranstaltet wurde, die im philosophischen Diskurs der Gegenwart von hoher Relevanz ist. Das philosophische Selbstverständnis des Menschen als Subjekt wurde in letzter Zeit aus verschiedensten Richtungen und mit einer Vielzahl von Begründungen und Intentionen direkt oder indirekt in Frage gestellt. Zielsetzung des Eichstätter Symposions war es, zu einer erneuten Diskussion des Subjektbegriffs durch die Untersuchung des historischen Ursprungs dieser Konzeption beizutragen.

In seinem einleitenden Beitrag Subjektivität: Eine historisch-systematische Hinführung gelingt dem Mitherausgeber Roland Hagenbüchle ein ebenso umfassender wie fundierter Überblick, mit dem er der inneren Komplexität dieser Thematik in einem erstaunlichen Ausmaß gerecht wird. Die Ausführungen integrieren eine Fülle von kulturgeschichtlichen, soziologischen, kunst- und literaturwissenschaftlichen Details in die philosophische Fragestellung. In einem ersten Abschnitt zur Terminologie wird die Geschichte des Wortes ,Subjekt’ von seiner Herkunft aus dem noch das ontologische Substrat bezeichnenden griechischen ,hypokeimenon’ bis zur spätmittelalterlichen Transformation zu seinem heutigen Bedeutungsgehalt im Sinne des erkenntnistheoretischen Selbst verfolgt. Inhaltlich bestimmt Hagenbüchle "das sich wandelnde Selbstverständnis des Menschen und dessen Versuch, sich seiner selbst unter veränderten kulturellen Bedingungen immer wieder neu zu vergewissern" (9) als den Untersuchungsgegenstand der folgenden Beiträge. Die historische Betrachtungsweise ist der Thematik deshalb angemessen, weil sich "Subjektivität als Begriff schwer präzise definieren läßt", sondern vielmehr "als Phänomen erst im historischen Wandel überhaupt faßbar wird" (5).

Im weit umfangreicheren zweiten Teil seiner Einleitung legt Hagenbüchle unter dem bezeichnenden Titel "Eine Erfolgsgeschichte des Subjekts?" die Entwicklung der Subjektkonzeption in Grundzügen dar. In den Ausführungen zur Vorgeschichte der modernen Subjektivität spannt er den Bogen von den frühesten Ansätzen in der Annahme eines den Tod überlebenden geistigen Selbst im Alten Ägypten über die Entdeckung des Ich in der frühgriechischen Lyrik und die Aufforderung zur persönlich reflektierten Moralität bei Sokrates bis zur subjektivitätsgeschichtlich höchst bedeutsamen Vertiefung des Gedankens der individuellen Innerlichkeit im christlichen Menschenverständnis. Die ausdrückliche Reflexion auf das Subjekt in der Philosophie der Neuzeit setzt in Descartes’ Extremposition eines autonomen und zeitlosen Subjekts sogleich mit einem "Höhepunkt der Subjektgeschichte" (41) ein. Die romantische Idee eines "Prozeß-Selbst" (46), nach der das Selbst sich erst in der Selbstentfremdung sowie in der Grenzüberschreitung zum Unendlichen findet, beinhaltet bereits jene Momente, die das moderne Subjekt freisetzen. Dessen Geschichte ist durch das Ineinander von Auflösungstendenzen und Rekonstruktionsversuchen bestimmt. Das subjektlose Großstadt-Ich der kollektivistischen Massenkultur einerseits und ein radikaler Individualismus andererseits sind die extremen Positionen, zwischen denen zu vermitteln eine der vorrangigen Aufgaben der Gegenwart ist.

Von den chronologisch angeordneten 50 Einzelbeiträgen, in denen philosophische, soziologische, kunst- und literarhistorische Einzelaspekte der Subjektivitätsgeschichte unter steter Berücksichtigung des gesamten Problemhorizontes der Thematik untersucht werden, sei hier nur auf diejenigen verwiesen, die entweder die Bedeutung des Christentums und der Theologie für die Entwicklung der Subjektkonzeption aufzeigen oder dem theologischen Denken der Gegenwart wichtige Impulse vermitteln. Was die Auswahl der Themen betrifft, sind sich die Herausgeber selbst dessen bewußt, daß dabei stets Desiderate offen bleiben. In einem evangelisch-theologischen Rezensionsorgan sei aber der Hinweis erlaubt, daß die Aufnahme eines Beitrages über Luther und die Reformation deren Bedeutung für die Entwicklung der neuzeitlichen Subjektivität angemessen gewesen wäre.

In seinem Beitrag Dialektik der Subjektivität: Die Bestimmung des Selbst aus der Differenz von Ich und Mein, Sein und Haben fragt Mitherausgeber Reto Luzius Fetz nach den subjektivitätsgeschichtlichen Vorstufen der von Erich Fromm als existenzielle Alternative begriffenen Unterscheidung von Sein und Haben. Neben der im (pseudo-)platonischen Dialog ,Alkibiades I’ vorgenommenen Differenzierung zwischen dem Leib, den der Mensch hat, und der Seele, die der Mensch ist, und der Bestimmung der die freien Urteils- und Entscheidungsakte fällenden ,prohairesis’ als das eigentliche Selbst bei Epiktet, analysiert Fetz vor allem Meister Eckharts Aufforderung des Ablassen von allen ,Eigenschaften’ zum wahren ,Zu-Eigen-Werden’ des Menschen in der Einheit seiner ,Meinheit’ mit der ,Seinheit’ Gottes.

Unter der Überschrift Paulus - der Entdecker der christlichen Subjektivität interpretiert Eugen Biser die Selbstzeugnisse des Apostels als Antwort auf jene Angstanfälligkeit und Ich-Schwäche, die für die gegenwärtige Selbsterfahrung des Menschen bestimmend seien.

Im Beitrag Selbst und Selbstentfremdung in der Gnosis: Heilsaussicht durch Erkenntnis: Die Religion Gnosis macht Norbert Brox deutlich, wie in der spätantiken Gnosis die Aufhebung der existenziellen Selbstentfremdung des Menschen in beispielloser Weise bereits als individueller Heilsweg konzipiert ist, der aber paradoxerweise die Auslöschung der Individualität zum Ziel hat.

Den philosophiehistorischen Hintergrund der berühmten augustinischen Vorstufen des cartesischen ,Cogito’ untersucht Therese Fuhrer in ihren Ausführungen zu Skeptizismus und Subjektivität: Augustins antiskeptische Argumentation und das Konzept der Verinnerlichung: Indem Augustinus die innerhalb der skeptischen Schule diskutierte Frage, ob das wahrnehmende Subjekt wissen könne, ob es lebt, zu einem Argument gegen die universal-skeptische Position überhaupt umfunktioniert, schafft er die gedankliche Voraussetzung für sein Konzept der spirituellen Innerlichkeit.

Inwiefern Augustins Rückwendung auf die Innerlichkeit zur Vorgeschichte der modernen Subjektivität gehört, wird in Norbert Fischers Interpretation von Augustins Antwort auf die Frage "quid ipse intus sim" im zehnten Buch der "Confessiones" als Ausdruck von Unsicherheit und Zweideutigkeit der Selbsterkenntnis deutlich: Aus der mangelnden Klarheit der Bedeutung von "ich bin" schließt Augustinus, daß der Mensch grundsätzlich ein Wesen der Suche und der Sehnsucht ist.

Wichtige Einblicke in den kulturgeschichtlichen Horizont der mittelalterlichen Vorstufen zum Subjektivitätsdenken vermittelt Benedikt Konrad Vollmann in seinem Beitrag zur Wiederentdeckung des Subjekts im Hochmittelalter: Ab etwa 1050 entwickelt sich ein verstärktes Interesse am individuellen Selbst, das sich in Autobiographien, Liebesdichtungen, mystischer Literatur und nicht zuletzt in der scholastischen Methode zeigt.

Wie die antike Seinsauslegung von jüdisch-christlichen Vorgaben her in Richtung auf das neuzeitliche Verständnis modifiziert wird, zeigt Richard Heinzmann in der Untersuchung über Ansätze und Elemente moderner Subjektivität bei Thomas von Aquin am thomasischen Verständnis der Person als bleibender Vereinzelung einer geistbegabten Natur auf: Insbesondere in der Auffassung vom verpflichtenden Charakter des Gewissens auch im Falle eines subjektiven Irrtums wird ersichtlich, wie das Individuum bei Thomas nicht als minderer Seinsrang des Allgemeinen, sondern als die eigentliche Wirklichkeit gedacht wird.

In seinem Beitrag zur Subjektivität in Dantes "Divina Commedia" dient Paul Geyer die thomasische "Summa theologica" unter dem Aspekt als Kontrastfolie, daß in letzterer "die theoretische Instanz, die den Text organisiert, sich selbst gar nicht thematisiert" (435). Die darin zum Ausdruck kommende metaphysische Geborgenheit des Einzelsubjekts in der Synthese von Aristotelischer Wissenschaftlichkeit und christlicher Glaubenswahrheit ist in Dantes ,Divina Commedia’ bereits verloren, weil hier "das Dichter-Ich derart an Gewicht gewinnt, daß es in ein offenes Spannungsverhältnis zu den Wahrheiten der Philosophie und Theologie tritt" (435). - Die Differenzen mittelalterlicher Vorstufen zur anthropozentrischen Subjektphilosophie der Neuzeit betont Niklaus Largier in seiner Analyse von Intellekttheorie, Hermeneutik und Allegorie: Subjekt und Subjektivität bei Meister Eckhart: Wie Eckhart die Vernunft in ihrer Endlichkeit denkt, wird daran deutlich, daß ihr die eigene Verfaßtheit nur durch die Rückkehr ins Innerste zugänglich ist, wo sich, vermittelt durch eine "Hermeneutik der Existenz im Angesicht der Schrift" (463), Gott und Mensch begegnen. - Inwiefern die Auffassung vom Primat des Willens über den Intellekt einen Beitrag Zur Genese des modernen Subjekts im späten Mittelalter darstellt, wird von Günther Mensching herausgearbeitet, indem er die Ablösung der gegenteiligen These des Thomas von Aquin durch die Franziskanertheologen Petrus Johannes Olivi, Walter von Brügge und Wilhelm von Ockham darstellt.

Wie christliches Gedankengut auch in der Phase seiner neuzeitlichen Infragestellung bestimmend bleibt, wird in den Beiträgen zur Subjektivitätsentwicklung in der Renaissance deutlich. In seiner Interpretation der Kanzone RVF Nr. 360 zeigt Andreas Kablitz auf, daß in Petrarcas Lyrik des Selbstverlusts das augustinische Motiv der Selbstreflexion nicht mehr zur Gotteserkenntnis führt, sondern vielmehr in einer Ungewißheit endet, in der eine Entscheidung zwischen entgegengesetzten Standpunkten nicht mehr möglich ist.

Wie eine emanzipierte Individualität in christlichem Rahmen unter frühneuzeitlichen Bedingungen sich konstituiert, untersucht Alois Maria Haas in seinem Beitrag Das Subjekt im "sermo mysticus" am Beispiel der spanischen Mystik des 16. Jahrhunderts durch eine Analyse der ,Vida’ der Teresa von Avila: Sie versteht das Christentum als eine Kultur religiöser Individualität, in der die persönliche Suche nach Erlösung möglich wird.

Daß das christliche Menschenverständnis nicht nur eine historische Wurzel für das neuzeitliche Subjektverständnis ist, sondern diesem auch neue Perspektiven eröffnet, wird in Theo Kobuschs Überlegungen zu Person und Subjektivität: Die Metaphysik der Freiheit und der moderne Subjektivitätsgedanke offensichtlich: Er untersucht die Weiterentwicklung des im 13. Jh. im christologischen Kontext fundierten Personbegriffs bei Pufendorf und verweist auf die dem christlichen Liebesgedanken entsprechende These des Hegelianers Heinz Moritz Chalybäus, dergemäß die Erfüllung der Subjektivität in der Intersubjektivität erreicht wird.

Das Subjektivitätsverständnis eines existenziell theologischen Denkers untersucht Mitherausgeber Peter Schulz in seiner Interpretation von Kierkegaards These "Die Subjektivität ist die Wahrheit". Für Kierkegaard ist deshalb im Selbstverhältnis des Subjekts der Bezug zur Wahrheit gegeben, weil das Subjekt die Frage, was für sein Sein das wahre Wohl ist, nicht an andere Institutionen oder Personen abtreten kann.

Abschließend sei noch auf die Ausführungen zu einem verstärkt auch in der Theologie rezipierten jüdischen Denker unseres Jahrunderts verwiesen. Unter dem Titel Von der Phänomenologie der Offenheit zur Ethik der Verwundbarkeit: Merleau-Ponty und Levinas auf den Spuren einer An-Archie der Subjektivität unterzieht Burkhard Liebsch die These von Emmanuel Levinas einer kritischen Prüfung, nach der die Phänomenologie der Offenheit des Bewußtseins für die vorgängige Erschlossenheit einer erkennbaren Welt sich noch nicht genügend vom traditionellen Verständnis der Erfahrung als Einverleibung und Besitzergreifung gelöst habe und daher in der Philosophie einer nicht-beherrschenden Begegnung mit dem anderen Menschen zugunsten einer Ethik der Verwundbarkeit angesichts der Sterblichkeit des Anderen überwunden werden müsse.

Für die Frage, welche Konsequenzen aus den durchgängig nicht nur wissenschaftlich fundierten, sondern stets auch auf hohem philosophischen Reflexionsniveau gehaltenen Beiträgen für die gegenwärtige Diskussion gezogen werden können, gibt Roland Hagenbüchle im Einleitungsteil wichtige Anregungen. An den Einzeluntersuchungen wird deutlich, wie die Entwicklung der gesamten abendländischen Kultur auf das eigen- und mitverantwortliche Individuum hin zentriert ist. Die Brisanz der gegenwärtigen Infragestellungen des Subjekts besteht darin, daß somit auch das Verständnis von Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen preisgegeben würde. Um diese Konsequenzen zu vermeiden, sucht Hagenbüchle nach Möglichkeiten zu einem "Aufbruch in eine dynamische und offene Subjektivität" (71). Die postmoderne Idee des grenzüberschreitenden, ,volatilen’ Subjekts hält er diesbezüglich für zukunftsfähig, wenn sie sich "im zwischenmenschlichen Bereich zu bewähren vermag" (73). In der platonischen Idee der "Freundschaft der verschiedenen Seelenkräfte in einem sich gegenseitig korrigierenden und damit das Ganze befördernden Beziehungs-Selbst" (75), das "zur Gemeinschaft fähig und auch nützlich ist" (74) sowie im noch offenen christlichen Personbegriff sieht Hagenbüchle schließlich "ein Potential, das einer postmodernen Gesellschaft die Chance bietet, zukünftig wieder ein gemeinsames Projekt zu verfolgen" (73).

In dieser Perspektive im besonderen sowie in der Konzeption des Eichstätter Symposions insgesamt gelingt es auf überzeugende Weise, in einen mit ebensoviel Fachkenntnis wie Offenheit geführten Dialog mit den Positionen der Gegenwart die Werte der abendländischen Tradition im allgemeinen wie des Christentums im besonderen einzubringen.