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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1041–1044

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Diez, Immanuel Carl

Titel/Untertitel:

Briefwechsel und Kantische Schriften. Wissensbegründung in der Glaubenskrise Tübingen-Jena (1790-1792). Hrsg. von D. Henrich unter Mitwirkung von J. Weyenschops.

Verlag:

Stuttgart: Klett-Cotta 1997. CXXIV, 1091 S. gr.8. Lw. DM 168,-. ISBN 3-608-91659-8.

Rezensent:

Walter R. Dietz

Im Gegensatz zu Reinhold und Niethammer, erst Recht zu Kant und Fichte, gehört Diez zweifellos nicht zur ersten Garde der Philosophie in Deutschland um 1790. Seine Bedeutung für die Württembergische Landeskirche liegt darin, daß er einige Zeit Repetent am Tübinger Stift war. Diez lebte von 1766 bis nur 1796. Er studiert ab 1783 in Tübingen u. a. bei Gottlob Christian Storr Theologie, legt 1788 und 1790 seine Theologischen Examen ab, wird Repetent am Tübinger Stift, bis er sich Anfang 1792 vom christlichen Glauben lossagt und zum Studium der Medizin und Philosophie nach Jena geht, wo er auch an der Tischgesellschaft Fr. Schillers teilhat. Zur Ausbildung zum Arzt geht er nach Wien, wo er sich im Krankenhaus einen tödlichen Infekt holt. Die Abkehr vom Christentum ist bei ihm durch eine Verwerfung des Gedankens einer göttlichen Offenbarung motiviert, also durch philosophische Zweifel und nicht eine immanente Glaubenskrise. Diez’ Auseinandersetzung ist also im Umfeld von Fichtes Versuch einer Critic aller Offenbarung zu verorten. Mit Fichtes Vorgänger in Jena, Karl Leonhard Reinhold, hat sich Diez intensiv und kritisch befaßt. Seine Kritik bleibt aber noch ganz in der Kantischen Argumentationsfigur befangen, so daß er mit den ehemaligen Tübinger Stiftsgenossen (Schelling, Hölderlin, Hegel) wohl kaum auf eine Ebene zu stellen ist.

Dieter Henrich hat sich in jahrzehntelanger (Neben-)Arbeit- seit ca. 1965 - die große Aufgabe gestellt, die Hinterlassenschaft von Diez zu sondieren und hier zu veröffentlichen. Einzuordnen ist dieses mit sehr reichhaltigem und historisch exaktem Kommentar versehene Projekt in das Unternehmen, das man mit Henrich am besten als "Konstellationsforschung" bezeichnen könnte (wie von ihm insbes. zu Hölderlin und Hegel schon vorgelegt). D. h. es geht nicht um Diez resp. Dieziana um ihrer bzw. seiner selbst willen, sondern um geistesgeschichtliche Um- und Vorfeldforschung. Auf diesem Gebiet und in dieser Epoche erweist sich Henrich zweifellos als Meister seines Faches und manchmal fragt man sich, ob der gute Diez so viel gediegene Liebesmüh überhaupt verdient hat (während andere, vielleicht bedeutendere Autoren eine derartig sorgfältig kommentierte Ausgabe in Ewigkeit nicht sehen werden). Leider sind die philosophischen Texte, die Diez veröffentlichen wollte (insbesondere das Konzept zur Theorie der ersten Gründe aller Philosophie), nicht erhalten, so daß der Band größtenteils Texte enthält, die von Diez explizit oder implizit nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Zudem leidet der erhaltene Briefwechsel daran, daß oft die Gegenkorrespondenz fehlt und hypothetisch rekonstruiert werden muß. Mitunter mangelt dem Briefwechsel auch philosophische Tiefe: entweder, weil Wesentliches zwischen den Zeilen vorausgesetzt wird, oder weil beim seinerzeitigen Leser (z. B. den Eltern - der Vater war Medizinprofessor) weder Interesse noch Kompetenz auf philosophischen Feld vorausgesetzt werden kann. Somit enthält der Briefwechsel viel zeitgeschichtlich Interessantes, aber leider kaum philosophische Höhenflüge.

Von fundamentaltheologischem Interesse sind nur die beiden Entwürfe "Über die Möglichkeit einer Offenbarung" (115-150), in denen Diez die Unmöglichkeit einer göttlichen Offenbarung dartut bzw. die prinzipielle "Unmöglichkeit, eine [sc. göttliche] Offenbarung als solche zu erkennen" (139). Dabei wird mit Kant eine Diastase zwischen Denk- und Realmöglichkeit aufgetan (132 f.), die ihre Kritik durch Hegel noch vor sich hat. Auch der Briefpartner Süßkind kann sie (m. E. zu Recht) nicht nachvollziehen. Hintergrund jener Kritik aller Offenbarung ist ein doppelter: Es soll erstens gezeigt werden, daß die Storrsche Apologie und Synthese im Blick auf die Kantische Kritik nicht greift, zweitens, daß letztere den Gottesgedanken notwendig als hypothetisch faßt (53), wobei eine Gewißheit im Blick auf die Göttlichkeit der Offenbarung im Sinne Kants unmöglich sei. Nun gab es zwar auch in Tübingen viele, die die Storrsche Dogmatik für problematisch hielten, aber die meisten waren doch der Ansicht, daß der Offenbarungsgedanke mit der Kantischen Philosophie prinzipiell vereinbar sei (z. B. Niethammer und Süßkind).

Gegen diese Position kämpfte Diez, der "doch weder Skeptiker noch Atheist" sein wollte (14), jedoch mit (seinem!) Kant das Christentum und damit auch sein eigenes Theologe- und Pfarrersein aufgab - eine in ihrer Konsequenz respekteinflößende Haltung (wenngleich von einer sehr einseitigen Kant-Deutung ausgehend, die weder die Kritik der Urteilskraft von 1790 noch seine Religionsschrift von 1793 berücksichtigt). Respekt heischt auch die Redlichkeit der Diezschen Auseinandersetzung mit der Frage, quo iure von Pfarramtsanwärtern die Unterschrift unter die Bekenntnisschriften gefordert werden kann. Nicht so sehr die Gefahr der Heuchelei steht dabei im Vordergrund der Diezschen Reflexionen als vielmehr die Angst der unfreiwilligen Bestätigung einer Rechtsanmaßung (Usurpation) durch den Kandidaten (114). Diez setzt hier voraus, daß die staatliche Behörde kein Recht habe, den Lehrenden inhaltlich-positiv auf eine bestimmte Lehre festzulegen. Hier nun stellt sich die Frage, in welchem Sinn die Bekenntnisschriften verbindlich sein sollen. Diez verweist darauf, daß es im Zeitalter der Reformation noch kein Konkordienbuch (1580) gab und es jetzt, im Zeitalter der frz. Revolution (1789), eine Fixierung auf einen "bestimmten Lehrtypus" nicht geben könne, schon "wegen der Veränderlichkeit menschlicher Einsichten" (112); d. h. dem studierten Theologen darf nicht im voraus vorgeschrieben werden, wie er die christliche Lehre auszulegen und zu vertreten habe.

Die Kerngehalte luth. Theologie (Erbsünde, theologia crucis, Trinität) werden von Diez der Aufklärungskritik folgend als "Fesseln" begriffen (cf. 973). Wer die Väter der Reformation "nicht hasset pp." (113) - so Diez Lk 14,26 waghalsig auslegend -, kann nicht Jesu Jünger sein. Die geforderte Gewissensfreiheit impliziert auch Lehrfreiheit für den Religionslehrer, so daß er nicht Diener einer Kirche sein kann, die etwas zu unterschreiben ihm auferlegt, was er guten Gewissens nicht kann. Mag Diez Kant einseitig oder gar falsch verstanden haben, mag er die christliche Religion im Kern verkannt haben, so muß man ihm doch zugestehen, daß er in der Konsequenz und Aufrichtigkeit seines Handelns skrupulöser und ehrenwerter war als viele seiner Zeitgenossen: Ohne Glauben an die Offenbarung soll keiner Religionslehrer werden (37). Diese Lauterkeit seiner Apostasie entsprang dem Ansinnen, (ineins!) Aberglaube und Supernaturalismus zu meiden. Diez ist ein tragischer Ritter dieses Kampfes, wobei er seine philosophische Leitfigur Kant auf schwülstige Art als "Messias" (482) eines "Neuen Evangeliums" (499) versteht (Jesus hingegen als Fantasten und Betrüger, cf. 990 f.). Diese religiöse Verbrämung der Kantischen Vernunftkritik zeigt die pseudoreligiöse Laufrichtung an: Vom Christentum zum Kantianismus bis hin zur "neuen Göttin" Medizin (90) - die Suche nach dem Absoluten. Die Aufklärer waren so aufgeklärt eben nicht. Diez, als "selbstdenkender Kantianer" (LXXXVIII), ist hier ein Kind seiner Zeit. Theologisch hat er das Niveau von Storr (cf. 380 f., 820 f., 999-1006) nie erreicht. Seine Interpretation von Mt 24,29 ff. als ein Angelpunkt seiner Widerlegung des Christentums (151-161; im Sinne einer Kritik der Apologie durch den Weissagungsbeweis cf. 992) wirkt exegetisch unbeholfen und theologisch unreflektiert. Ziel der Interpretation ist der Nachweis, daß Jesus die Jünger betrogen, nämlich in Irrtum und Unklarheit belassen habe (im Blick auf die Eschatologie: Weltende und Wiederkunft).

Die hier vorliegende Schriftenedition wird ergänzt durch die geplante Monographie Henrichs Grundlegung aus dem Ich (cf. 915-918), die u. a. Storr, Flatt, Niethammer, Süßkind und Reinhold behandeln wird. Diese Fortsetzung der Konstellationsforschung zeigt, daß es bei dem Interesse an Diez nicht primär darum gehen kann, die Entstehung des Dt. Idealismus (Schelling, Hegel) zu klären, als vielmehr darum, das Umfeld der Transzendentalphilosophie Fichtes zu beleuchten.

Diez’ Werk ist auch ein schlagendes Zeugnis für den großen Einfluß des Königsberger Philosophen gerade auch in theologischen Kreisen. Es bezeugt auch die ganz unterschiedliche Weise, wie Kant in Beschlag genommen werden konnte: als Selbstbegrenzung der spekulativen Vernunft zur Raumgebung für den selbstberechtigten Glauben, oder - wie bei Diez - als Vorläufer der Feuerbachschen Kritik. Ganz in letzterem Sinn spricht Diez vom "transzendentalen Schein" und den "leeren Hirngespinsten" des Christentums (18,18 f.). Die Offenbarung beweist nichts, sondern setzt die Evidenz Gottes und seiner Möglichkeit, sich zu offenbaren, schon voraus. Im Weltgefüge erweist sich der Gottesgedanke für Diez als eine bloß subjektive Zutat ohne jede objektive Bedeutung und Stringenz (cf. 1031 f.). Das notwendige Postulat des Daseins Gottes verflüchtigt sich bei ihm zu einer rein subjektiven Hypothese: Im moralischen Kontext bin ich "genötiget vorauszusetzen, daß ein Gott sei, wenn ich gleich zur Behauptung des Seins keine Gründe habe"(53,18 ff.). D. h. der Gottesgedanke ist grundlose Hypothese und Gott als wirkliches Wesen weder theoretisch noch praktisch denknotwendig. - Die bei Diez festzustellende "Glaubenskrise", die zur Apostasie führt, ist keine theologisch hausgemachte Krise, sondern Zeugnis der Erschütterung, die durch die Philosophie Kants gerade auch für die Theologie (und nicht nur für die Wolffsche Metaphysik) entstand. Daneben zeigt sich, wie das Eindringen der Menschenrechte von Gewissens- und Religionsfreiheit auch in seiner Relevanz für das theologische Lehramt in Anschlag gebracht wurde.

Fazit: Die Diez-Ausgabe von Henrich ist ein Produkt äußerster editorischer Sorgfalt, verbunden mit größter Quellenkenntnis und beachtlichem Materialreichtum. Zu letzterem bleibt kritisch anzumerken, daß Primärquellen von Diez insgesamt nur in dürftigem Umfang zur Verfügung stehen. Um so verdienstvoller sind die Rekonstruktionsversuche von Henrich und seinen Mitarbeitern. Von zeitgeschichtlichem Interesse sind die Repliken auf die Situation des Tübinger Stifts, aber auch der Anhang zu den Studentenunruhen von Jena (1792). Für den Theologen besonders interessant sind zwei Begleittexte von Anton Friedrich Koch, der eine zur Stellung und Kritik der Bekenntnisschriften in der reformatorischen Kirchengeschichte (924-986), der andere zur Theologie der Offenbarung und ihrer Kritik (987-1032). Beide Beiträge sind sehr gut gelungene Darstellungen, auch wenn sie nicht beanspruchen, forschungsgeschichtlich neue Einsichten zutage zu fördern. Immerhin relativieren sie die Einzigartigkeit der Position von Diez, verorten sie in ihrem weiteren historischen Kontext, ohne auf eine immanente Rekonstruktion seiner Gedanken zu verzichten (1013-1032).

Trotz des Mangels an Originalität, seiner argumentativen Schwäche (verglichen etwa mit Storr und Süßkind) und trotz seiner eigenwilligen Kantexegese (die tendenziell zu Feuerbach und Nietzsche in den Atheismus führt) bleibt Diez als Repetent am Tübinger Stift in der pränatalen Ursprungsphase des Dt. Idealismus von herausragender Bedeutung. Dieses positive Urteil wird auch durch die geringe Bandbreite des erhaltenen Quellenmaterials nicht geschmälert. Die vorliegende Diez-Ausgabe ist unter editorischen Gesichtspunkten ein durchaus vorbildliches Werk. Im Blick auf die Aufgabe geistesgeschichtlicher "Konstellationsforschung" scheint sie eher in das Umfeld des Systemkonzeptes von Fichte (und noch nicht von Hegel) zu gehören. Deshalb füllt Diez wohl nicht die entscheidende Lücke in der Erforschung der Anfangsbedingungen des Dt. Idealismus, bildet aber ein interessantes Mosaiksteinchen auf dem weiten Weg dorthin. Man darf auf die noch folgenden "Dieziana" gespannt sein.