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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1039–1041

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Becker, Mathias

Titel/Untertitel:

Natur, Herrschaft, Recht. Das Recht der ersten Natur in der zweiten. Zum Begriff eines negativen Naturrechts bei Theodor Wiesengrund Adorno.

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1997. 342 S. gr.8 = Schriften zur Rechtstheorie, 177. Kart. DM 98,-. ISBN 3-428-08681-3.

Rezensent:

Ulf Liedke

Die vorliegende Freiburger Dissertation von B. widmet sich den rechtsphilosophischen Aspekten der Philosophie Adornos (A.), einem von der bisherigen Forschung noch kaum beachteten Thema. Sie erschließt damit wichtiges Neuland. In der Absicht, aus der Interpretation der Schriften A.s "den Begriff eines negativen Naturrechts, einer negativ kritischen Rechtsphilosophie, abzuleiten und zu begründen" (15) stellt der Vf. in einem allgemeinen Teil die für die Themenfrage wichtigsten philosophischen Grundlagen dar und wendet sich dann in einem besonderen Teil den konkreten rechtsphilosophischen Aspekten zu.

1. Der allgemeine Teil der Untersuchung erläutert auf drei Ebenen die Kritik des herrschenden Identitätsprinzips, in der A. "die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem als gesellschaftlichen Vorrang des Allgemeinen in der Psychodynamik des Einzelnen aufspürt" (116). Dabei konzentiert sich der Vf. in erkenntnistheoretischer Hinsicht auf A.s Kritik der Ursprungs- bzw. Identitätsphilosophie (Kap. 3). Das Identitätsdenken verfehle die Wahrheit des besonderen, nichtidentischen Objekts, weil es den Gegenstand der Erkenntnis formallogisch aus einem ersten und obersten Begriff ableiten wolle und darin verfehle. In einem zweiten, geschichtsphilosophischen Abschnitt entfaltet der Vf. den Begriff der Naturgeschichte (Kap. 4) und konkretisiert ihn in einer Analyse der ,Dialektik der Aufklärung’ (Kap. 5.1.). An A.s Interpretation der ,Odyssee’ macht er deutlich, wie sich das verhängnisvolle Modell einer identischen, auf Selbsterhaltung ausgerichteten Vernunft herausbildet und allgemein durchsetzt.

Die Verselbständigung der Selbsterhaltung und die mit ihr verbundene Herrschaftsausübung führe letztlich dazu, daß die Subjekte zu Objekten werden und darin die Emanzipation mißlingt. Die Subjektwerdung kulminiere in "Desubjektivierung" (80). Auf einer sozialphilosophischen Ebene beschreibt B. schließlich das darin wirkende objektive "Entwicklungsgesetz der Gesellschaft" (83 u. ö.), das darin besteht, daß "die Totalität der arbeitsteiligen Gesellschaft als eigentliches undurchschautes logisches Transzendentalsubjekt der Erkenntnis" (93) erscheine. Die zum System gewordene und darin unwahre Gesellschaft schaffe mit dem Tauschprinzip die "Einheit von Geist und Wirklichkeit" (112). Diese sei die falsche Identität, in der das Besondere, Nichtidentische unter die Herrschaft des Allgemeinen geraten sei. Sie sei zweite Natur.

B. kritisiert, daß sich in A.s Negativdiagnose Erkenntnis-, Geschichts- und Sozialphilosophie zirkulär begründen: "Während die objektive Vorgängigkeit der Gesellschaft durch die Totalität des Tauschprinzips geschichtsphilosophisch erklärt wird, liegt sie dieser Geschichtsphilosophie erkenntnisphilosophisch immer bereits zugrunde und umgekehrt" (43 f.). Diese Aporie wiederhole sich auch auf der sozialphilosophischen Ebene (69).

2. Mit dieser Darstellung der philosophischen Grundlagen bereitet der Vf. eine Einsicht vor, die sich für den besonderen Teil seiner Arbeit als tragend erweist. A.s Analyse der Gesellschaft als eines totalen Systems negativer Identität führe auf dem Hintergrund der Koinzidenz von Erkenntnis-, Geschichts- und Sozialphilosophie dazu, daß auf der einen Seite die Begriffe von Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit und auf der anderen Seite die von Unwahrheit, Unrecht und Ungerechtigkeit zusammenfallen (44, 114 f., 120 f.). Dies hat für die Hauptthemen des besonderen Teils, die Moral-, Staats- und Rechtsphilosophie unmittelbare Konsequenzen.

2.1. Innerhalb einer moralphilosophischen Erörterung (Kap. 3) macht B. deutlich, daß A. mit seiner Kritik des personalen Subjektes auch die Idee individueller Freiheit zurückweisen muß. Nicht nur die äußere Unfreiheit, die Herrschaft des gesellschaftlichen Identitätsprinzips, mache Freiheit zu einer Fiktion. Schimärisch sei sie andererseits auch dadurch, daß sich die entfremdete äußere Welt im Innern des Subjekts verdoppele und damit die Unfreiheit intrasubjektiv verlängere (137). Freiheit sei folglich unter den Bedingungen der Entfremdung positiv nicht zu haben. Ihre Idee eigne sich daher auch nicht als Grundlage einer Rechtsphilosophie, die in ihren Sollenssätzen eben diese individuelle Freiheit voraussetzt.

2.2. Auch das Staatsverständnis A.s (Kap. 5.1.3.) ergibt sich nach B. auf dem Hintergrund des im gesellschaftlichen Tausch real herrschenden Identitätsprinzips. Es bringe mit sich, daß sich "die Kategorie des Staates als selbständige im Begriff ... der Unwahrheit des gesellschaftlichen Systems auflöst" (173). Weil das gesellschaftliche Ganze, in dem sich die Naturherrschaft reproduziert, vorgängig sei, stelle umgekehrt der Staat nichts anderes als "die repräsentative Ausprägung des Tauschprinzips" (181) dar. Erneut mache sich eine fatale Dialektik zwischen den Individuen und dem Staat geltend. Während die Individuen einerseits ihr Selbsterhaltungsinteresse an den Staat abtreten müßten, um überleben zu können, räche sich die darin mitgesetzte Selbstverleugnung darin, daß sich die Subjekte nun der Gewalt des Allgemeinen unterwerfen müßten.

2.3. Bei der Behandlung der Rechtsphilosophie (Kap. 5.1.4./ 5.1.5.) im engeren Sinn hält der Vf. zunächst fest, daß der Unterschied von Staat und Recht verschwimme, weil der Staat keine positive Legitimationswirkung auf das Recht habe. Staat und Recht würden vielmehr aus der gleichen Perspektive negativer Identität heraus kritisiert. So kann nach B. "das Unrecht der Person ... als Zentralproblem der rechtsphilosophischen Denkansätze bei A. betrachtet werden" (196). Das principium individuationis erweise beispielsweise sein Unrecht gerade darin, daß es mit der "Behauptung von Willensfreiheit und Gewissen" (197) sowie mit dem "ihm zugehörigen Besitz und Eigentumsrecht" eine abstrakte Idee von Individualismus vorgebe, die den Einzelnen angesichts des objektiven Antagonismus ins reale Unrecht setze. Auch das positive Recht sei nichts anderes als "das in die Realität zurückübersetzte und dort die Herrschaft vermehrende verdinglichte Bewußtsein" (Adorno; 206).

3. Nach diesem Durchgang durch die verschiedenen rechtsphilosophisch relevanten Topoi kann B. nur zu dem Resultat (Kap. 6) kommen, daß A. "aus der Kritik jeglicher Identitätsphilosophie heraus nicht nur die ideologische Funktion des abstrakten und des positiven Rechts, sondern, wegen des bloß ideal-wirklichkeitsoppositiven Wesens des Naturrechts ... immer auch dieses infragestellen" muß (227). Deshalb könne A.s rechtsphilosophisches Verhältnis zu Staat und Recht nur "als negatives Naturrecht" (228) beschrieben werden (Kap. 7). Als Naturrecht des Besonderen sei es mit der Utopie opferloser Nichtidentität des Subjekts in einer herrschaftsfreien Gesellschaft verbunden. Für diese Utopie halte A. den Begriff der Versöhnung bereit, die als Nichtidentität von Subjekt und Objekt gedacht wird. "Ihren letzten Grund findet die Negativität eines dialektischen Naturrechts bei A. im alttestamentarischen Bilderverbot ..." (232), das sich als "Urrecht seines nichtidentischen Substrates, des Objekts, der Natur, des ganz Anderen, bzw. des Besonderen" (ebd.) erweise.

4. Die Arbeit B.s behandelt A.s rechtsphilosophische Überlegungen treffend aus der Perspektive negativer Dialektik. Sie konzentriert sich darin vor allem auf die Kritik des negativen Bestehenden. B. macht so plausibel, daß sich die Kritik der Moral-, Staats- und Rechtsphilosophie aus dem Zentrum von A.s Philosophie ergibt. Die zur ,bestimmten Negation’ komplementäre Ebene des noch ausstehenden Anderen wird von B. allerdings nicht in der gleichen Intensität erarbeitet. So überraschen die Passagen zur religionsphilosophischen Verankerung des Bilderverbotes (168-170) und das Kapitel zum negativen Naturrecht darin, daß der Übergang zu ihnen nicht wirklich philosophisch entwickelt worden ist. Darüber hinaus hätte die Auseinandersetzung mit A.s Kritik der Moral, des Staates und des Rechts ausführlicher ausfallen können. Die abschließend aufgeworfene Frage, "ob nicht ohne einen (auch unwahren) Staat die Wirklichkeit ungleich schlimmer wäre" (235) müßte dann auf die im besonderen Teil analysierten Themen zurückbezogen werden. B.s Dissertation hat den Raum für eine weitergehende Beschäftigung mit der Rechtsphilosophie A.s eröffnet. Weitere Arbeiten könnten sich anschließen und bspw. der Frage nachgehen, warum A. der psychoanalytischen Verarbeitung und Aufarbeitung mehr für die Schaffung von Gerechtigkeit zugetraut hat als dem positiven Recht.