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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1036 f

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Molendijk, Arie L.

Titel/Untertitel:

Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996. 213 S. gr. 8 = Troeltsch-Studien, 9. Kart. DM 68,-. ISBN 3-579-00288-0.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Ernst Troeltschs vielzitierte Unterscheidung von Kirche, Sekte und Mystik, wie er sie in seinen "Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1912) vorgetragen hat, enthält in sich eine Reihe von nicht unerheblichen Problemen. Zu fragen ist nach dem methodologischen Status dieser historisch-soziologischen Typologie, nach dem theoriegeschichtlichen Sinn der Tatsache, daß der Mystik-Typ erst spät der Kirche-Sekte-Unterscheidung angefügt wurde, schließlich nach der theologischen Zeitdeutung und Zukunftseinschätzung, die sich in systematischer Perspektive mit der Dreigliederung verbindet. Dieser Themen hat sich M. in einem aufschlußreichen Buch angenommen, das in seinen drei Hauptteilen über die Herkunft der triadischen Typologie informiert, ihre historisch-analytische Kraft diagnostiziert und ihre aktuelle Deutungskraft bewertet.

Unter historischem Blickwinkel stellt M. heraus, daß sich Troeltschs Klassifikation einerseits zwanglos in zeitgenössische Debatten einfügt; andererseits gilt als Spezifikum des Christentumstheoretikers Troeltsch (im Unterschied zum distanzierteren Betrachter Max Weber), daß er dem Christentum nicht nur einen stets mitlaufenden Gemeinschaftsgedanken zuordnet, sondern diesem auch noch eine sozial prägende Kraft unterstellt. Daß Troeltsch über Webers Kategorien Kirche/Sekte hinaus die Mystik in seinen Kanon aufnimmt, hat eben mit einer solchen Veränderung der Bewertungskriterien zu tun. Das ist freilich erst 1909/1910 der Fall, als die Trias abgeschlossen vorliegt (57;59). Mit dieser neuen Sichtweise geht einher, daß Mystik selbst keinen einheitlichen Begriff darstellt, sondern sich ihrerseits in mindestens drei zu unterscheidende Aspekte entfaltet: religiöse Praxis, theologische Theorie, konfessionelle Prägung (72-76). Insofern rückt M., sachlich konsequent, denn auch den Mystik-Typus in die Mitte seiner Untersuchungen.

Aus Troeltschs Durchführung der Typologie im Feld des historischen Materials erhebt M., inwiefern die Trias - im Unterschied zu einer "ableitenden" Ideengeschichte - in der geschichtlichen Wirklichkeit des Christentums nach der jeweiligen Kombination von Sozialimpulsen aus religiösen Gründen zu fragen erlaubt. Keineswegs soll die typologische Differenzierung auf schlichte Eindeutigkeit hindrängen; gerade die Mischung und Überkreuzung unterschiedlicher Motive fördert die konkrete geschichtliche Beschreibung von konfessioneller Vergemeinschaftung, wie M. an einer Reihe von Beispielen aus dem Protestantismus, beginnend schon bei Luther, zeigen kann (85-115).

Der dritte Hauptteil (117-177) befaßt sich mit dem systematischen Rang der religionssoziologischen Typik für Troeltschs eigene Theologie und Kirchentheorie. Hier weist M. nochmals nachdrücklich auf den Sachverhalt hin, daß gerade der Mystik-Begriff bei Troeltsch alles andere als eindeutig ist und darum sehr unterschiedliche Sachzusammenhänge verknüpft. Seinen tiefsten Sinn vermag M. darin zu erkennen, daß er auf das Ineinander von Faktizität und Normativität im religiösen Leben aufmerksam macht - mit einem gewissen Hang zur Distanzierung von der Geschichte. Daher ist M. fraglich, ob ihm tatsächlich, wie Troeltsch zu meinen scheint, eine erkennbare sozial prägende Kraft zukommt; er hält etwa den Begriff der Denomination, der Selbstbegrenzung und Offenheit für andere kirchliche Gemeinschaften verbindet, für sozialanalytisch schlüssiger. Insofern besitzt der Mystik-Typ nach M.s Urteil einen unklaren Status. Dieser wirkt dann freilich auch auf die Konstruktion der Typologie selbst zurück; M. befürchtet eine unzulässige Normierung aus theologischen Gründen (191).

M. hat sich mit großer Mühe und Sorgfalt der historischen Erschließung von Troeltschs Dreier-Typologie gewidmet. Dabei hat er bewußt Redundanzen im Referat in Kauf genommen. Weiter erörterungsbedürftig scheinen mir auf M.s Spuren zwei Fragen. Einmal, wie verhält sich Troeltschs Typologie zu Max Webers Idealtypus (dazu bei M. nur 175 A. 10)? Es ist doch offensichtlich so, daß die Kategorie der Mystik in den Soziallehren keineswegs vom Anfang der historischen Beschreibung her in Gebrauch ist, sondern ihre Prominenz erst mit dem Spiritualismus der Reformationszeit erhält. Historische Phänomene führen also ihrerseits die Kategorien herauf, die sie zu begreifen erlauben. Ihre retrospektive Schlüssigkeit ist dann ein anderes Thema. Die Historizität der Typologie leitet weiter zu der zweiten m. E. noch weiter zu debattierenden Frage, wie sich diese zu der Formveränderung verhält, der das Wesen des Christentums zweifellos auch weiter unterliegt. Es könnte ja sein, daß im Verlauf der Geschichte die Dreiheit der Typen um neue Vergemeinschaftungsformen erweitert wird - und Mystik wäre dann erst der Vorschein einer solchen sich abzeichnenden Veränderung, die dann auch einsichtigerweise nicht abschließend begrifflich bestimmt werden kann. In diese Richtung weist ja auch M.s eigene Hinzufügung des Typus Denomination. Freilich verändert diese Lesart den Status der religionssoziologischen Trias, die dann keine "im neutralen Sinne ,ideologische ...’ Religionssoziologie" (191) darstellt, sondern die Beschreibung von strukturellen Prozeßmomenten in der Christentumsgeschichte beabsichtigt.

Die weitere Debatte um Troeltschs Typologie kann sich mit viel Gewinn auf M.s anregendes Buch stützen.