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Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

87 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kodalle, Klaus-Michael

Titel/Untertitel:

Schockierende Fremdheit. Nachmetaphysische Ethik in der Weimarer Wendezeit.

Verlag:

Wien: Passagen 1996. 180 S. gr.8 = Passagen Philosophie. Kart. öS 280.-. ISBN 3-85165-234-7.

Rezensent:

Christian Danz

Klaus-Michael Kodalles Untersuchung "Schockierende Fremdheit" widmet sich mit Eberhard Grisebach einem Autor, der im gegenwärtigen theologischen und philosophischen Diskurs wenig präsent ist. Seine Studie versucht den Nachweis zu erbringen, daß die Grisebachsche Ethik, welche in dem Kontext der sich herausbildenden sogenannten dialektischen Theologie eine zentrale Rolle spielte, zu Unrecht dem Vergessen anheim gegeben wurde. Diese Intention verfolgt der Vf. auf eine zweifache Weise. Einerseits wird die kritische Ethik Grisebachs an Hand seines Hauptwerkes "Gegenwart. Eine kritische Ethik" (Halle 1928) so rekonstruiert, daß deren Aktualität sichtbar wird (15-109). Andererseits zeichnet der Vf. die theologische Rezeption von Grisebachs Denken bei Gerhardt Kuhlmann (111-134) und Dietrich Bonhoeffer (135-156) nach.

Den Grundgedanken von Grisebachs kritischer Ethik sieht der Vf. darin, daß sie "nicht an der vernünftig einholbaren Kontinuität idealer Sozialität orientiert" ist, sondern "ihre Aufmerksamkeit auf die intime Erfahrung einer kontingent aufbrechenden Diskontinuität" richtet, die "mit Leiderfahrung verbunden sein kann, weil sie gerade aus dem Zusammenbruch einer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft resultieren könnte" (66 f.). Die ethische Wirklichkeit konstituiert sich allein in der unverrechenbaren Begegnung mit dem Anderen, welche das auf Kontinuität gestimmte ethische Subjekt in Frage stellt. Grisebachs Ethik setzt damit auf Differenz, und die Schwierigkeit, welche sie zu bewältigen hat, besteht darin, die Differenzthese so durchzuführen, daß sie nicht den Verdacht auf sich zieht, nur eine ermäßigte Identitätstheorie zu sein. Insofern Grisebach eine Orientierung der Ethik am Identitätsgedanken (48 f.) verabschiedet, läßt sich seine ethische Option als Pluralisierungsthese lesen, die ihre Pointe darin hat, einer Relativierung der ethischen Wirklichkeit durch ein Unbedingtheitsmoment in der Begegnung mit dem Anderen entgegenzusteuern (79-82).

Die sich in der Begegnung mit dem Anderen artikulierende Differenz als konstitutivem Moment der ethischen Wirklichkeit gilt es zu bewahren. Genau diese Frage wird für Grisebach zum Prüfstein der philosophischen Theorien. Denn der Differenzgewinn, den die "Gegenwart" artikuliert, steht ständig in der Gefahr, wieder verspielt zu werden. Dies geschieht dann, wenn die Differenz monistisch ausgelegt wird - sei es in der personalistischen Ich-Du-Philosophie (62) oder in dem Prinzip des Paradoxon (63). Grisebachs Einstimmung der Ethik auf den Differenzgedanken, will er diesem in seiner Durchführung Rechnung tra gen, darf damit weder die Identität noch deren Oppositum, die Differenz, in den Rang eines Prinzips erheben. Damit wäre der Differenzgewinn, den die ethische Wirklichkeit eröffnet, gerade durch seine prinzipientheoretische Fassung wieder verschenkt.

Aus dieser Einsicht ergibt sich nach dem Vf. eine gedoppelte Funktion der Ethik. Einerseits kommt ihr die Funktion einer Kritik zu, indem sie beständig die Differenz von Wahrheit und ethischer Wirklichkeit einklagt, ohne diese Differenz selbst zum Prinzip zu erheben. Und andererseits kommt ihr die Funktion eines Hinweises auf die ethische Wirklichkeit zu, ohne daß sie selbst mit dieser zur Deckung kommen oder gar an ihre Stelle treten könnte. Diese gedoppelte Funktion der kritischen Ethik schlägt sich sowohl in ihrer radikalen Deutungsaskese gegenüber der ethischen Wirklichkeit als auch in ihrem Sprachstil der "Nüchternheit", der auf jegliches Pathos verzichtet, nieder. Grisebach, so der Vf., "umkreist die Gegenwart des Unaussprechlichen, Transzendenten, ohne sich dazu einer Sprache des bedeutsamen Geraunes zu bedienen, die mit ihrer Suggestivkraft auf die Anfälligkeit des Lesers für ästhetische Reize spekulierte" (97).

Grisebachs kritischer Differenzgedanke, welcher mit einer kontingenten Infragestellung des ethischen Subjektes durch den Anderen rechnet, bietet sich einer Theologie, welche auf eine radikale Differenz von Gott und Mensch, Theologie und Kultur setzt, geradezu an. Der Vf. geht dieser Perspektive im zweiten Teil seiner Untersuchung durch eine Interpretation der theologischen Ansätze von Gerhardt Kuhlmann und Dietrich Bonhoeffer nach. Kuhlmanns Theologie zeichne sich, so der Vf., dadurch aus, daß er Grisebachs Projekt einer kritischen Ethik nicht ermäßigt. Mit Grisebach rückt er den unverfügbaren Anderen in den Blickpunkt, so daß das Grundproblem der Theologie als "das einer situationsbezogenen Erfahrung der Begrenzung durch den ’Anderen’" (115) zu bestimmen sei. Eine an allgemeiner Kommunizierbarkeit orientierte Theologie wird damit obsolet (126). Der kritische Differenzgedanke vermag sich nur dann in der Theologie Geltung zu verschaffen, wenn sie als kritische Theorie den Übergriffen der Weltanschauungen auf das Gebiet des Glaubens Einhalt gebietet.

Im Gedanken der Nachfolge als unverfügbarer Konfrontation artikuliert sich, so der Vf., im Zentrum der Theologie Bonhoeffers der Differenzgedanke der kritischen Ethik Grisebachs. Mit diesem setzt Bonhoeffer den Menschen einer begrifflich nicht einholbaren Begegnung mit dem Anderen aus. Der Einzelne wird in die absolute Entscheidung gestellt, in der alle Sicherungsbemühungen zergehen. "Konfrontation mit Jesus hingegen bedeutet: Bruch mit aller Unmittelbarkeit." (145) Im Gegenzug zu Grisebachs kritischer Ethik, welche auf die ethische Wirklichkeit nur verweist und die auf Grund ihrer sich auferlegten Deutungsaskese den Gedanken abprallen läßt, daß sich das ethische Subjekt dem Anderen zu unterwerfen habe, bemüht Bonhoeffer eine Stellvertretungsforderung, die, so der Vf., in den Rang eines Prinzips erhoben wird (154 ff.). Damit wäre jedoch die kritische Differenz von Wahrheit und Wirklichkeit zugunsten ihrer Identität unterlaufen.

Grisebachs kritische Ethik wird vom Vf. als "Philosophie vom Anderen her" interpretiert, die auf Differenz abstellt. In dem Gedanken, daß die Symmetrie von Anerkennungsverhältnissen nicht ohne unaufhebbare Asymmetrien zu haben ist, artikuliert sie nicht nur ihre spezifische Modernität, sondern ebensosehr eine unverzichtbare kritische Einsicht für die Ethik.