Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/1999

Spalte:

304 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Klein, Michael

Titel/Untertitel:

Leben, Werk und Nachwirkung des Genossenschaftsgründers Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888). Dargestellt im Zusammenhang mit dem deutschen so zialen Protestantismus.

Verlag:

Köln: Rheinland 1997. VIII, 255 S. m. Abb. gr.8 = Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 122. Geb. DM 32,-. ISBN 3-7927-1682-8.

Rezensent:

Hans Otte

Zahlreiche ländliche Genossenschaften tragen seinen Namen, und seine Bedeutung für die deutsche Wirtschaftsgeschichte ist unbestritten; in der Geschichtsschreibung des deutschen Protestantismus wird Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888) dagegen kaum genannt. Gegen diese kirchengeschichtliche Ignoranz argumentiert der Vf. mit drei Thesen: Raiffeisen (= R.) war persönlich fromm, er sah - zweitens - die von ihm propagierte Genossenschaftsidee als christliche Verpflichtung an, und drittens warb die Innere Mission zwischen 1888 und 1933 für R.s Darlehenskassen "als ein echt christliches Unternehmen, in welchem praktische Sozialreform auf christlicher Grundlage zu That und Wahrheit wird" (28. Kongreß für Innere Mission in Posen 1895, zit. 174). - Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert: Der erste Teil untersucht minutiös R.s Verhältnis zu Kirche und Christentum, der zweite Teil beschreibt das Verhältnis des Sozialprotestantismus zu dem von R. propagierten Genossenschaftswesen.

In R.s Jugend überschneiden sich drei religiöse Einflüsse: die lebendige Volksfrömmigkeit seiner Mutter, die spätaufklärerische Philanthropie seines Patenonkels, der ihn als Ortspfarrer auch konfirmierte, und die romantisch-erweckliche Begeisterung für Christentum und Deutschtum. Nach einer Karriere als Unteroffizier amtierte R. seit 1847 als Bürgermeister verschiedener Gemeinden seiner Heimat, im ärmlichen Westerwald. Gegen die Kreditnot der Landbevölkerung, die von Mißernten und ländlicher Wucher bedrängt wurde, kämpfte R. mit Kreditvereinen, in denen wohlhabende Einwohner die Bürgschaft übernahmen. Die christliche Verpflichtung zur Wohltätigkeit war hier das zentrale Grundmotiv seines Handelns. Seitdem er in Publikationen überregional für die Genossenschaftsidee warb, argumentierte er weniger moralisch. Der direkte Bezug zum Christentum trat zurück, der Grundsatz "Alle für einen, einer für alle" wurde zum zündenden Schlagwort der Darlehnskassen-Vereine. Aber der persönlich fromme R. - er hatte wohl Kontakt zu den Herrnhutern in Neuwied - beharrte darauf, daß Darlehnskassen, die sich an seinem Normalstatut orientierten, christliche Ziele verfolgten. Er vermied es jedoch, seine Genossenschaftsidee als konfessionell festgelegt darzustellen, und betonte von Anfang an ihren allgemein-christlichen Charakter. Der Bezug auf das Christentum unterschied R.s Genossenschaften von denen, die R. Schulze-Delitzsch propagierte. Hier wurde ausdrücklich auf christliche Begründungen verzichtet und stärker der Eigennutz derjenigen betont, die Genossenschaftsanteile besaßen.

Der Streit um die beste Genossenschaftsform wurde auch innerhalb der Inneren Mission ausgetragen. R. selbst hatte kaum Kontakte zu deren Gründern, aber in der zweiten Generation der Mitarbeiter der Inneren Mission gab es eifrige Verfechter des Genossenschaftsgedanken. Allerdings war die Verbindung der Provinzialvereine für Innere Mission zu den Genossenschaftskassen unterschiedlich eng, bestimmend war das Interesse einzelner Pfarrer. Die Zusammenarbeit von Raiffeisen-Genossenschaften und Innerer Mission löste sich dann in den Zwanziger Jahren. Die Repräsentanten der Dialektischen Theologie konnten bei solchen Aktivitäten keinen Bezug zur Verkündigung erblicken, außerdem geriet die zentrale Deutsche Raiffeisenbank zeitweilig in Finanznot; vielen Mitarbeitern der Inneren Mission schien eine größere Distanz sinnvoll zu sein. In der NS-Zeit wurde der Reichsverband der Raiffeisen-Genossenschaften in den nationalsozialistischen Reichsnährstand überführt, damit trennten sich die Wege von der Kirche und dem Genossenschaftswesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nur selten noch auf die christliche Grundlage des Genossenschaftsgedankens hingewiesen.

Die Lektüre der Arbeit ist kein ungetrübtes Vergnügen. Der Schreibweise des Vf.s ist kompliziert, oft schwerfällig. Langatmig untersucht er zahlreiche irgendwie biblisch klingende Aussagen, ob sie einen direkten Bezug zum Christentum hätten, übersieht dabei jedoch, daß viele Redeweisen schlicht konventionell sein konnten - zumal im 19. Jh., als Religion und Kirche den Schulunterricht noch viel stärker bestimmten. Von diesen Mängeln abgesehen ist die Arbeit überzeugend. R. und die von ihm propagierten Genossenschaften verstanden sich als Ausdruck eines christlichen Engagements, R. selbst gehört in die Reihe der christlichen Sozialreformer. So trägt die Arbeit dazu bei, das Bild des deutschen Protestantismus im 19. Jh. zu revidieren: Der damalige Sozialprotestantismus war kein bloßer Fehlschlag, auch wenn seine Erfolge später übersehen und vergessen wurden.