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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1151–1153

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gräb, Wilhelm, and Lars Charbonnier [Eds.]

Titel/Untertitel:

Religion and Human Rights. Global Challenges from Intercultural Perspectives.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. VI, 222 S. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-11-034811-8.

Rezensent:

Ina Schaede

Im akademischen Würdediskurs standen bisher die christlich-theologischen und philosophischen Begründungsstränge im Vordergrund, die mit den säkularen zu konkurrieren schienen. Dass diese Alternative wenig aufschlussreich ist und vielmehr neue Erkenntniswege zur Frage nach der Rolle der Religion im Menschenwürde- und Menschenrechtsdiskurs im Zeitalter der Globalisierung beschritten werden müssen, macht dieser Sammelband deutlich. Dabei bringt er die deutsche und südafrikanische Perspektive ins Gespräch. Beide Perspektiven verbindet eine kritische Sicht auf Theologie und Kirche, die im Zeitalter von Nationalsozialismus und Apartheid eine ambivalente Rolle gespielt haben.
Aus deutscher Perspektive: Eine steile Vorlage liefert gleich zu Beginn Wolfgang Huber, der die Legitimität rechtserhaltender Ge­walt mit der universellen Bedeutung von Menschenwürde be­gründet. Die Menschenwürde sei dann verletzt und müsse notfalls mit Gewalt geschützt werden, wenn der Andere vor dem Zugriff staatlicher Gewalt nicht mehr sicher sei. So wurden Genozide wie in Ruanda als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« aufgefasst und international als Akte staatlicher Willkür gegenüber Bürgern oder Minderheiten geächtet. Nach Wilhelm Gräb hat sich, wie er im Anschluss an Hans Joas behauptet, der Begründungswettstreit um Menschenwürde und -rechte erschöpft. Stattdessen müsse man von einer historischen Entwicklung zu einer Religion der Menschlichkeit sprechen, die nicht auf eine bestimmte Religion oder Kirche zurückgehe. Die Verknüpfung des Menschenrechtsdiskurses mit den Erfahrungen der Apartheid in Südafrika sei ein gutes Beispiel für diese komplexe, aus vielen Elementen bestehende Reli-gion der Humanität. Die konkreten Religionen müssten angesichts dieser universellen Religion der Menschlichkeit ihre eigenen Traditionen und Praktiken stets hinterfragen und dabei notfalls Spannungen in Kauf nehmen. Hans Joas geht von einem Prozess der Sensibilisierung für die Sakralität der anderen Person aus. Die Verletzung von Leib und Leben des anderen Menschen würden öffentlich viel sensibler wahrgenommen als noch vor einigen Jahrzehnten. Der entsprechende kulturelle Transformationsprozess konnte nur erfolgen, weil eine bestimmte Überzeugung auch subjektiv als einleuchtend empfunden wurde. Erst mit diesem Prozess vermochte sich die Menschenrechtsidee durchzusetzen. Sie sei also nicht nur ein bestimmtes universalistisches Prinzip, sondern das Ergebnis einer komplexen Erzählgemeinschaft, in die jeder Einzelne mehr oder weniger affirmativ eingebunden sei.
Nach Sarhan Dhouib könnten die Menschenrechte auf der Grundlage der islamischen Kultur und Religion durchaus gesellschaftlich implementiert werden, wenn die entsprechenden Dokumente einen kritischen Säkularisierungsprozess durchliefen. Johannes Fischer schließlich versucht grundlegend zu klären, was Menschenwürde und Menschenrechte eigentlich sind und in welcher Beziehung sie zu­einander stehen. Während Menschenwürde normativ in der faktischen Anerkennung eines Menschen als Mensch begründet sei, müssten Menschenrechte in moralische und politische Rechte unterschieden werden, um sich im speziellen Kontext bewahrheiten zu können.
Aus südafrikanischer Perspektive: Nach Daniel Louw muss die Theologie in einem spirituell-ästhetischen Prozess in eine pneumatische Anthropologie transformiert werden, um zukunftsfähig zu bleiben. Ausgehend von der Lehre vom dreifachen Amt Christi fordert Nico Koopman von Theologie und Kirche stärkeres Engagement zur Inklusion der schwarzen Bevölkerung. Dirkie Smit interpretiert ein Gedicht von Adam Small. Darin wird die bestehende Rechtspraktik einer Trennung von Weißen und Schwarzen in Frage gestellt. Smit fragt, nach welchen Kriterien das Gesetz im Sinne einer höheren Gerechtigkeit hinterfragt werden könnte. Während Simanga Kumalo in den Texten der religiösen Gemeinschaften Ansätze zu einer Menschenrechtskonzeption zur Verbesserung sozialer Konditionen sieht, geht Beatrice Okyere-Manu diesen Konditionen im Blick auf Mädchen und Frauen nach, die besonders unter den massiven Herausforderungen durch HIV/ Aids zu leiden hätten. Johan Cilliers schließt den Sammelband mit einer kritischen Sicht auf Theologie und Kirche, die während der Apartheid die schwarze Bevölkerung vom Abendmahl systematisch ausgeschlossen hätten.
Der Sammelband eröffnet neue interdisziplinäre Perspektiven auf die Würde- und Menschenrechtsthematik und setzt insbesondere durch den interkulturellen Dialog ohne Frage neue Maßstäbe. Insbesondere der deutschsprachige akademische Würdediskurs ist durch die Dominanz der Wahrnehmung rechtswissenschaftlicher Diskurse zu einseitig geworden. Etablierte, jedoch nicht immer inspirierende Streitaspekte (etwa der Begründungswettstreit) werden klar umrissen, jedoch zugunsten neuer Alternativen weitergeführt. Nicht immer ist die Verbindung zwischen Menschenrechten und dem Aspekt der Globalisierung klar. Die Zusammenfassung der Thesen mancher Autoren in der Einleitung bleibt oftmals kryptisch. Auch die englische Übersetzung fällt recht spröde aus. Darüber hinaus bleibt offen, ob und wie es mit dem deutsch-südaf-rikanischen Menschenrechtsdiskurs weitergeht. Nicht zuletzt bleibt die Frage, wer nun die Hohepriester der neuen »Religion der Menschlichkeit« sein sollen, ohne die Deutungsmacht der juristischen Expertise überlassen zu wollen. Man kann nur auf eine Fortsetzung dieser anregenden Dokumentation hoffen.