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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1029–1031

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Cottret, Bernard

Titel/Untertitel:

Calvin. Eine Biographie. Aus dem Franz. von W. Stingl.

Verlag:

Stuttgart: Quell 1998. 494 S. gr.8. Geb. DM 78,-. ISBN 3-7918-1730-2.

Rezensent:

Wilhelm H. Neuser

Das Erscheinen einer neuen ausführlichen Biographie Calvins ist sehr zu begrüßen. Denn die große Zahl der in den vergangenen Jahren erschienenen Monographien zur Theologie Calvins hat die Erforschung des Denkens Calvins außerordentlich gefördert, die des Lebens Calvins aber vernachlässigt. Die Biographie aus der Feder eines französischen Historikers bringt dem deutschen Leser zudem den Gewinn, über die französische Calvinforschung eingehend unterrichtet zu werden. Der Nachteil sei auch sogleich genannt: Der Vf. ist Historiker, nicht aber auch Theologe. Zwar bemüht er sich, auch theologische Sachverhalte einzubeziehen - der Institutio ist ein eigenes Kapitel gewidmet - doch wird die Feinheit des theologischen Denkens Calvins nicht geboten.

Wenn auch die Einbeziehung aller Wissensgebiete eine unverzichtbare Forderung der Calvinforschung sein muß, so liest gerade der Theologe diese Biographie mit besonderem Nutzen. Denn die Herausstellung der politischen, der geistesgeschichtlichen, der kulturellen und anderer Gegebenheiten (wie etwa der Astrologie) weisen ihn auf die drohende Gefahr hin, die theologischen Fakten überzubewerten. Es verwundert daher nicht, daß der Vf. der Schrift Calvins "De scandalis" (1550), die insbesondere die reformationsfeindlichen Gruppen auf dem "linken Flügel" behandelt (Anabaptisten, Spiritualisten, Libertiner usw.), besonders heranzieht. Dieser Hervorhebung muß zugestimmt werden.

Der Vf. versucht Calvin ohne Vorurteil gerecht zu werden. Der oft geäußerten These, er sei in Genf ein Diktator oder Fundamentalist gewesen, tritt er entgegen. Wertungen werden sehr zurückhaltend vollzogen. Die Darstellung gewinnt so eine große Offenheit: "wir (geben) einem ,unvollendeten’ Calvin den Vorzug" (14).

Der "junge" Calvin (bis 1534) wird besonders ausführlich besprochen; ihm werden 100 Seiten gewidmet. Es ist verständlich, daß den Anfängen Calvins diese große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Sein Herauslösen aus der mittelalterlichen Kirche und Frömmigkeit wirft viele Fragen auf. Die Ausführungen über Jugend, Familie und Studentenleben sind sorgfältig zusammengestellt. Die Gründung des "Collège des lecteurs royaux" gibt Anlaß, sich mit dem "Glanz und Elend des französischen Humanismus" zu befassen. Hingegen bleibt der französischen Bewegung des "evangelisme" (77, 84) blaß; B. Roussel u. a. haben sein Programm dargestellt. Für Calvins Bekehrung wird die These der (nach eigener Aussage) "conversio subita" als "durchlebte" Bekehrung bevorzugt - entgegen dem französischen Wortlaut (conversion subite) (92). Der Vf. datiert "um 1532-1533" (87). Calvins gewichtiger Zusatz der conversio "ad docilitatem" bleibt unbeachtet. Das Treffen Franz I. mit dem Papst im Herbst 1533 und die Plakataffäre 1534 bedeuteten dann den Umschwung in der französischen Religionspolitik. Calvin verläßt daraufhin Frankreich.

Mit dem Vorwort zu Olivétans Bibelübersetzung erscheint das erste reformatorische Werk Calvins. Die Überschrift lautet allerdings nicht: "Ihr alle, die ihr Jesus Christus liebt", sondern "Jesus Christus und sein Evangelium". Reformatorisch neu ist das Evangelium. C. hebt den "laizistischen Akzent" in Calvins Ausführungen hervor: "Männlich oder weiblich, klein oder groß, Knecht oder Herr, Meister oder Schüler, Kleriker oder Laie" usw. (117). Die Bibelübersetzung gibt Anlaß, deren und Calvins große Bedeutung für die französische Sprache zu erörtern.

Über den ersten Genfer Aufenthalt (1536-1538) und die Wirksamkeit in Straßburg (1538-1541) wird nur sehr knapp berichtet, ausführlich hingegen über Calvins Rückkehr nach Genf, den Sadoletbrief und die politischen Verhältnisse in Genf. Der Zeitabschnitt 1547-1555 wird treffend als "Die düsteren Jahre" bezeichnet. Sehr gründlich und vorurteilslos wird der Servetprozeß (1553) und Castellios Schrift gegen die Ketzerverfolgung (1554) dargestellt. Castellios wenig angenehmes Wesen wird nicht verschwiegen. Nach 1555 herrschte Calvin in Genf unangefochten; herausgestellt wird, daß er bald berühmt war und die Genfer dies auch wußten. Von seiner Wirksamkeit nach außen wird die nach Frankreich und England behandelt, nicht aber die nach Polen und Ungarn.

Der letzte Teil ist überschrieben "Der Glaube" und gibt eine gute Übersicht über seine wichtigsten theologischen Schriften. Nach der Beschreibung der Polemik Calvins erscheinen die Themen Nikodemismus, "Wiedertäufer und Freigeister", falsche und wahre Astrologie, Heiligen- und Bilderdienst und Predigttätigkeit, dort insbesondere seine Behandlung der Schönheit der Welt, Mensch und Natur. Neu ist Calvins Zurückhaltung gegenüber dem Druck seiner Predigten, was in der Forschung noch zu denken geben sollte. Die Institutio (der Vf. zieht mit G. Lanson die Ausgabe 1541 der Endfassung vor; 366), Calvins Verhältnis zum Humanismus und sein Gottesverständnis bilden den Abschluß.

C. liebt es, die einzelnen Kapitel mit philosophischen und psychologischen Überlegungen einzuleiten, bevor er zu den Fakten kommt. Er legt großen Wert auf eine genaue Begriffsbestimmung ("Calvinismus", "Reformation" u. a.), die mit erheblicher Wortfülle vorgetragen wird. Das Buch ist ein französisches Buch. Die Übersetzung gibt diese Eigenart voll wieder. Der Übersetzer bietet einen gut lesbaren Text von hoher Qualität. Zwei Stellen erfordern Rückfragen: Offenb. 13,8: Das Lamm, "welches geschlachtet worden ist von Anbeginn der Welt" (106)? Und: "Syndic" wird stets mit Stadtamtmann statt mit Bürgermeister wiedergegeben.