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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1147–1150

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Böhler, Dietrich

Titel/Untertitel:

Verbindlichkeit aus dem Diskurs. Denken und Handeln nach der Wende zur kommunikativen Ethik – Orientierung in der ökologischen Dauerkrise. Studienausgabe.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2014. 592 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-48641-2.

Rezensent:

Konrad Ott

Das anzuzeigende Buch ist das Opus Magnum von Dietrich Böhler. Ein zentrales Motiv ist die konzeptionelle Verbindung aus Diskurs- und Verantwortungsethik angesichts der Naturkrise der Moderne.
Der erste, philosophiegeschichtliche Teil des Buches geht von der sokratischen Gesprächsführung als frühes Modell eines dialogischen Philosophierens aus, das durch die Ideenlehre Platos wirkmächtig überlagert und verdrängt wird. Interessant sind die Ausführungen zur Rhetorik (Isokrates, Cicero), die allerdings immer in einer Zwischenstellung zwischen sophistischer und diskursiver Redekunst verblieb und ohne Reflexion auf die Implikaturen dialogischer Rede in »Relativismus und Opportunismus« verfällt (124). Der historische Teil endet mit einer Rekonstruktion von Wittgensteins Sprachspiel-Theorie, gegen die B. zu Recht geltend macht, dass sie die Fragen nach allgemeinverbindlichen normativen Grundzügen kommunikativen Handelns in der Pluralität der Sprachspiele nicht entschieden genug stellt (158). Etwas »angehängt« wirkt Kapitel 1.7: »Diskurswillige Wanderschaft? Biblisches Dialog- und Moralerbe« (167–172). Wenn die biblische Religiosität maßgeblich auf der Kommunikation mit Gott als »Bundespartner« (167) beruht, so bleibt fraglich, ob das biblische Gottesverhältnis tatsächlich als »Dialog mit einem absolut verlässlichen […] Partner« begriffen werden kann. Der jüdisch-christliche Gott erscheint bei B. als Idealfigur dessen, worauf uns die Präsuppositionen der argumentativen Gesprächsführung auch säkular verpflichten, nämlich auf die Rolle ernsthafter und glaubwürdiger Diskurspartner. Über diese These mögen Theologen befinden.
Der systematische Teil des Buches orientiert sich an dem transzendentalpragmatischen Ansatz von Karl-Otto Apel. Dem Ansatz von Jürgen Habermas wird vorgehalten, er verwässere die grundlegenden Einsichten der Diskursethik durch allerlei unnötige Zugeständnisse (289). B. richtet den fragenden Anruf Gottes an Adam »Wo bist du?« an einen fingierten skeptischen Gesprächspartner, der sich den Präsuppositionen und Implikaturen diskursiver Rede entziehen möchte. Zur Widerlegung skeptischer Opponenten werden längere Dialogpartien in das Buch eingefügt. Die Widerlegung der Skeptikerin durch den Aufweis performativer Selbstwidersprüche zählt zum methodischen Inventar der Diskursethik; B. setzt diese Tradition fort. Seine Leitfrage lautet demgemäß: »Wo finden wir dich? Was tust du gerade, und was nimmst du dabei (auch uns gegenüber) bereits in Anspruch?« (237) Mit Apel und Kuhlmann macht B. geltend, dass sprechende Akteure sich »je immer schon« in einem »quasi-dialogischen Bezug auf Situationen« befinden (236). Mit Kant, bei dem das »Ich denke« alle Vorstellungen begleiten können muss, behauptet B., dass jede und jeder sich immer schon in einem »impliziten doch expliziten Begleitdiskurs« befindet (237. 245 u. ö.).
Das Konzept des Begleitdiskurses ist B.s originärer Beitrag zum Diskurs der Diskursethik. Nicht erst durch Teilnahme an Diskursen, sondern bereits durch Orientierung in Situationen sind wir auf die Rolle glaubwürdiger Diskursteilnehmerinnen verpflichtet. Dieses Konzept des Begleitdiskurses ermöglicht es, die Beziehung zwischen menschlichen Praxisbezügen und diskursiven Leistungen schärfer in den Blick zu nehmen (23). Leider wird diese Beziehung nicht vertieft. Das Leitmotiv des Begleitdiskurses wird nun variantenreich durchgespielt. Wer mit der Gedankenwelt der Diskursethik vertraut ist, wird hier viel Bekanntes finden; wer sich noch nicht intensiver mit dieser Ethikschule beschäftigt hat, kann dieses dritte Kapitel mit Gewinn studieren, sollte aber auch die Primärtexte vergleichend heranziehen.
Für B. führt die Reflexion auf den Begleitdiskurs in einem Dreischritt aus »Vorverständnis, Rekonstruktion, aktuelle Reflexion« (274) zu den Verbindlichkeiten, von denen sich glaubwürdige Diskurspartner nicht dispensieren können. Zu diesen Verbindlichkeiten zählen neben der Orientierung an Geltungsansprüchen, die B. von Habermas übernimmt, sieben »Dialogversprechen«, die sich an diversen Arbeiten von Apel, Kuhlmann, Habermas und deren Schülern orientieren. Hier hätten neuere Arbeiten zur formalen Rekonstruktion transzendentaler Argumente (etwa durch Marcel Niquet oder Geo Siegwart) berücksichtigt werden können.
Zu besagten Verbindlichkeiten zählt für B. auch ein »Kernstück diskurspragmatischer Ontologie« (291), nämlich die Beziehung zu einer gemeinsamen Welt. Diskurspartner sind immer zugleich auch »Weltbewohner« und haben »insofern Mitverantwortung für die Welt« (ebd.). An dieser Stelle kann auf extrem hohem Abstraktionsniveau der Verantwortungsbegriff eingeführt werden, der sich auf die allen Diskutanten gemeinsame Welt auch in ihrer »Manipulierbarkeit und Zerstörbarkeit« bezieht (ebd.). Verantwortung für die Welt ist immer Mitverantwortung. Das ethisch kompli-zierte Konzept der Mitverantwortung wird leider nicht näher analysiert.
Mitverantwortung für die Welt ist von einer »moralstrategischen« Art der Verantwortung zu unterscheiden (359). Diese Problematik wurde von Karl-Otto Apel unter der Rubrik »Teil B der Diskursethik« erörtert; für B. handelt es sich um einen »Überstieg« (363) zu einer »erfolgsmoralischen Stufe« der Diskurs- qua Verantwortungsethik, in der die diskursethischen Prinzipien dispensiert werden dürfen, da und insofern ihre Anwendungsbedingungen nicht erfüllt sind. Diese Stufe ist nicht der Schritt zur Anwendung unter nicht-idealen Bedingungen, sondern konstituiert ein höheres Urteilsniveau (363). Der Grundfehler scheint mir darin zu liegen, dass die moralstrategische Stufe der Stufe der diskursethischen Prinzipien »aufgesetzt« wird. Die berechtigte Frage nach den Erfolgsaussichten des Moralischen unter »nicht-moralischen« Bedingungen ließe sich in jedem Fall differenzierter stellen, wenn der Mehrdeutigkeit des Negators (»nicht«) angemessen Rechnung getragen würde: »außermoralisch«, »amoralisch«, »moralwidrig«, »unmoralisch«. Auf S. 415 findet sich die Unterscheidung zwischen der moralstrategischen und der moralkonservativen Frage, welche bestehenden ethischen Traditionen und politischen Institutionen gestärkt werden sollten. Wenn sich aber zwei Realisierungsfragen stellen, bleibt unklar, ob die moralkonservative Frage eine eigenständige Stufe darstellt und wie sie sich zur moralstrategischen »Stufe 7« verhält.
Das vierte Kapitel setzt ab S. 407 bei der Notwendigkeit einer Zukunftsverantwortung angesichts der Krisen und Risiken der wissenschaftlich-technischen Zivilisation ein. Dieses Leitmotiv verbindet Apel und Jonas. Die Philosophie von Hans Jonas wird nur in ihren Grundzügen dargestellt. Eine werkgeschichtliche und systematische Darstellung, wie sie etwa von Eric Jakob (»Martin Heidegger und Hans Jonas« [1996]) vorgenommen wurde, findet sich nicht.
Auf S. 257 wird Jonas’ Ethik als »wertethische Phänomenologie« bezeichnet, die lebensweltliche Intuitionen rekonstruiere. Bezugspunkt dieser Ethik sei die Identität des Alltagsmenschen, »der ein gutes Leben will« (257). Diese Deutung steht quer zur Dramatik von Jonas’ Mahnungen angesichts der Unheilspotentiale der technischen Zivilisation. Die philosophische Biologie von Jonas mit ihrer Idee einer werthaften Selbstbejahung des Lebens in organischen Vollzügen hätte vertieft werden können (455). Stattdessen findet sich ein Vergleich zwischen Hans Jonas und Albert Schweitzer, der eine (überscharfe) Kritik an Schweitzer enthält, dessen Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben als »intuitionistische[r], selbstvergessene[r] Öko-Holismus« (456) (dis)qualifiziert wird. Jonas’ Rede von der »Zukunft der Natur«, die in der Forderung nach »Zukunft der M enschheit« als deren notwendigen Bedingungen enthalten sei (454), wird nicht näher analysiert, sondern in abstrakter Allgemeinheit hingestellt. Dass Jonas mehr als »alle Ökosophie« (463) zur Begründung der intrinsischen Werthaftigkeit des organischen Lebens geleistet hat, wäre angesichts neuer biozentrischer Ethiken (Paul Taylor, Robin Attfield, Nicolas Agar, John Nolt) zu zeigen, nicht bloß zu behaupten. Das Inklusionsproblem, vor allem die bei Jonas und Schweitzer versuchte Begründung der Biozentrik, wird nicht systematisch vertieft.
Auch zu Detailfragen der Zukunftsverantwortung, die Jonas angemahnt hat, sind in den vergangenen Jahren viele Beiträge geleistet worden. Bei B. findet sich nichts oder wenig zum »future individual paradox« (Derek Parfit), zur Unterscheidung zwischen absolutem und komparativem Standard, zur Diskontierung zu­künftiger Weltzustände, zur Risikobewertung, zu Konzepten von Nachhaltigkeit und zur Langzeitverantwortung in der Demokratie. Die Zukunftsverantwortung wird im Sinne von »Teil B« so konzipiert, dass eine Beschränkung der Diskursteilnehmer auf einen »Kreis zukunftsverantwortlicher Moralfreunde« (483) vorgenommen wird, die dann diskursiv gerechtfertigt werden soll. Die Zustimmung der unbegrenzten Diskursgemeinschaft bleibt als Idee auch dann wirksam, wenn » die Öffentlichkeit (wegen Moralfeindschaft bzw. Diskursunterdrückung o. ä.) hatte ausgeschlossen werden müssen« (483, Hervorhebung im Original). Die Diskursfeinde verwirken ihre Diskursrechte (ebd.).
Sehr pauschal werden »zahlreiche Ökophilosophen« kritisiert, die auf naturalistische Weise an eine »kosmische Solidarität« (461) appellieren. Sind hier Klaus Michael Meyer-Abich, Arne Naess, Baird Callicott, Paul Taylor oder Holmes Rolston (oder andere) ge­meint? Die dem Ansatz B.s nahestehenden Versuche, Diskurs- und Umweltethik durch Rekonstruktion des umweltethischen Argumentationsraumes miteinander zu vermitteln, finden keine Er­wähnung. Das einzige Handlungsfeld, das vertieft behandelt wird, ist die Nutzung der Kernenergie (491 ff.). Hier hat man allerdings den Eindruck einer Zeitreise in die 1970er Jahre. Ob man sagen kann, dass bereits »ein« Atomkraftwerk »dem Einbau einer akuten Lebensgefahr in den Planeten« (496) gleichkommt, dürften auch viele Gegner der Atomenergie bezweifeln. Die neue deutsche De­batte um die Einlagerung hochradioaktiver Reststoffe nach dem Ausstiegsbeschluss wird nicht erwähnt.
Gegen Ende des Buches bleibt es allzu häufig bei krisendia-gnos­tischen Stichworten (420), zu denen auch Ausdrücke wie »Turbo-Finanzkapitalismus« zählen. Was genau ist mit »ökologischer Nachhaltigkeit« (424) gemeint? Welches Verständnis von Substitution, Reversibilität und Kompensation ist beispielsweise in die Maxime investiert worden, man solle sich nur auf Projekte einlassen, »deren Folgen sich kompensieren lassen« (424)? Der Abschnitt zu Präimplantationsdiagnostik und Menschenwürde enthält nicht viel mehr als ein onus probandi (536 f.).
So hinterlässt die Lektüre insgesamt einen zwiespältigen Eindruck. Das Buch konzentriert sich auf das Begründungsprogramm der Diskursethik. Hier konkurriert es u. a. mit Wolfgang Kuhlmann (»Reflexive Letztbegründung«) und Niels Gottschalk-Ma­zouz (»Diskursethik«). Es perspektiviert unter Rekurs auf Jonas die Aussichten auf eine Umweltethik, aber belässt es weitgehend bei dieser allgemeinen Perspektivierung. Es weist gleichsam den Weg, den andere gehen sollten (und auch bereits ein Stück weit gegangen sind).