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Ausgabe:

Oktober/1999

Spalte:

1027–1029

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Buckwalter, Stephen E.

Titel/Untertitel:

Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1998. 336 S. gr.8 = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 68. Lw. DM 78,-. ISBN 3-579-01736-5.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Zur Priesterehe existierte bislang für die frühe Reformationszeit noch keine zusammenfassende Arbeit. Diese Lücke möchte B. mit seiner Untersuchung von 23 Flugschriften, vorwiegend aus den Jahren 1523/24, schließen. Es handelt sich um eine leicht überarbeitete Göttinger Dissertation von 1996/97.

Nach einer Einführung in die historischen Voraussetzungen für die frühreformatorischen Auseinandersetzungen um die Priesterehe werden in einem 1. Hauptteil (41-130) die wesentlichen Schriften zur Zölibats- bzw. Priesterehenfrage von Erasmus, Luther, Karlstadt, Zwingli sowie die für die Multiplikation wichtigen Schriften Eberlins untersucht. Der frühe Schlagabtausch zwischen Johann Fabri und Justus Jonas wird ebenfalls einbezogen. Bei aller Kritik des Zölibats plädiert Erasmus nur für eine kirchlich geordnete Freigabe. Sein Beitrag zur Debatte ist nur begrenzt rezipiert worden. Impulsgebende Wirkung hatten vor allem Luthers Schriften, einschließlich der mit seinem Vorwort neu edierten "Epistola divi Hulderichi" aus dem 12. Jh. Luthers biblisch orientierte Überzeugung von der Keuschheit als einer seltenen Gabe Gottes und dem Zwangszölibat als Signum des Antichrists gehören fortan zu den Grundüberzeugungen des reformatorischen Meinungsprofils. Zu Karlstadts früher Radikalisierung auch in dieser Frage liegen neuere Arbeiten vor, die B. berücksichtigt. Bei der "Apologia" für Bernhardi hält er mit Richard Wetzel - Wetzels Wittenberger Referat ist inzwischen gedruckt - Melanchthons Beteiligung für möglich. Den Verantwortlichen für die Drucklegung des Sendbriefs über Karlstadts Eheschließung sieht er in Johann Lang. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung hält er den Druck der Hochzeitsmesse Karlstadts nicht für eine Persiflage der Gegner. Anhand der Wittenberger Diskussion über die Gelübde 1521/ 22 arbeitet B. heraus, daß sich die Wittenberger Haltung zur Zölibatsfrage fast dialogartig entwickelte. Sie beruht auf einem "im wesentlichen homogenen gedanklichen Fundament" Luthers und Karlstadts. Das erklärt vor allem den einheitlichen "Kanon von Aussagen" zur Priesterehe in den Flugschriften von 1523-1525 (112). Wegen dieser Gemeinsamkeit ist auch Luthers Einfluß auf Zwingli in dieser Frage nicht genauer zu bestimmen. Dasselbe gilt für Eberlins Schriften, obgleich bei "Wie gefährlich es sei ..." die Abhängigkeit von Luthers "Vom ehelichen Leben" erkennbar ist und somit erst Oktober/ November 1522 als Erscheinungstermin nahelegt (124). Da B. Luthers Auslegung von 1Kor 7 (1523) nicht in seine Untersuchung einbezieht, schließt er sich der üblichen Auffassung an, Luther habe die Antwort auf Fabers Schrift allein Jonas überlassen.

Im 2. Hauptteil (133-284) wendet sich B. den acht Orten mit Eheschließungen von Priestern zu, die ein Echo in fallbezogenen Flugschriften gefunden haben: Erfurt, Würzburg, Straßburg, Augsburg, Worms, Eisenach, Basler Raum, Schwäbisch Gmünd. Die Debatte in Erfurt nimmt durch ihre zeitliche Erstreckung von 1522-1525, durch den profilierten Verteidiger des Zölibatsgebots Bartholomäus Arnoldi, seine reformatorischen Gegner Johann Culsamer, Aegidius Mechler, Johann Lang sowie die Verzahnung von Predigten und Flugschriften eine Sonderstellung ein.

B. korrigiert das Mißverständnis, Arnoldi habe die Priesterehe teilweise befürwortet. Die Würzburger Auseinandersetzung betrifft die Affäre um Johann Apel und Friedrich Fischer von 1523. Für Paul Speratus hält B. ein Konkubinatsverhältnis für wahrscheinlicher. In Straßburg wird die lokalbezogene Debatte durch einschlägige reformatorische Nachdrucke vorbereitet und unterstützt. Sie erhält durch Laienbeteiligung (Katharina Zell), Vielfalt theologischer Motive und persönlicher Perspektiven auch ein eigenes Profil. Besondere Züge kann B. bei weiteren fallbezogenen Flugschriften ebenfalls herausarbeiten, bei Augsburg die einzige Veröffentlichung einer Trauhandlung, bei Worms die einzige Schrift zur Priesterehe in gereimter Form, bei Basel den Protokolldruck einer Disputation, bei Schwäbisch Gmünd die Ergebnislosigkeit der Publikation zur Eheschließung von Andreas Althamer. Die Argumentation zur Schrift von Jakob Strauß, die als einzige auch gegen innerreformatorische Kritiker Stellung beziehe, bedarf weiterer Prüfung. Vor allem wäre der erstaunlichen Nähe von Strauß zu Thomas Müntzer bei der Begründung der Ehe und in den Äußerungen zur Bibelhermeneutik nachzugehen.

Anhangweise geht B. auf einige Schriften von 1525-1528 ein, die nicht zu den fallbezogenen Flugschriften zu zählen sind, aber die Gesamtthematik betreffen (Johann Bugenhagen, Johann von Schwarzenberg und Kaspar Schatzgeyer, Stephan Klingebeil). Die Schrift des Dresdner Hofkaplans Wolfgang Wulffer gegen Luthers Auslegung von 1Kor 7, das "Epithalamion vnd Brautlied Merten Luthers" von 1525 wird nicht berücksichtigt, ebenfalls nicht die erste Welle der Flugschriftenpolemik gegen Luthers Eheschließung, bei der auch die Gelübdefrage im Mittelpunkt steht (Briefwechsel zwischen Herzog Georg und Luther vom Dezember 1525, Hieronymus Emser 1525/26, Petrus Sylvius 1526, Sendbriefe der Leipziger Magister Johann Hasenberg und Joachim von der Heyden 1528).

In einem Schlußteil (285-301) faßt B. den Ertrag seiner Untersuchung knapp und übersichtlich zusammen. Bekannte Phänomene der Flugschriftenpublizistik werden erneut bestätigt oder mit neuen Konturen versehen, z. B. die Impulsfunktion der Lutherschriften von 1520/22, die Homogenität der Wittenberger Position bei Unterschieden in der Akzentsetzung (Luther und Karlstadt), die gegenseitige Unterstützung von Predigt und Flugschrift, der Zusammenhang von Provokation, Bekenntnis und Rechenschaftslegung, eine Art Kanon für die biblische Fundierung des Sachanliegens. Dazu gehören auch die Umrisse eines neuen Priesterbildes (Vorbild, Übernahme von Laientugenden).

In der Regel baut B. auf dem Forschungsstand zu den Autoren und ihren Schriften auf, ohne ihn im einzelnen weiterzuführen. Auf ungesicherte Meinungen macht er jedoch aufmerksam, nimmt zu Zweifelsfällen Stellung und beleuchtet Zusammenhänge neu. Nicht einsichtig ist, warum er den reformatorischen Flugschriftenautoren nicht eine ähnliche Kohärenz im Umgang mit biblischen Belegen zubilligt wie er sie den altgläubigen Autoren bei ihren Antworten auf die Zölibatskritik zutraut (222). Das wäre besonders zu dem mehrfach vermuteten Einfluß der Karlstadtschriften zu bedenken (z. B. 158, 178 u. ö.). Einzelne Bemerkungen zu Drucken oder zum Druckerwechsel wären zu prüfen, da wir die Geschichte der Erfurter Drucker trotz der Arbeiten von Hases immer noch nicht ausreichend kennen (vgl. z. B. 180 Anm. 246, 185 Anm. 276).

An Einzelheiten sind zu korrigieren: Balthasar Zeiger ist nicht "zum altgläubigen Lager" zurückgekehrt. Er war später kursächsischer Pfarrer in Belgern. Culsamers Charakterisierung als dreiköpfiger Hund durch Arnoldi bezieht sich auf den polemischen Topos vom Höllenhund Ceberus (185 Anm. 278). Die angebliche "Hochschätzung der heilsvermittelnden Funktionen des Priesters" bei Simon Reuter (220, Ausfall von "die" im Zitat) beruht auf einem Mißverständnis der Argumentation. Anerkennung verdient B.s Bemühen, auf die Erstdrucke zurückzugehen und die Nachdrucke zu verzeichnen (allerdings wohl ohne Prüfung möglicher Varianten). Verdienstvoll ist die genaue Quellenübersicht zu den Drucken über die Frage der Priesterehe (302-309).

Mit dem Nachweis, daß das Thema Priesterehe für die frühe Reformation eine starke Signalwirkung hatte und der Darstellung ihres publizistischen Ausmaßes, hat der Autor dem Verständnis der Reformation als Kommunikationsprozeß neue Einsichten vermittelt.