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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1114–1118

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schwarz, Reinhard

Titel/Untertitel:

Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015 (2. Aufl. 2016). XIII, 544 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-154411-8.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Wie lobt man angemessen ein Meisterwerk? Indem man auf seine Lektüre Lust macht. Das ist die Absicht dieser Besprechung, die dafür das Buch in seiner Anlage und mit seinen Schwerpunkten vorstellt. Reinhard Schwarz hat seine jahrzehntelange Beschäftigung mit der Theologie Martin Luthers nun in die Form einer Gesamtdarstellung gegossen. Die Pointe wird dabei so knapp wie präzise durch den – für Luther-Darstellungen ungewohnten – Untertitel zur Sprache gebracht: Luther war Lehrer der christlichen Religion. Daraus lassen sich drei Elemente hervorheben. Erstens ist es Luther um das Christentum als gelebte Wirklichkeit zu tun. Das bringt der Religionsbegriff treffend zum Ausdruck, für den es eben in diesem Sinne deutliche Belege bei Luther selbst gibt (vgl. 3–6). Zweitens ist Luther als Lehrer ebendieser religiösen Le­benswirklichkeit tätig. Darauf, so zeigt S. eindringlich, ist Luthers Theologie eingestellt, die insofern selbst einen lebens- und heilsbezogenen Charakter erhält und keine dogmatische Theorie darstellt. Drittens nimmt Luther diese Funktion wahr als berufener Doktor der Theologie, also als ein solcher Lehrer, der von Amts wegen mit der Auslegung der Heiligen Schrift betraut ist: »Luther war Lehrer der christlichen Religion im Auslegen der Heiligen Schrift.« (19)
Nimmt man diese Aspekte zusammen, dann wird klar, dass es in Luthers Werk um den Zusammenhang der »Grundlage« der christlichen Religion geht, nämlich die Bibel, mit deren Auslegung und Aneignung nach dem »Grundverständnis«, das den Menschen durch das Evangelium von Jesus Christus zum Glauben gerufen und damit untrennbar mit Gott verbunden weiß. Aus diesem Grundgedanken ergibt sich der Aufbau des Buches.
Ihm zufolge steht am Anfang die Besinnung auf die »Heilige Schrift im reformatorischen Grundverständnis der christlichen Religion« (Kapitel 2), welchem die Entfaltung des Zusammenhangs von Jesus Christus, dem Evangelium und dem Glauben folgt (Kapitel 3 »Die christliche Religion in ihren elementaren Relationen«). Daran schließen sich, nur scheinbar traditionell, die Kapitel 4–6 an, die über den Menschen als Geschöpf Gottes, seine Befreiung vom Unheil und die Person Jesu Christi handeln. Denn das Kapitel 7 »Die Lebensmacht des christlichen Glaubens« erweist sich, Kapitel 3 aufnehmend und vollendend, als Zielpunkt der vorangegangenen Darstellungen und als Ausgangspunkt für alles Folgende, nämlich die Begründung und Durchführung der christlichen Ethik (Kapitel 8) ebenso wie den »Auftrag« der christlichen Kirche (Kapitel 9). Das von aller theologischen Spekulation freie Verständnis der Theologie Luthers bei S. zeigt sich unter anderem daran, dass auf eine »Lehre« Luthers von den »letzten Dingen«, also eine Eschatologie, verzichtet wird (vgl. jedoch 268.275–279). Stattdessen steht die Gegenwart des Heils, durchaus im Kontrast zu den religiösen Vorstellungen und kirchlichen Schwerpunktsetzungen zur Zeit Luthers, entschieden im Mittelpunkt. Der von Gott angesprochene Mensch ist in seiner Gegenwart und für alle Zukunft der unbedingt und definitiv von Gott Angesprochene.
Man kann sich die Reichweite dieser Einstellung von Luthers Theologie auf die gelebte christliche Religion gar nicht umfassend genug vorstellen. Mit ihr ist eine fundamental veränderte Wahrnehmung der Funktion von Theologie und Kirche verbunden, die an jedem einzelnen Ort die Durchsicht auf den mit Gott verbindenden Glauben eröffnet. Die leitende Überzeugung besteht darin, dieses Gefälle der christlichen Religion aus ihrer Grundlage, der Bibel, selbst zu erheben. Das lässt sich besonders deutlich am Aufbau des Kapitel 3 (75–105) beobachten. Dabei steht am Anfang die Korrelation zwischen Jesus Christus und dem Glauben. Sie wird dann als Evangelium verstanden, wenn die Beziehung ihren unmittelbaren Charakter gewinnt, also im eigenen Hören auf das Wort und dem Sich-Überlassen an das Gehörte. Hier gewinnt S., wie an manchen anderen Stellen, den traditionell gewordenen Formeln des evangelischen Christentums einen tieferen und genaueren Sinn ab: Die Zuspitzung im Verhältnis von Christus und Glaube durch das doppelte »allein« besagt sachlich die Unmittelbarkeit dieses Verhältnisses, das durch nichts Drittes vermittelt oder ergänzt werden kann (vgl. 79–81; vgl. entsprechend zum Begriff der Gnade 75). Die durch das Evangelium gewonnene Lebenseinheit mit Christus bestimmt alsdann seine Wahrnehmung als »Heilsgabe und Lebensexempel«: »Als Gottes Gabe ist Christus im Evangelium für den Glauben un­mittelbar und unteilbar präsent.« (89) Das meint, dass die Lebensgestalt des Glaubens nicht mehr durch eine Forderung der Entsprechung im Handeln des Glaubens bestimmt, sondern durch die Gleichgestaltung mit Christus vollzogen wird. Daher ergibt sich auch der Übergang vom Glauben zur Nächstenliebe. In der Gemeinschaft mit Christus geht es nicht um die aus dem Glauben erwachsende Gottesliebe, die dann zur Form des Handelns wird (welches daraufhin von Gott anerkannt wird, wie die scholastischen Lehrer meinten – dazu erhellend 325–329), sondern um die mit der Lebensbewegung Christi mitvollzogene Wendung zum anderen Menschen. Wer so in der Lebenseinheit mit Christus bleibt, dem wird auch die Teilhabe an seinem Kreuz nicht erspart bleiben; er muss dafür keine eigenwillige Kreuzesnachfolge suchen.
Die christliche Religion betrifft den ganzen Menschen. Das macht Luthers Auslegung des Gesetzes in Kapitel 4 (107–182) deutlich – auf das sich das Evangelium bezieht. Dabei ergibt sich nach der Darstellung von S. eine überaus einleuchtende gedankliche Abfolge. Am Anfang steht die Anrede des Menschen durch Gott, Gen 2,17 f., in der Form des Gebotes, den Garten Eden zu bestel-len. Das ist das Gebot des Gehorsams, also eines Lebens aus dem Verhältnis der wahrgenommenen Verantwortung vor Gott. In­dem der Zweifel aufkommt und in den Widerspruch zu dieser Verantwortung führt, das heißt: in die Sünde, gibt es keine Möglichkeit mehr, die verratene Beziehung des Vertrauens Gott gegenüber durch Handlungen wieder aufzubauen. Genau dieses Vertrauen aber wird im 1. Gebot gefordert. Solange dieses nicht in seinem po­sitiven Sinn erfüllt ist, kann es mithin keine Erfüllung des Gesetzes geben. Das bedeutet: Die vorgeschriebenen Taten (wie etwa im Dekalog genannt) sind zu tun nötig, können aber nicht als Erfüllung des Gesetzes angesehen werden. Vielmehr ist in ihnen, sofern der Aspekt des göttlichen Gefordertseins stets mitläuft, in der Tat Unmögliches geboten (nicht im Blick auf die »Werke«, wohl aber im Blick auf deren Grundlage, nämlich das Verhältnis zu Gott). Insofern steckt im Dekalog durchaus der Gehalt des Naturrechts, der aber in einen anderen Kontext, nämlich des Gottesverhält-nisses, gerückt wird; darum ist der Dekalog auch über seinen Ursprung in der Geschichte Israels hinaus zu verallgemeinern. Dass Gott am Tun des Gebotenen liegt, zeigt sich in seiner »welt-lichen Regierweise«, die auch die Anerkennung der Christenmen schen verlangt. Doch ist es ihm ebensosehr, nach seiner »geist-lichen« Regierweise, um den Glauben zu tun, der allein alle Gebote erfüllt, weil er den Grundsinn des 1. Gebotes richtig wahrnimmt.
Diese knappe Wie­dergabe des 4. Kapitels, die sich aller bei S. gegebenen umfangreichen Nachweise entschlägt, soll zeigen, mit wie hoher gedanklicher Präzision nicht nur die Rekonstruktion durch S. erfolgt, sondern auch deren Grundlage bei Luther erfasst ist. Das scheinbar traditionelle, oft erörterte, aber oft auch in Aporien endende Ver­ständnis des Gesetzes bei Luther gewinnt so eine aus den Quellen erarbeitete Schlüssigkeit sondergleichen.
Didaktisch besonders gelungen ist im Kapitel 5 die Darstellung der Befreiung des Menschen vom Unheil zum Heil anhand eines Holzschnittes von Lukas Cranach (1529) über »Sünde und Erlösung«. S. kann deutlich machen, inwiefern in der Person Jesu Christi Gottes Gerechtigkeit selbst anwesend ist, die den Übergang von dem negativen Betroffensein durch die Macht der Sünde zur Anerkennung durch Gott vollzieht. Dabei kommt auch Luthers »Mystik«, wie sie im Bild des Tausches zwischen Christus und der Seele ausformuliert wird, zu Wort (210–219). Eindrücklich wird erörtert, wie Luther dieses Wirken des Heils dem spätmittelalterlichen Bußsakrament abgerungen hat (237–250) – und inwiefern die über die Lebensgemeinschaft mit Christus sich vollziehende Rechtfertigung die Unterscheidung von imputativer und effektiver Gerechtigkeit unterläuft (vgl. 257–259).
Aus dem christologischen Kapitel 6 ist in der Kürze dieser Besprechung hinzuweisen auf den Gedanken, dass es gerade die Vernachlässigung der unmittelbaren und vollständigen Wirksamkeit Christi ist, die den Raum für nachträgliche und zusätzliche Vermittlungen wie etwa die Fürbitte der Heiligen eröffnet (271 f.) – ebenso wie auf die Ausführungen zur Zwei-Naturen-Lehre in der Konzentration auf die soteriologische Funktion und im Unterschied zur scholastischen Lehre von der suppositalen Union (288–299). Dass hier, in diesem soteriologischen Zusammenhang, die Trinitätslehre thematisch wird, dürfte in der Tat dem Gefälle von Luthers Auffassung genau entsprechen (vgl. 310–321).
Dass das Kapitel 7 ein Herzstück des Buches ist, wurde schon bemerkt. Man kann ihm den Rhythmus des Ganzen abspüren, wenn der Glaube als »Lebensmacht« durch die Bestimmungen der Gewissheit, der Anfechtung und des Gebets gekennzeichnet wird. Gerade indem er keine Tugend ist, wie die Scholastik annahm (dazu kritisch 323–329), er auch nicht erst durch die Formung der Werke der Liebe wirksam wird (dazu kritisch 325–340), liegt die Heilsbedeutung des Glaubens ebenso auf der Hand wie die Unvermeidlichkeit seiner Anfechtung (eine ausführliche Analyse des Anfechtungsbegriffs 361–380) – worauf das Gebet die einzige Reaktionsmöglichkeit darstellt.
Das Prinzip, nach dem aus dem Glauben die Liebe zum Nächs­ten wird, kam bereits oben zur Sprache: Es ist die Christusgemeinschaft im Glauben. Aus ihr lassen sich dann auch Zuordnungen zum »Gesetz« vornehmen, sofern das Handeln von Christenmenschen eben auch auf das Vollbringen von Taten aus ist und das Befolgen von Zusammenhängen zwischen den Taten erforderlich macht (Kapitel 8).
Dass sich in der Folge dieses Gedankens auch Schwierigkeiten auftun, kann nicht übersehen werden (vgl. 399 f.). Sie kreisen um das Verhältnis von individueller Spontaneität und vorgegebenen Strukturen. Immerhin lässt sich festhalten, dass die primäre Orientierung der christlichen Ethik keine Standesunterschiede kennt, sondern alle als Nächste gleich behandelt (vgl. 404). Das macht eine Sondierung und Ordnung der »Verantwortungsbe-reiche«, wie S. Luthers Begriff des ordo bestimmt, nicht überflüssig. In der Tat gelten in den Kommunikationen des Hauses und der Familie andere Regeln als in der Kirche oder auf dem Felde des Rechts. Dass hier Luther nicht immer das logische Gefälle seiner Grundeinsicht beibehalten hat, notiert S. in aller Deutlichkeit (vgl. 433). Die Dynamik der fundamentalen ethischen Einstellung dokumentiert sich im Überschießen der individuellen Verantwortung für das eigene Handeln über die vorgegebenen Ordnungsstrukturen hinaus – ebenso wie in der Auszeichnung dieses Handelns als spontan und »gern getan«; darin steckt historisches Innovationspotential.
Die Kirche, schließlich (Kapitel 9), folgt aus der Religion – nicht umgekehrt. Denn die Christuswirklichkeit zeigt sich in der Kirche, vermittelt sich aber nicht durch sie als Institution. Darum kann S. mit deutlichen Belegen dafür plädieren, eher von »innerlicher« und »äußerlicher« Kirche als zwei »Gemeinschaftsgestalten« des Chris­tentums – statt von sichtbarer und unsichtbarer Kirche – zu sprechen, analog zur anthropologischen Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen in der Freiheitsschrift (vgl. 445 f.452). In dieser Zuordnung dient das äußerliche Wort dem innerlichen Glauben (464.466) – und damit wird das Verhältnis zwischen Kirche als Institution und Kirche als Gemeinschaft des Glaubens Gegenstand möglicher ökumenischer Diskussion. Die Wirklichkeit der Gemeinschaft der Christenmenschen geht im Sinne des allgemeinen Priestertums der Funktionsdifferenz zum kirchlichen Amt voraus; dieses ist nach dem Vorbild einer Bürgermeisterwahl und nach Merkmalen der berufsspezifischen Geschicklichkeit zu vergeben. Das, was sich in der Kirche in Predigt und Sakrament vollzieht, dient nichts anderem als dem Aufbau und der Stärkung des Glaubens. Die Kirche wird damit zum Ort geistlicher Kommunikation der Christenmenschen im gemeinsamen Bewusstsein der Herkunft ihres Glaubens von Gott.
Das Buch besticht nicht nur durch die Stringenz der thema-tischen Durchführung. Mindestens ebensogroße Bewunderung verdient die Art der Präsentation, in der sich die systematische Ordnung und die Vorstellung konkreter Texte miteinander verbinden; man betrachte allein das Register der zitierten Texte (525–544). Mir ist kein Luther-Buch bekannt, das seinen Inhalt in so konziser Form als Resultat der im Buch selbst mitgeteilten Texte darstellt. Das hat für eilige Leser eine erhebliche Entschleunigung der Lektüre zur Folge, die freilich durch die genaue Wahrnehmung dessen, was Luther wirklich gesagt hat, über die Maßen aufgewogen wird. Dabei bewegt sich S. so souverän wie unprätentiös im Medium unpolemischer Sachlichkeit. Das zeigt sich nicht nur dort, wo er aufgrund tiefer Quellenkenntnis Unterschiede zur scholastischen Tradition sorgfältig namhaft macht; das kommt auch da zum Tragen, wo er es an immanenter Kritik Luthers nicht fehlen lässt – etwa, wo dieser die biblische Exegese mit vernünf-tiger Zwangsläufigkeit verwechselt (vgl. 71), wo er Elemente der scholastischen Theologie verzeichnet (vgl. 353 f.) oder wo er seinen eigenen Intentionen in der Abendmahlslehre untreu wird (vgl. 512). Die Sachlichkeit des Buches trägt auch dazu bei, derzeit be­sonders kritisch, aber auch kurzschlüssig diskutierte Sachverhalte wie die zum Alten Testament sowie Judentum seiner Zeit ins Licht eines historisch und theologisch angemessenen Urteils zu rücken. Es ist beeindruckend, welche Geschlossenheit Luthers Theologie bei aller historischen Differenziertheit aufweist, wenn man sich, wie S. das methodisch bewusst tut, auf die Zeit ab etwa 1520 be­zieht.
Gibt es gar keine kritischen Gesichtspunkte? Eine Geschmacksfrage will ich anmerken und eine systematische Rückfrage anfügen. Bis zum Schluss habe ich mich nicht mit der von S. durchgängig gepflegten Rede vom »Evangelium des Jesus Christus« anfreunden können. Ich verstehe die Absicht, den Doppelsinn des Genitivs zum Ausdruck bringen zu wollen, halte die Lösung aber für unbefriedigend. Was man sich – freilich: das historische Material stärker systematisierend – vorstellen könnte, wäre eine Konzentration der Figur von Gesetz und Evangelium auf die Einheit des Wortes Gottes, das Jesus Christus ausspricht. Eine solche Konsequenz ist bei S. bereits angelegt, sie könnte auch vom Anfang der Freiheitsschrift her weiter begründet werden.
S. hat – fern von allem Aktualismus, der uns droht – das entscheidende, nicht zu überholende Luther-Buch für 2017 geschrieben. Es ist in seiner Bedeutung für das heutige Verständnis Luthers nur dem großen Aufsatz Karl Holls »Was verstand Luther unter Religion?« in seinem sachlichen Gehalt für das Luther-Jubiläum 1917 zu vergleichen. Aber es ist historisch genauer und frei von Holls weltanschaulichen Vorgaben. Wer dieses Buch aufmerksam liest, wird bemerken, wie sehr es das Werk selbst ist, das den Meis­ter lobt.