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Ausgabe: | Oktober/1999 |
Spalte: | 1024–1027 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Wendel, Ulrich |
Titel/Untertitel: | Gemeinde in Kraft. Das Gemeindeverständnis in den Summarien der Apostelgeschichte. |
Verlag: | Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1998. XIII, 303 S. 8 = Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, 20. Kart. DM 98,-. ISBN 3-7887-1669-X. |
Rezensent: | Jürgen Roloff |
Diese von Henning Paulsen und - nach dessen Tod - von Tim Schramm betreute Hamburger Dissertation hat ihren Ort in einem praktisch-theologischen Horizont. Ihr Verfasser, Pastor der Evangelisch-freikirchlichen Gemeinde Lüneburg, will mit ihr in die aktuelle Diskussion um die Theologie des Gemeindeaufbaus eingreifen und dem Defizit abhelfen, das seiner Meinung nach durch die weitgehende Ignorierung lukanischer Texte und die notorische Unterschätzung lukanischer Theologie zugunsten von Paulus entstanden ist. Dessen Ursache sieht er - sicher nicht zu Unrecht - darin, daß die von der neueren neutestamentlichen Forschung weithin korrigierten theologischen Verdikte über Lukas "in der Praktischen Theologie noch voll in Geltung" zu stehen scheinen (3).
Profil und Relevanz des lukanischen Gemeindeverständnisses will der Vf. von den Gemeindesummarien der Apg (1,14; 2,42-47; 4,31c-35; 5,12-16; 5,42) her erschließen. Bei ihnen nämlich handelt es sich - so seine Leitthese - nicht um Texte, die ausschließlich als historische gelesen werden wollen, sondern um Texte, die "auf die Gemeindewirklichkeit der Leser abzielen und vollständig auf dieser Ebene interpretierbar sind" (7).
Teil 1 liefert dafür zunächst die literarische Begründung, indem er den Fragen nach traditionsgeschichtlichem Hintergrund der Summarien und ihrem Gebrauch bei Lk nachgeht. Den Ausgangspunkt bildet eine Definition, derzufolge Summarien Texte sind, die durative Zustände oder iterative Ereignisse beschreiben, welche mit dem aktuellen Erzählverlauf gleichzeitig sind. Sodann zeigt ein Vergleich des LkEv mit dem MkEv, daß Lk summarische Formen in seinen Quellen als eigenständige Größen wahrnimmt, verarbeitet und ihnen in seinem Werk eine zentrale Funktion zuweist, indem er sie einerseits konsequent kürzt, andererseits zu thematisch geordneten größeren Zusammenhängen verbindet. Der Schluß, er sei in der Apg analog verfahren, legt sich von da her nahe. Dies um so mehr, als dieser literarisch gebildete Autor Summarien und summarische Notizen in der antiken Geschichtsschreibung als Vorbilder vor Augen hatte - wobei er "näher bei der atl. und jüdisch-hellenistischen Geschichtsschreibung als bei der griechisch-römischen anzusiedeln ist." (108)
Insbesondere die Gestaltung und Funktion der Summarien in den Büchern des deuteronomistischen Geschichtswerk als jeweils die Gesamtkomposition bestimmendes Grundmuster habe Lk als Vorbild gedient. Von da her versteht der Vf. die Summarien der Apg als ein Netzwerk kunstvoll gestalteter und inhaltlich - vor allem durch das Mittel von Stoffwiederholungen - miteinander verschränkter Kompositionen, dessen einzelne Aussagen sich nicht nur gegenseitig interpretieren, sondern darüber hinaus dem Leser auch den Zugang zum Verständnis der Einzelberichte eröffnen. Daraus leitet er die methodische Folgerung ab, die Auslegung habe gleichsam in konzentrischen Kreisen vom Einzelsummarium über die synoptische Lektüre aller Summarien zu den Einzelberichten und schließlich zum Gesamtwerk fortzuschreiten.
Man könnte die Ausführung dieses Programms in Teil 2 mit einem gewissen Recht als innerlukanische Redaktionsgeschichte bezeichnen. Der redaktionelle Charakter der Summarien spielt für den Vf. nämlich nur insoweit eine Rolle, als es der Abweisung der Annahme von E. Haenchen und H. Conzelmann, es handle sich bei ihnen um freie Schöpfungen des Lk bzw. um von ihm aus kurzen, der Tradition entnommenen Einzelnotizen komponierte Stücke, dienlich ist. Zugleich nämlich betont er, diese Summarien in ihrer vorliegenden Gestalt seien - trotz ihrer Vorprägung durch Tradition - so weitgehend von der schriftstellerischen und theologischen Intention des Lk überformt, daß sie als zentrales Gerüst seiner Darstellung gelten können. Auf die für redaktionsgeschichtliche Methodik grundlegende kritische Unterscheidung von Tradition und Redaktion verzichtet er fast völlig. Die Begründung dafür liefert der emphatische Hinweis, es sei (zumindest im Falle des Lk) verfehlt, Tradition und Intention als Gegensätze zu sehen und voneinander abzuheben: "Texttradition ist ein Bestandteil der lukanischen Theologie" (113). Rezipierte Texte aus der Tradition und von Lk neuformulierte Texte haben also gleichermaßen als Ausdruck des schriftstellerischen Willens der Redaktion zu gelten.
Dieser methodische Ansatz provoziert, wie der Vf. selbst sieht, die Frage, ob von da her "nicht jede redaktionskritische Differenzierung ad absurudum geführt" wird (115). Er beantwortet sie, indem er sich die Aufgabe stellt, Modus und Intensität lukanischer Traditionsrezeption zu ermitteln. Es gehe darum, durch das Nachzeichnen des von Lk kunstvoll arrangierten Wechselverhältnisses zwischen in Summarien betont hervortretenden Aussagen und den Berichten und Erzählungen der übrigen Teile des lk. Doppelwerkes festzustellen, wie Lk selbst diese Aussagen verstanden wissen wollte. Man kann sich dem Eindruck kaum entziehen, als sei das kritische Potential redaktionsgeschichtlicher Betrachtungsweise hier bereits im Ansatz durch das Postulat prästabilisierter Harmonie von Tradition und Redaktion neutralisiert.
Als übergreifendes inhaltliches Merkmal der Summarien wird festgehalten: Sie wollen die Kirche der Anfangszeit weder als ideale Kirche, deren Vollkommenheit später verloren gegangen sei, zeichnen, noch als Kirche in einem situationsbedingten, durch spätere Entwicklungen überholten heilsgeschichtlichen Durchgangsstadium. Vielmehr bieten sie die normative Darstellung dessen, was Gemeinde zu aller Zeit ist bzw. sein kann. Dies nun freilich nicht im Sinn des fordernden Imperativs, sondern der verheißenden Zusage, deren Grundstruktur aus folgender (m. E. verfehlter!) Übersetzung von Lk 12,32 erschlossen wird: "Fürchte dich nicht, du kleine Herde, euer Vater ist entschlossen (Hervorhebung von mir: J. R.), euch das Reich zu geben" (88). Der Vf. prägt dafür den (nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich) schwierigen Begriff der "evenienten Aussage", d. h. einer Aussage von einer Wirklichkeit, die unabhängig von befolgter Paränese entsteht, jedoch denselben Inhalt wie diese Paränese hat (89). Das Eintreffen des Geforderten ist nach solchen Aussagen zwar durch das Tun von Menschen hervorgerufen, nicht jedoch von ihm verursacht. In diesem Sinne verstehen die Summarien die Gemeinde primär als das Ergebnis des machtvollen Handelns Gottes; sie ist "Gemeinde in Kraft". Einheit gibt es darum für sie nur in der betenden Ausrichtung auf Gott (133).
Auch die vieldiskutierte Gütergemeinschaft wird (unter weitgehendem Anschluß an F. W. Horn) so gedeutet, daß sie den Rahmen des für die Kirche allgemein und überall Gültigen nicht sprengt. Daß in Apg 4,31c-35 eine besondere kommunitäre Lebensform vorausgesetzt würde, wird ebenso bestritten wie die Angemessenheit des Begriffs "Gütergemeinschaft": Es gehe Lk lediglich um "ein Konzept der Kapitalabschöpfung zugunsten der Bedürftigen" (160), zu dessen Realisierung es keiner besonderen Voraussetzungen, sondern nur der "Überwindung des eigenen Herzens" bedürfe (161).
Breiten Raum nehmen die sich an Apg 2,42-47 anschließenden Erörterungen zu Gemeindeversammlungen und Mahlgemeinschaft ein. Dabei wird zum einen die Öffentlichkeit der gottesdienstlichen Versammlungen, zum anderen das lk. Interesse an unkultischen, für Außenstehende offenen Mahlzeiten stark hervorgehoben. Ebenso konsequent wie einseitig bemüht sich der Vf. in diesem Zusammenhang um eine Reduktion des lk. Herrenmahlsverständnisses auf ein bloßes Gemeinschaftsmahl, in dem die offenen Mahlzeiten des vorösterlichen Jesus ihre Fortsetzung finden. Nach dem ursprünglichen Kurztext der Stiftungsworte (Lk 22,17-19a) kommt das Mahlverständnis des Lk "ohne Sühnedeutung, Bundesbezug und Erinnerungsanweisung aus" (197). Die Teilnahme auch des Verräters signalisiert die Offenheit für die Teilnahme von Sündern (198). Und zwar ist das Mahl primär als Verkündigungsgeschehen zu verstehen: Daß man in ihm etwas über den Weg Jesu erfährt (199), wolle Lk in seinen verschiedenen Symposionsszenen ebenso wie in Apg 2,46 als zentrales Moment herausstellen. "Was anderweitig im frühen Christentum eine Eucharistie oder eine Agapenfeier ist, wird nach Lukas zum Heilsangebot der Kirche und auf diese Weise der Mission dienstbar gemacht" (281). Mit solchem Hinweis auf die Öffentlichkeit gemeindlicher Lebensvollzüge wird zweifellos ein wichtiges Moment der Summarien getroffen. Er wäre aber wohl überzeugender ausgefallen, wenn Vf. auf tendenziöse Einseitigkeiten in seiner Darstellung verzichtet hätte.
Auch sonst enthält diese Studie viele interessante und anregende Beobachtungen. Fragen bleiben jedoch vor allem hinsichtlich der reduktionistischen Benutzung der redaktionsgeschichtlichen Methode. Wäre es nicht der zugrundeliegenden Intention des Nachweises, "daß sämtliche inhaltlichen Komponenten auf die Adressaten des Doppelwerkes hin interpretierbar sind" (278), angemessener gewesen, wenn der Vf. sich, statt die redaktionsgeschichtliche Methode zugrunde zu legen, sich an neueren textpragmatischen Methoden und Fragestellungen orientiert hätte? Ungut bemerkbar machen sich im übrigen die Neigung, das Defizit an argumentativer Klarheit durch wortreiche Redundanz zu ersetzen, sowie die völlig unangemessene, weit über das Ziel hinausschießende Polemik (z. B. 4; 135 f.; 160; 175 f.).