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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1113–1114

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Noth, Isabelle [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sigmund Freud – Oskar Pfister. Briefwechsel 1909–1939. Hrsg. in Verbindung m. Ch. Morgenthaler.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. 374 S. Kart. EUR 41,80. ISBN 978-3-290-17615-0.

Rezensent:

Kristin Merle

»Lieber Gottesmann«, ein »Brief von Ihnen gehört zum Schönsten, womit man bei der Rückkehr empfangen werden kann«, notiert Sigmund Freud 1909 nach einer USA-Reise in einem Brief an seinen Freund und Kollegen Oskar Pfister. Die gegenseitige Wertschätzung von Freud und Pfister wird 30 Jahre bis zum Tod Freuds hindurchtragen, kaum angefochten durch äußere weltpolitische, die Institutionalisierung der Psychoanalyse betreffende oder private Umstände. Insofern handelt es sich bei dem von Isabelle Noth herausgegebenen Briefwechsel um ein Exempel für eine beeindru-ckende Freundschaft zwischen zwei Männern, die, je auf ihre Weise, gewillt waren, in ihrer Zeit geistesgeschichtliche Weichen zu stellen: Pfisters Arbeiten freilich dürften immer noch einer angemessenen Würdigung harren – vom Umfang einer Monographie widmet allein Noth Pfisters analytischer Seelsorge 1993 Aufmerksamkeit. Umso erfreulicher ist die Herausgabe dieses Briefwechsels, der Pfister noch einmal als profilierten und eigenständigen Akteur in der psychoanalytischen Szene erkennbar werden lässt. Die Edition dürfte als wichtiger Mosaikstein in dem Ansinnen der Herausgeberin gelesen werden, der »›Geschichtsvergessenheit‹ (nicht nur) der Poimenik« (Noth, Freuds bleibende Aktualität, 23) zu wehren und gerade die Pastoralpsychologie – auch in einem prospektiv-konzeptionellen Sinne – an ihre historischen Wurzeln zu erinnern.
Die von Noth herausgegebene Korrespondenz findet eine Vorgängerin in der 1963 von E. L. Freud und Meng publizierten Edition, gegenüber der die aktuelle Veröffentlichung eine erhebliche Verbesserung darstellt. Nicht nur ist sie rein quantitativ um einiges umfangreicher: Sie enthält, im Vergleich zur Freud/Meng-Ausgabe mit 129 Schriftstücken, 86 zusätzliche Briefe – 48 von Pfister und 38 von Freud – sowie 27 Schriftstücke von Pfister, die bisher nur in gekürzter Fassung vorlagen. Ermöglicht wurde diese Ergänzung vor allem durch Archivrecherchen in der Albert Sloman Library der University of Essex. Die Schriftstücke Pfisters bis 1918 scheinen verloren zu bleiben.
Auch inhaltlich lässt die von Noth herausgegebene Korrespondenz neue Einblicke zu, die die Sicht auf Bekanntes ergänzen. Vor allem zwei Aspekte seien hervorgehoben: Zum einen entsteht das Bild einer ernstzunehmenden Kollegialität zwischen Freud und Pfister. Freilich bleibt Freud für Pfister die große Lichtgestalt mit urväterlichen Charakterzügen: »Mich zieht es mächtig zu Ihnen hinüber, ist doch ihr gastfreundliches Heim mein wissenschaftliches Betlehem geworden. […] Sie werden lächeln, aber ich spüre in Ihrer Nähe auch etwas von der Klarheit des Herrn […].« (214) Formulierungen solcher Hochschätzung finden sich nicht selten im Korpus. Gleichwohl ist der fachlich-therapeutische Austausch – wie er insbesondere in dieser neuen Edition an zwei Fallgeschichten anschaulich wird – eines der prägenden Merkmale des Briefwechsels. Zu dieser Kollegialität gehört freilich gegenseitige Kritik, wenn es etwa um die bekannte Auseinandersetzung über das Religionsverständnis geht (vgl. 233 ff.) – Freuds Die Illusion einer Zu­kunft erscheint 1927, Pfisters Replik Die Zukunft einer Illusion 1928 –, die Sexualtheorie (vgl. u. a. 109) oder um Pfisters ›unorthodoxe‹ Praxis der Kurzanalysen (vgl. u. a. 255). Pfister erschließt der Psychoanalyse mit der Seelsorge einen neuen Anwendungsbereich und baut, wie andere Analytiker, auch zur Pädagogik Brücken; in allem zeigt er sich als »›ontophiler‹ Pionier« (Noth), für den Erkenntnis durch die Erfahrung hindurch gewonnen werden muss. So schreibt Pfister in dem seinem Stil eigenen Pathos:
»Seitdem ich zu einzelnen Tagesanalysen (Alltagsanalysen) überging, ist mir manches Siegel, das an Ihren [Freuds; KM] Büchern anhaftete, aufgegangen. Sie sind der Wendepunkt meines Lebens geworden, und ich vermag unmöglich in Worte zu fassen, was für ein Segensstrom Ihr kühnes Forschen in mein pastoral vertrocknetes Dasein leitete.« (181)
Zum Zweiten lässt die neue Edition tiefere Einblicke in die Ge­schichte der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse und das Werden ihrer organisationalen Gestalt zu: Pfister, selbst offenbar Exponent eines Disputs über Methodiken und Qualifikationen der Analytiker, äußert Freud gegenüber seine Sicht zu den Verwerfungen, die schlussendlich zur Ausgründung einer eigenen ärztlichen Gesellschaft führt.
Allgemein bleibt der Briefwechsel für theologisch Interessierte insbesondere spannend, wenn es um die Frage der Weltanschauung geht, die relativ früh in den Schriftstücken anklingt: Pfister wendet sich bereits im Jahr 1918 in einer Skizze zu Psychoanalyse und Weltanschauung gegen eine positivistische Psychologie; Husserls Intentionalität des Bewusstseins und seine Unterscheidung zwischen Noesis und Noema sind – inhaltlich wie zeitgeschichtlich – nicht weit entfernt, wenn Pfister schreibt: »Reine Erfahrung ist eine Fik-tion; was wir Erfahrung nennen, ist ein naives Gemisch von Objek-tivem und Subjektivem, von Sein und Schein.« (106; vgl. auch 186 f.)
Ansichtig werden in historischer Perspektive dann auch noch einmal die zunehmend bedrückenden politischen Umstände – »Unser Horizont ist durch die Vorgänge in Deutschland sehr verdüstert« (291), notiert Freud 1933 –, die Freud bekanntlich 1938 nach London ins Exil gehen lassen. Die psychoanalytisch imprägnierten kulturtheoretischen Interpretationen geraten hier an ihre (Vorstellungs-)Grenzen. Noch im Jahr 1939 schreibt Pfister an Freud mit Blick auf die politischen Entwicklungen:
»Es ist nur schade, dass man die politische Zwangsneurose der Gegenwart […] öffentlich nicht besprechen kann […]. Es wird gehen wie bei den Neurosen so oft: Das Leiden wird den Krankheitsgewinn so sehr übersteigen, dass man eben doch zum Arzt, also zum Analytiker seine Zuflucht nimmt. Aber wann wird dies geschehen? Vorher kommt wohl der ungeheure Krankheitsausbruch, der die Heilung der Überlebenden beschleunigt.« (306)
Vergleichsweise unterhaltsam nimmt man als Leserin die erstaunliche Schaffenskraft beider Männer wahr – »Ihre Arbeitsfähigkeit fängt an wirklich schon mich selbst zu beschämen und ich war doch zu meiner Zeit wirklich nicht faul« (196), vermerkt Freud – sowie den Umstand, dass die Psychoanalyse mitunter als allge-meine (in manchen Kreisen populäre) Gesundungsmaßnahme er­scheint (vgl. dazu auch 137 f.).
Ingesamt handelt es sich also bei der Lektüre des neu herausgegebenen Briefwechsels zwischen Freud und Pfister um ein gleichermaßen informatives wie erfrischendes Unterfangen. Noths Edition bietet sorgfältig notierte Apparate, einen tabellarischen Vergleich der Quellenlage zwischen der neuen Ausgabe und der Ausgabe von Freud/Meng, Bibliographien zu Freud und Pfister, einen die Geschichte der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse betreffenden Dokumentenanhang; zudem führt die Herausgeberin in gelungener Weise in Pfisters Arbeiten ein, um ein leichteres Verständnis der Briefinhalte vorzubereiten.