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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1111–1112

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

McGinnis, Andrew M.

Titel/Untertitel:

The Son of God Beyond the Flesh. A Historical and Theological Study of the extra Calvinisticum.

Verlag:

London u. a.: T & T Clark (Bloomsbury) 2014. 228 S. = T & T Clark Studies in Systematic Theology, 29. Geb. US$ 112,00. ISBN 978-0-567-65579-0.

Rezensent:

Johannes Hund

Diese Studie verdankt ihre Entstehung dem Lehrstuhl für systematische und philosophische Theologie des Calvin Theological Seminary in Grand Rapids in Michigan, USA, den zurzeit Ronald Feenstra innehat. Den reformierten Hintergrund dieser Hochschule führt auch die Dissertation deutlich vor Augen, die Andrew M. McGinnis mit dieser Publikation in Buchform vorlegt. Seine Studie setzt sich zum Ziel, die antike und mittelalterliche Traditionsgeschichte des im Verlauf der Reformationsgeschichte so prominenten sogenannten »Extra-Calvinisticum« zu untersuchen, das auch während der sich daran anschließenden polemischen Auseinandersetzungen zwischen reformierten und lutherischen Theologen eine wichtige Rolle spielte. Der Vf. nimmt damit Friedrich Loofs’ Einsicht auf, dass Calvin nicht der Erfinder des in späteren Zeiten nach ihm benannten »Extra-Calvinisticum« war, sondern dass diese chris­tologische Figur bereits vor ihm über eine lange Traditionsgeschichte verfügte, der sich bereits Heiko Augustinus Oberman in ersten Studien gewidmet hat. Über die vormoderne Traditionsgeschichte des »Extra-Calvinisticum« hinausgehend, möchte der Vf. die Rezeption des extra im Verlauf der Reformationszeit, das Verschwinden des extra aus der theologischen Diskussion, das er auf das Ende des 19. Jh.s datiert, und die Impulse darstellen, die nach seiner Wiederbelebung durch Karl Barth und Helmut Thielicke von dieser Figur für die aktuelle systematisch-theologische Debatte ausgehen. Zum Ziel seiner Untersuchungen schreibt der Vf.:
»It pursues an in-depth analysis of patristic, medieval, and Reformation articulations of the extra and also examines the prospects of recovering the doctrine for contemporary Christology. As such, this work is a first step toward filling a gap in the scholarship on the extra Calvinisticum.« (5)
Der Vf. geht bei der Auswahl der untersuchten Autoren zwangsläufig selektiv vor und begründet die Wahl von Cyrill von Alexandrien, Thomas von Aquin und Zacharias Ursinus mit ihrer umfassenden Rezeptionsgeschichte. Der Vf. ist sich der anachronistischen Problematik bewusst, dass er mit seiner Untersuchung versucht, eine theologische Figur, die erst in der lutherischen Polemik des 17. Jh.s ihren Namen als calvinistisches Extra bekommen hat, in früheren Zeiten zu untersuchen. Er möchte daher die christologische Figur des extra nur als heuristisches Mittel benutzen und die Autoren und ihre Anliegen dabei möglichst aus sich selbst und aus ihrer Zeit heraus verstehen. In der vormodernen Traditionsgeschichte verzichtet der Vf. darum auch auf den anachronistischen Terminus »Extra-Calvinisticum« und verwendet den Autoren angemessenere Bezeichnungen wie extra carnem oder extra humanum.
Der Vf. kann zeigen, dass Cyrill die Rede vom extra zur Abwehr aller zeitgenössischen Vorstellungen von einer ontologischen Veränderung des Sohnes Gottes durch seine Menschwerdung verwandt hat. Die göttliche Natur Christi, so Cyrill, verlor durch ihre Inkarnation nicht ihr Wesen, sondern blieb auch jenseits ihrer inkarnierten Gestalt, also extra carnem, in ihrer Gottheit unverändert. Darüber hinaus führt der Vf. aus, dass die Rede vom extra bei Cyrill auch dazu verwandt wurde, um die Gottheit Christi vom menschlichen Leiden oder menschlicher Entwicklung freizuhalten. Menschliche Eigenschaften kommen der göttlichen Natur nicht in Wahrheit zu, sondern nur der Person, in der auch die menschliche Natur subsistiert.
Bei Thomas von Aquin hat, so der Vf., die Rede vom extra ihren Ort in der theologischen Verantwortung der Inkarnation und der Höllenfahrt Christi. Trennt sich die Seele vom Leib, so ist Christus seiner Person nach als Ganzer, totus, allgegenwärtig und kann in die Hölle fahren, während er doch seiner menschlichen Natur nach im Grab liegt, Christus also nicht in allen seinen Teilen, totum, gegenwärtig wird. Der Vf. zeigt, dass es Thomas um die Wahrung der Menschheit Christi gegen alle doketischen Versuche ging, sie mit göttlichen Attributen auszustatten.
An eine knappe Darstellung der abendmahlstheologischen Differenzen im Verlauf der Reformationszeit und eine kurze Erläuterung der Ausbildung lutherischer Christologien bei Johannes Brenz und Martin Chemnitz schließt der Vf. die Untersuchung des extra bei Zacharias Ursinus an. Sie ist recht traditionell und verdankt sich der polemischen Abgrenzung des Ursinus von Teilen des Luthertums, die von einer realen Mitteilung göttlicher Eigenschaften an die menschliche Natur Christi sprachen, die seine leibliche Gegenwart im Abendmahl ermöglichen sollte. Demgegenüber hielt Ursinus ähnlich wie auch schon Calvin fest, dass Christi wahre Menschheit auch nach seiner Himmelfahrt gewahrt werden müsse. Christus sei seiner Person nach in den Abendmahlsfeiern gegenwärtig, nicht aber in allen seinen Teilen, totus, sed non totum. Seine Menschheit erfordere unbedingt die umschriebene Anwesenheit an nur einem Ort. Ginge man von der Allgegenwart Christi auch seiner Menschheit nach aus, so verlöre er in Wirklichkeit seine wahre Menschheit.
Der Vf. kann zeigen, dass die Behandlung des extra im Verlauf der Christentumsgeschichte abnahm, je mehr sich die beiden evangelischen Konfessionen aufeinander zubewegten, bis sie dann Ende des 19. Jh.s ganz aus der Theologie verschwand. Karl Barth, vor allem aber Helmut Thielicke belebten das extra aufs Neue, jetzt freilich unter anderem Vorzeichen. War es in der Tradition auf die Christologie beschränkt, so wird es bei Thielicke zum Prinzip erhoben. Gegen die Gott-ist-tot-Theologie seiner Tage hielt er fest, dass Christus zwar ganz in die Welt eingegangen sei, ohne dabei jedoch aufzuhören, der ganz Andere, der Weltenthobene zu bleiben. In einem Ausblick hält der Vf. fest, dass das extra auch in gegenwärtigen Diskussionen mit kenotischen, aber auch theopaschitischen Formen der Christologie gute Dienste leisten könne.
Die Lektüre des Bandes hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Die Stärke des Bandes ist zugleich auch seine Schwäche. Der Versuch, die gesamte Christentumsgeschichte auf ihren Gebrauch des extra zu untersuchen, führt zwangsläufig dazu, dass die Literatur nur in beschränktem Maße rezipiert werden kann. So wird die lutherische Position, von der sich Calvin und die Reformierten mit ihrem extra abgrenzten, ohne die einschlägige Literatur von Mahlmann, Dingel, Hund oder Kolb recht undifferenziert dargestellt. Die traditionsgeschichtliche Abhängigkeit des Ursinus von Philipp Melanchthon und dessen christologischem Konzept der suppositalen Union wird nicht erwähnt. Die Geschichte der theologischen Aufklärung in Europa wird dargestellt anhand der »History of Theology« Bengt Hägglunds aus dem Jahre 1968, die drei genera der communicatio idiomatum, immerhin einer der wichtigsten Punkte, an dem sich die konfessionelle Unterscheidung der beiden evangelischen Konfessionen festmachte, wird in ungewöhnlicher Reihenfolge dargestellt anhand eines Begriffslexikons und der Dogmatik von Franz Pieper aus dem Jahre 1951. Was am Ende übrig bleibt, ist eine Untersuchung über die Traditionsgeschichte des extra, die teilweise an den Texten selber arbeitet, freilich überwiegend in ihrer englischen Übersetzung. Ob man der vom Vf. herausgestellten Interpretation des extra als Wächter der Christologie, der sie vor allen Verfälschungen bewahrt, folgen möchte, bleibt zumindest so lange in der Schwebe, wie die lutherische Gegenposition nicht wirklich gründlich gewürdigt wird.