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Ausgabe:

Oktober/2016

Spalte:

1100–1101

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Smith, Lesley

Titel/Untertitel:

The Ten Commandments. Interpreting the Bible in the Medieval World.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2014. XVI, 233 S. = Studies in the History of Christian Traditions, 175. Geb. EUR 122,00. ISBN 978-90-04-27392-4.

Rezensent:

Markus Witte

Der Dekalog kann als Herz der Tora und als wesentliches Verbindungselement zwischen Altem und Neuem Testament, aber auch als ein Ausgangspunkt für Zeit- und Kulturräume überschreitende Reflexionen über das Wesen Gottes, über Recht und Gerechtigkeit sowie über das Denken und Handeln des Menschen verstanden werden. Insofern kommt der Auslegung des Dekalogs sowohl für das Gesamtverständnis der Bibel und für die Bestimmung des Verhältnisses von Judentum und Christentum als auch für die Fragen nach einem Naturrecht und der Grundlegung einer Ethik eine besondere Bedeutung zu.
Die am Harris Manchester College der Universität Oxford tätige Autorin Lesley Smith, eine durch zahlreiche Veröffentlichungen ausgewiesene Spezialistin für mittelalterliche Ideen- und Kulturgeschichte, zeichnet nun auf rund 200 Seiten die Geschichte der Verwendung und der Auslegung des Dekalogs in Mitteleuropa zwischen 1150 und 1350 nach. Dafür hat sie umfassend lateinische Kommentare zu den Büchern Exodus und Deuteronomium, Sentenzenkommentare und Katechesen, Mysterienspiele und christliche Predigten ausgewertet.
Zu Beginn ihrer Studie stellt S. kurz die wichtigsten von ihr behandelten Quellen und Autoren vor (die Biblia latina cum glossa ordinaria des Anselm von Laon, Hugo von St. Viktor, Petrus Lombardus, Petrus Comestor, Petrus Cantor, Petrus von Poitiers, Stephen Langton, Wilhelm von Auxerre, Wilhelm von Auvergne, Thomas von Chobham, Alexander von Hales, Johannes von La Rochelle, Robert Grosseteste, Hugo von St. Cher, Simon Hinton, Bonaventura, Nikolaus von Lyra, Johannes Miraeus/Mircus und Dederich von Münster/Dietrich Coelde). Sodann führt sie knapp in die grundsätzlichen Methoden und Ziele der mittelalterlichen Bibelauslegung ein. Als einen wesentlichen hermeneutischen Schlüssel arbeitet sie heraus, dass Widersprüche, sei es zwischen Bibelstellen, sei es zwischen einzelnen Kirchenvätern (Hiero-nymus, Ambrosius, Augustin, Gregor, daneben auch Beda und Isidor) nicht als Widersprüche, sondern als Beispiele für die Viel-falt der Auslegung verstanden worden seien. So resultiere die Harmonie der Schrift und der Auslegung geradezu aus den Disso-nanzen.
Der Durchgang durch das Verständnis des alttestamentlichen Gesetzes (lex) hinsichtlich seiner zeremoniellen, juridischen und moralischen Bedeutung und der einzelnen Gebote des Dekalogs zeigt, dass bei aller grundsätzlichen methodischen Konformität und der gemeinsamen Frage nach der Gegenwartsbedeutung eine große Pluralität bezüglich der Formen und Funktionen der Auslegung besteht. Dabei kommen sowohl die Individualität der Ausleger als auch die von ihnen gewählten Textgattungen und die jeweiligen Verwendungskontexte zum Tragen. Gerade der Vergleich der Interpretation der Zehn Gebote bei den oben genannten Autoren führt die besondere Vielfalt mittelalterlicher Bibelauslegung jenseits einer auf Thomas von Aquin fixierten, vermeintlichen Normierung der Interpretation vor Augen. Die Geschichte der Zehn Gebote im 12./13. Jh. erweist sich nach S., die immer wieder auf die Berührungen zwischen christlicher und jüdischer Auslegung zu sprechen kommt, als eine Geschichte der besonderen Verbreitung des Dekalogs und der Vielfalt seiner Interpretationen. Während die Beschäftigung mit dem Dekalog zu Beginn des 12. Jh.s auf die klös­terliche Meditation des Buches Exodus beschränkt gewesen sei, so sei der Dekalog im Laufe des 12. Jh.s zu einem zentralen Gegenstand der gelehrten theologischen und rechtsphilosophischen Diskussion an den Kathedralschulen geworden, um dann im 13. Jh. daneben auch noch zu einer Säule der Katechese und der Laienunterweisung, mitunter in Gestalt von einfachen Merksprüchen, zu werden. Ein wesentlicher Faktor dieser Entwicklung seien die Be­schlüsse des Vierten Laterankonzils (1215) zur Bildung des Klerus und der Laien.
Dem lesenswerten Band sind der Dekalog in der Fassung von Ex 20 und Dtn 5 in Gestalt der Vulgata (nach der auf der Clementina beruhenden Madrider Ausgabe von 1977) und eine von S. bearbei-tete englische Übersetzung der Douay-Rheims-Übersetzung (von 1609 bzw. von 1582) vorangestellt. Eine Bibliographie sowie ein Sach- und Namenregister sowie ein Verzeichnis zitierter Bibelstellen beschließen die auslegungsgeschichtliche Studie, die als gebundenes Buch und als e-book erhältlich ist. Dabei wurde dem Rezensenten seitens des Brill-Verlags lediglich ein unansehnliches paperback-Exemplar ohne Umschlag, den bei der gebundenen Ausgabe eine Abbildung des Dekalogfensters in der St. Laurenz-Kirche (Ludlow, um 1445) ziert, und ein zeitlich befristeter Zugang auf Brill’s e-book-platform zur Verfügung gestellt.